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Full text of "Wie der weltkrieg entstand; dargestellt nach dem aktenmaterial des deutschen Auswärtigen amts"

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WIE  DER  WELTKRIEG 
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Abtlg. 


Wie  der  Weltkrieg  entstand 


Wie  der  Weltkrieg  entstand 

Dargestelll  nach  dem 

Akten material  des  Deutschen  Auswärtigein  Amts 

von 

Karl  Kautsk}/ 


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Verlegt     bei     PaulCassirer,     Berlin     1919 


\^orwort 

Nach  der  Revolution  vom  9,  November  1918  ersuchten  mich  die 
Voiksbeaultragten,  als  beigeordneter  Staatssekretär  in  das  Aus- 
wärtige Amt  einzutreten.  Eine  der  ersten  Aulgaben,  die  ich  mir 
stellte,  ging  dahin,  rrsicli  zu  vergewissern,  ob  in  seinem  Archiv 
belastendes  Material  beiseite  geschalft  worden  sei,  wie  damals 
vielfach  befürchtet  wurde.  Ich  konnte  nichts  bemerken,  was  die^ 
S2X1  Verdacht  bestätigt  hätte.  Schon  die  ersten  Stichproben  zeigten 
mir  vielmehr,  daß  wichtiges  Material  da  war.  Ich  schlug  den 
Volksbeauftragten  vor,  die  Akten  zunäehst  über  den  Kriegsaus- 
bruch herauszugeben.  Das  seien  v/ir  dem  deutschen  Volke  schul- 
dig, das  Anspruch  darauf  habe,  die  Wahrheit  über  seine  bisherigen 
StaatslenJcer  zu  erfahren.  Das  sei  auch  notv/endig,  weil  es  dem 
mißtrauischen  Auslände  gegenüber  am  deutlichsten  den  völligen 
Bruch  des  ncoien  Regimes  mit  dem  alten  zum  Ausdruck  bringe. 

Die  Volksbeauftragten  stimmten  mir  zu  und  betrauten  mich  mit 
der  Sammlung  und  Herausgabe  der  Akten.  Meine  bisherige  Hai- 
t^mg  werde  dafür  bürgen,  daß  ich  kein  unbequemes  Material  unter- 
schlage. Ge'wüßscht  wurde  nur,  daß  ich  nicht  die  einzelnen  Akten 
sofort,  nachdem  ich  sie  gefunden,  vor  die  ölientUchköit  bringe,  wie 
es  Eisner  getan,  sondern  daß  sie  erst  herauskommen  sollten,  wenn 
sie  vollzählig  gesammelt  vorlägen.  Das  war  politisch  nicht  ganz 
erwünscht,  weil  es  die  Veröffentlichung  und  ihre  günstigen  Wir- 
kungen für  das  neue  Regime  im  In-  und  Auslande  hinausschob. 
Aber  eo  schnitt  die  Einrede  der  Verfechter  des  alten  Regimes  ab, 
als  habe  man  es  bloß  mit  tendenziös  ausgclesenen  und  aus  dem 
Zusammenhang  gerissenen  Dokumenten  zu  tun,  die  keine  Beweis- 
kraft hätten. 

Dem  Ge^Aricht  dieser  Auffassung  verschloQ  ich  mich  nicht  und 
danach  verfujir  ich- 

Als  im  Dezember  meine  Parteigenossen  Barth,  Dittmann  und 
Haase  aus  der  Regierung  austraten,  verzichtete  auch  ich  auf  meir,e 
Stellung  als  beigeordneter  Staatssekretär,  erl^lärte  mich  jedoch 
bereit,  die  SanxmluE^  und  Herausgabe  der  ICriet^sakt«»  jsiuoh  wei* 


Montj^eias  wendeten  sich  Eiwle  September  an  mich,  mit  der  Ver- 
ticherung,  daß  das.  was  sie  herauszugeben  ge<iächten,  ausschließ- 
lich meine  Sammlung  sei,  an  der  ohne  meine  Zustimmung  keine 
Zeile  geändert  werden  eolle.  Auch  wollte  man  mir  jede  Möglich- 
keit der  Überwachung  des  Drucks  geben.  Sie  baten  mich,  die 
Au8ga&e  gutzuheißen. 

Die  beiden  Herren  hatten  danach  im  Wesentlichen  nur  die  Auf- 
gabe, meine  Arbeit  einer  Kontrolle  zu  unterziethea,  die  ich  nicht 
zu  scheuen  brauchte,  und  jene  Kleinarbeit  zu  verrichten,  die  mit 
der  Drucklegung  eines  Werkes  dieser  Art  notwendigerweise  ver- 
bunden ist  und  die  ich  ihnen  gerne  überließ. 

Da  mir  nichts  an  meiner  Persönlichkeit,  um  so  mehr  an  der 
Sache  liegt,  sah  ich  also  keine  Veranlassung,  mich  in  den  Schmoll- 
winkel zu  stellen,  und  ich  erklärte  mich  bereit,  mitzuwirken  unter 
der  Bedingung,  daß  die  Drucklegung  sofort  in  Angriff  genommen 
werde. 

Auch  das  wurde  mir  zugesagt  und  so  erscheint  jetzt  endlich  die 
schon  fast  sagenhaft  gewordene  Sammlung  der  Dokumente  des 
Auswärtigen  Amtes  über  den  Kriegsausbruch. 

Während  der  Arbeit  hatte  ich  mich  natürlich  nicht  damit  be- 
gnügt, ein  Dokument  an  das  andere  zu  reihen.  Es  drängte  mich, 
alle  die  Aufschlüsse,  die  mir  die  große  Masse  von  fast  900  Akten- 
stücken bot,  in  einen  inneren  Zusammenhang  zu  bringen  und  ihren 
Zusammenhang  mit  dem  übrigen,  bisher  schon  bekannten  Material 
über  den  Kriegsausbruch  herzustellen.  Ich  tat  es  nicht  als  An- 
kläger, sondern  als  Geschichtsschreiber,  der  erforschen  will,  wii 
die  Dinge  gekommen  siad* 

Diese  Arbeit  uniernahm  ich  zunächst  bloß  zu  meiner  Selbstver- 
ständigung. Ein  Historiker  karm  nicht  Quellen  sammeln,  ohne  sie 
auch  innerlich  zu  verarbeiten.  Doch  je  mehr  die  Arbeit  voran- 
schritt, um  so  reger  wurde  in  mir  der  Wunsch,  sie  nicht  bloß  für 
mich  zu  machen,  sondern  auch  für  das  große  Publikum,  das  weni- 
ger Zeit  und  meist  auch  Gelegenheit  haben  dürfte,  als  ich,  die 
ungeheure  Menge  des  Materials  sorgsam  durchzuarbeiten. 

So  entwickelte  sich  allm.ählich  das  vorliegende  Buch.  In  wesent- 
lichen Teilen  ist  es  schon  seit  Monaten  fertig,  doch  habe  ich  seine 
Herausgabe  immer  wieder  hinausgeschoben,  was  auch  stete  Zu- 
fügungcn  und  Umarbeitungen  durch  das  Auftauchen  neuen  Mate- 
rials erforderlich  machte,  so  namentlich  durch  dajs  deutsche  Weiß- 
buch vom  Jiuni  und  die  Publikationen  des  Herrn  Dr.  GooQ. 

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Es  kostete  mich  viel  Selbstverleugnung,  mit  meiner  Schrift  nicht 
herausziukommen  angesichts  der  Flut  von  Enthüllungen  über  den 
Krieg,  die  in  den  letzten  Monaten  hereinbrach.  Da  zu  schweigen, 
wo  ich  so  viel  zu  sagen  gehabt  hätte,  war  nicht  leicht. 

Ich  hätte  mich  wohl  berechtigt  gefühlt,  angesichts  des  steten 
Zauderns  der  Regierung,  mein  Buch  erscheinen  zu  lassen,  noch 
ehe  sie  sich  zur  Publikation  der  längst  gesammelten  Akten  ent- 
schloß. 

Ich  hatte  in  dem  Archiv  des  Auswärtigen  Amies  nicht  gearbeitet 
als  sein  Beamter,  sondern  als  freier  Historiker,  seitdem  ich  auf- 
gehört hatte,  als  beigeordneter  Staatssekretär  zu  fungieren.  Be- 
wei'j  dafür  die  Tatsache,  daß  ich  seitdem  kein  Gehalt  und  auch 
keine  sonstige  Entschädigung  von  der  Regierung  bezogen  habe. 

Ein  Historiker,  der  ein  Archiv  benutzt,  ist  keinem  Vorgesetzten 
Rechenschaft  darüber  schuldig,  welchen  Gebrauch  er  von  den 
Früchten  seiner  Arbeit  macht. 

Wenn  ich  trotzdem  schwieg,  geschah  es  nicht  aus  einer  juristi- 
schen, sondern  einer  politischen  Erwägung.  Der  ganze  politische 
Vorteil,  den  die  Herausgabe  der  Akten  für  die  Beurteilung  des 
deutschen  Volkes  durch  seine  bisherigen  Gegner  haben  konnte, 
war  nur  zu  erwarten,  wenn  die  Verölfcatlicliung  durch  die  Re- 
gierung, nicht  gegen  sie  erfolgte.  V/ohl  wäre  sie  auch  in  letz- 
terem Fall«3  geboten  gewesen,  schon  aus  Gründen  der  inneren 
Politik.  Aber  solange  die  Möglichkeit  bestand,  daß  die  Regierung 
selbst  die  Akten  erscheinen  ließ,  wollte  ich  ilir  nicht  mit  der 
Publizierung  meiner  Verarbeitung  des  Materials  zuvorkommen. 

Nun  erscheinen  sie  tatsächlich  und  damit  ist  für  mich  jeder 
Grund  entfallen,  weiter  zu  warten. 

Kein  Zweifel,  meine  Auffassungen  werden  viel  umstritten  wer- 
den —  es  gibt  keine  Auffassung  dieses  Krieges,  die  allseitige  Zu- 
stimmung gefunden  hätte.  Und  keine  Sprache  ist  xweideutiger  und 
mehr  auf  das  Lesen  zwischen  den  Zeilen  berechnet,  keine  mannig- 
facherer Deutungen  fähig  als  die  der  Diplomaten,  mit  denen  wir  es 
hier  fast  ausschließlich  zu  tun  haben.  Nur  der  Kaiser  befleißigt 
sich  keiner  diplomatischen  Äus-druckswcise,  Sie  läßt  an  Deutlich- 
keit nichts  zu  wünschen  übrig.  Und  seine  Randglossen  gewähren 
das  seltene  Vergnügen,  daß  das  Volk  einmal  einen  Kaiser  in  Unter- 
hosen zu  sehen  bekommt. 

Poch  trotz  aller  diplomatischen  Verschlagenheit  haben  die  öster- 
reichischen Dokumente  eine  nahezu  eißroütige  Auffaissung  von  der 

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Moatgeias  wendeten  sich  Erjde  September  an  mich,  mit  der  Ver- 
tichenmg,  daß  das.  was  sie  herauszugeben  gedächten,  ausschließ- 
lich meine  Sammlung  sei,  au  der  ohne  meine  Zustimmung  keine 
Zeile  geändert  werden  solle.  Auch  wollte  man  mir  jede  Möglich- 
keit der  Überwachung  des  Drucks  geben.  Sie  baten  mich,  die 
Ausgabe  gutzuheißen. 

Die  beiden  Herren  hatten  danach  im  Wesentlichen  nur  die  Auf- 
gabe, meine  Arbeit  einer  Kontrolle  zu  unterziehen,  die  Ich  nicht 
zu  scheuen  brauchte,  und  jene  Kleinarbeit  zu  verrichten,  die  mit 
der  Drucklegung  eines  Werkes  dieser  Art  notwendigerweise  ver- 
bunden ist  und  die  ich  ihnen  gerne  überließ. 

Da  mir  nichts  an  meiner  Persönlichkeit,  um  so  mehr  an  der 
Sache  liegt,  sah  ich  also  keine  Veranlassung,  mich  in  den  Schmoll- 
winkel zu  stellen,  und  ich  erklärte  mich  bereit,  mitzuwirken  unter 
der  Bedingung,  daß  die  Drucklegung  sofort  in  Angriff  genommen 
werde. 

Auch  das  wurde  mir  zugesagt  und  so  erscheint  jetzt  endlich  die 
schon  fast  sagenhaft  gewordene  Sammlung  der  Dokumente  des 
Auswärtigen  Amtes  über  den  Kriegsausbruch. 

Während  der  Arbeit  hatte  ich  mich  natürlich  nicht  damit  be- 
gnügt, ein  Dokximent  an  das  andere  zu  reihen.  Es  drängte  mich, 
alle  die  Aufschlüsse,  die  mir  die  große  Mas«e  von  fast  900  Akten- 
stücken bot,  in  einen  inneren  Zusammenhang  zu  bringen  und  ihren 
Zusammenhang  mit  dem  übrigen,  bisher  schon  bekannten  Material 
über  den  Kriegsausbruch  herzustellen.  Ich  tat  es  nicht  als  An- 
kläger, sondern  als  Geschichtsschreiber,  der  erforschen  will,  wi« 
die  Dinge  gekommen  sind. 

Diese  Arbeit  unternahm  ich  zunächst  bloß  zu  meiner  Selbstver- 
ständigung. Ein  Historiker  kann  nicht  Quellen  sammeln,  ohne  sie 
auch  innerlich  zu  verarbeiten.  Doch  je  mehr  die  Arbeit  voran- 
schritt, um  so  reger  wurde  in  mir  der  Wunsch,  sie  nicht  bloß  fflr 
mich  zu  machen,  sondern  auch  für  das  große  Publikum,  das  weni- 
ger Zeit  und  meist  auch  Gelegenheit  haben  dürfte,  als  ich,  die 
ungeheure  Menge  des  Materials  sorgsam  durchzuarbeiten. 

So  entwickelte  sich  allmählich  das  vorliegende  Buch,  In  wesent- 
lichen Teilen  ist  es  schon  seit  Monaten  fertig,  doch  habe  ich  «eine 
Herausgabe  immer  wieder  hinausgeschoben,  was  auch  stete  Zu- 
fügungen  und  Umarbeitungen  durch  das  Auftauchen  neuen  Mate- 
rials erforderlich  machte,  so  namentlich  durch  das  deutsche  Weiß- 
buch vom  J'oni  und  die  Publikationen  des  H«rrD  Dr.  GooQ. 

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Es  kostete  mich  viel  Selbstverleugnung,  mit  meiner  Schrift  nicht 
herau«Z!ukomfflen  angesichts  der  Flut  von  Enthüllungen  über  den 
Krieg,  die  in  den  letzten  Monaten  hereinbrach.  Da  zu  schweigen, 
wo  ich  so  viel  zu  sagen  gehabt  hätte,  war  nicht  leicht. 

Ich  hätte  mich  wohl  berechtigt  gefühlt,  angesichts  des  steten 
Zauderns  der  Regierung,  mein  Buch  erscheinen  zu  lassen,  noch 
ehe  sie  sich  zur  Publikation  der  längst  gesammelten  Akten  ent- 
schloß. 

Ich  hatte  in  dem  Archiv  des  Auswärtigen  Amtes  nicht  gearbeitet 
als  sein  Beamter,  sondern  als  freier  Historiker,  seitdem  ich  auf- 
gehört hatte,  als  beigeordneter  Staatssekretär  zu  fungieren.  Be- 
wei-j  dafür  die  Tatsache,  daß  ich  seitdem  kein  Gehalt  und  auch 
keine  sonstige  Entschädigung  von  der  Regierung  bezogen  habe. 

Ein  Historiker,  der  ein  Archiv  benutzt,  ist  keinem  Vorgesetzten 
Rechenschaft  darüber  schuldig,  welchen  Gebrauch  er  von  den 
Früchten  seiner  Arbeit  macht. 

Wenn  ich  trotzdem  schwieg,  geschah  es  nicht  aus  einer  juristi- 
schen, sondern  einer  politischen  Erwägung,  Der  ganze  politische 
Vorteil,  den  die  Herausgabe  der  Akten  für  die  Beurteilung  des 
deutschen  Volkes  durch  seine  bisherigen  Gegner  haben  konnte, 
v/ar  nur  zu  erwarten,  wenn  die  Veröffentlicliung  durch  die  Re- 
gierung, nicht  gegen  sie  erfolgte.  Wohl  wäre  sie  auch  in  letz- 
terem Falk  geboten  gewesen,  schon  aus  Gründen  der  inneren 
Politik.  Aber  solange  die  Möglichkeit  bestand,  daß  die  Regierung 
selbst  die  Akten  erscheinen  ließ,  wollte  ich  ilir  nicht  mit  der 
Publizierung  meiner  Verarbeitung  des  Materials  zuvorkommen. 

Nun  erscheinen  sie  tatsächlich  und  damit  ist  für  mich  jeder 
Grund  entfallen,  weiter  zu  warten. 

Kein  Zweifel,  meine  Auffassungen  werden  viel  umstritten  wer- 
den —  CS  gibt  keine  Auffassung  dieses  Krieges,  die  allscitiige  Zu- 
stimmung gefunden  hatte.  Und  keine  Sprache  ist  zweideutiger  und 
mehr  auf  das  Lesen  zwischen  den  Zeilen  berechnet,  keine  mannig- 
facherer Deutungen  fähig  als  die  der  Diplomaten,  mit  denen  wir  es 
hif-r  fast  ausschließlich  zu  tun  haben.  Nur  der  Kaiser  befleißigt 
sich  keiner  diplomatischen  Au»druckswcise.  Sie  läßt  an  Deutlich- 
keit nichts  zu  wünschen  übrig.  Und  seine  Randglossen  gewähren 
das  seltene  Vergnügen,  daß  das  Volk  einmal  einen  Kaiser  in  Unter- 
hosen zu  sehen  bekommt. 

Doch  trotz  aller  diplomatischen  Versclilagenheit  haben  die  öster- 
reichischen Dokumente  eine  nahezu  einmütige  Auffaissung  von  der 


Schuld  der  österreichischen  Staatskunst  gezeitigt.  Wer  dazu  ge- 
langt ist,  diese  richtig  einzuschätzen,  für  den  kann  nach  der 
Sprache  der  deutschen  Dokumente  auch  die  Entscheidung  über  die 
deutsche  Staatskunst  nicht  schwer  fallen. 

Die  Verführung  lag  nahe,  angesichts  der  heutigen  Klarheit  zu 
r.eigen,  wie  sehr  das  deutsche  Volk  von  jenen  irregeführt  worden 
ist,  die  namentlich  aus  den  Reihen  der  Rechtssozialisten,  meine 
und  meiner  Freunde  Haltung  v/ährend  des  Krieges  auf  das  heftigste 
angegriffen  und  die  stärkste  Apologetik  der  Kriegspolitik  der  wil- 
helminischen Regierung  geliefert  hatten,  Ihre  Auffassung  ist  heute 
wahrhaftig  nur  ein  Scherbenhaufen. 

Aber  eben  deshalb  hat  es  kaum,  noch  einen  Zweck,  sich  heute 
mit  den  David  und  Heilmann  usw.  darob  herumzuschlagen, 
auch  würde  die  Straffheit  der  Darstellung  darunter  leiden,  und 
CS  war  zu  befürchten,  daß  die  Schrift,  die  sich  an  alle  wendet,  denen 
die  Wahrheit  über  die  Entstehung  des  Krieges  am  Herzen  liegt, 
durch  eine  derartige  Polemik  einen  parteipolitischen,  ja  persön- 
lichen Charakter  bekam,  den  ich  vermieden  wissen  wollte.  Ich 
bin  daher  nur  dort  polemisch  geworden,  wo  es  im  Interesse  der 
Klarlegung  der  Verhältnisse  lag,  im  übrigen  aber  jeder  Rekrimina- 
tion  aus  dem  Wege  gegangen. 

Daß  die  vorliegende  Sciirift  mir  indes  neue  Polemiken  einbrin- 
gen wird,   darauf  bin  ich  gefaßt, 

Wie  immer  man  sich  zu  ihr  stellen  mag,  auf  jeden  Fall  möge 
mkn  eines  bei  der  Lesung  der  hier  veröffentlichten  Dokum.ente 
stets  im  Auge  behalten:  Sie  bezeugen  Gedanken  und  Handlungen 
deutscher  Staatsmänner,  nicht  des  deutschen  Volkes.  So- 
weit dieses  eine  Schuld  trifft,  kann  sie  nur  darin  liegsn,  daß  es 
der  äußeren  Politik  seiner  Lenker  zu  wenig  Beachtung  schenkte. 
Das  ist  aber  ein  Vergehen,  das  das  deutsche  Volk  mit  allen  andern 
Völkern  teilt.  Vergebens  hat  Marx  schon  vor  mehr  als  einem 
halben  Jahrhu^^dert  bei  der  Begründung  der  ersten  Internationale 
die  ,, Pflicht  der  arbeitenden  Klassen"  proklamiert,  „selber  die 
Mysterien  der  internationalen  Staatskunst  zu  bemeistern,  die  diplo- 
matischen  Streiche   ihrer   Regierungen  zu   überwachen," 

Das  ist  bisher  nur  höchst  unzureichend  geschehen.  Der  jetzige 
Krieg  mit  seinen  grauenvollen  Konsequenzen  weist  gebieterischer 
als  je  auf  diese  „Pflicht  der  arbeitenden  Klassen"  hin. 

Als  ein  Teilchen  unserer  Pflichterfüllung  betrachte  ich  vor- 
liegende Arbeit, 

Berlin,    1,   November    1919,  K.  K  a  u  t  s  k  y. 

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1.  Die  Schuldigen. 

Seit  dem  Ausbruch  des  Weltkrieges  beschäftigt  eine  Frage  alle 
Gemüter:  Wer  hat  dieses  entsetzliche  Unheil  über  uns  gebracht? 
Welche  Personen,  welche  Einrichtungen  sind  die  Urheber? 

Das  ist  nicht  nur  eine  wissenschaftliche  Frage  für  den  Historiker, 
es  ist  eine  eminent  praktische  Frage  für  den  Politiker.  In  ihrer 
Beantwortung  liegt  ein  Todesurteil  für  die  als  die  Urheber  er- 
kannten, nicht  gerade  ein  körperliches,  auf  jeden  Fall  aber  ein 
politisches.  Personen  und  Institutionen,  deren  Macht  so  Furcht- 
bares hervorgerufen  hat,  sind  politisch  zu  den  Toten  zu  werfen, 
müssen  aller  Macht  entkleidet  werden. 

Doch  eben  deswegen,  weil  die  Frage  der  Urheberschaft  am  Welt- 
kriege nicht  eine  akademische,  sondern  eine  höchst  praktische  mit 
den  weitestgehen/den  Konsequenzen  für  die  Gestaltung  des  Staats- 
kbens  ist,  haben  die  wirklich  Schuldigen  von  Anfang  an  versucht, 
ihre  Spuren  zu  verwischen.  Und  sie  haben  dabei  rührige  Helfer 
gefunden  in  allen  jenen,  die  an  der  Macht  der  schuldigen  Personen 
i:nd  Institutionen  ein  Interesse  haben,  wenn  sie  auch  mit  der  Ur-. 
heberschaft  am  Kriege  nichts  zu  tun  hatten.  Das  hat  lange  die 
Aufdeckung  der  Urheberschaft  sehr  erschwert.  Anderseits  wurde 
aber  durch  das  praktische  Interesse  an  der  Sache  auch  wieder  der 
kritische  Scharfblick  der  Gegenseite  geschärft,  so  daß  nicht  wenige 
von  Anfang  an  auf  die  richtige  Spur  kamen.  Daher  begann  sich 
allmählich  der  Nebel  zu  lichten,  bis  ihn  die  jüngsten  österreichischen 
und  deutschen  Publikationen  von  Akten  der  auswärtigen  Äm.ter 
vollends  zerrissen.     Wir  sind  in  der  Lage,  jetzt  klar  zu  sehen. 

Doch  noch  eine  Wolke  liegt  da  vor  uns,  angebliche  tiefe 
marxistische  Philosophie.  Marx  hat  gelehrt,  nicht  durch  einzelne 
Personen  und  Institutionen  w^erde  der  Gang  der  Geschichte  be- 
stimmt, sondern  in  der  letzten  Linie  durch  die  ökonomischen  Ver- 
hältnisse. Der  Kapitalismus  erzeuge  in  seiner  höchsten  Form,  der 
des  Finanzkapitals,  überall  den  Imperialismus,  das  Streben  nach 
gewaltsamer  Ausdehnung  des  Staatsgebietes,  Dies  beherrsche  alle 
Staaten,  sie  seien  alle  kriegerischer  Natur,  und  daraus  sei  der 
Weltkrieg    hervorgegangen.      Nicht    einzelne    Personen    und    Insti- 

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luüonen  seien  schuldig,  sondern  der  Kapitalismus  als  Ganzes;  die- 
sen müsse  man  bekämpfen. 

Dies  klingt  sehr  radikal  und  wirkt  doch  sehr  konservativ  überall 
dort,  wo  es  das  praktische  Arbeiten  beherrscht.  Denn  der  Kapita- 
lismus ist  nichts  als  eine  Abstraktion,  die  gewonnen  wird  aus  der 
Beobachtung  zahlreicher  Einzelerscheinungen  und  die  ein  unent- 
behrliches Hilfsmittel  ist  bei  dem  Streben,  diese  in  ihren  gesetz- 
mäßigen Zusammenhängen  zu  erforschen. 

Bekämpfen  kann  man  aber  eine  Abstraktion  nidbt,  außer 
thoretisch;  nicht  ftber  praktisch.  Praktisch  können  wir  nur  Einzel- 
erscheinungen bekämpfen.  Die  theoretische  Erkenntnis  des  Kapi- 
talismus enthebt  uns  nicht  der  Notwendigkeit  dieses  praktischen 
Kampfes,  sie  ist  vielmehr  dazu  da,  ihn  zu  fördern,  dadurch,  daß 
sie  uns  ermöglicht,  einen  planmäßigen  Zusammenhang  in  seine 
Einzelheiten  zu  bringen  und  ihn  dadurch  wirksamer  zu  gestaltesa^ 
Dabei  bleibt  er  immer  ein  Kampf  gegen  bestimmte  Institutionen 
und  Personen  als  Träger  bestimmter  gesellschaftlicher  Funktionen. 

Man  kann  dabei  vom  marxistischen  Standpunkt  aus  höchstens 
tagen,  daß  das  Ziel  des  Kampfes  nicht  die  Bestrafung  der 
einzelnen  Personen  sein  soU,  gegen  die  er  sich  richtet.  Jeder  Mensch 
ist  nur  das  Produkt  der  Verhältnisse,  in  denen  er  aufwächst  und 
lebt.  Selbst  dem  schlimmsten  Verbrecher  gegenüber  ist  es  unbillig 
ihn  zu  bestrafen.  Die  Aufgabe  der  Gesellschaft  bestebt  nur  darin, 
tu  bewirken,  daß  ilim  die  Möglichkeit  genoramen  wird,  weiterhin 
zu  schaden,  daß  er  wenn  möglich,  aus  einem  schädlichen  in  ein 
nützliches  Mitglied  der  Menschheit  verwandelt  wird,  und  die- 
jenigen Verhältnisse  beseitigt  wenden,  die  ihn  schufen  und  ihm  die 
Möglichkeit  und  Macht  boten,  zu  schaden. 

Diesen  Standpiinlct  hat  man  als  Marxist  auch  den  Urhebern  am 
Weltkriege  gegenüber  eSnzunehjnen,  Es  ist  aber  keineswegs 
Marxismus,  wenn  man  von  der  Nachforschung  nach  den  schuldigen 
Personen  durch  den  Hinweis  auf  die  unpersönliche  Schuld  d» 
Kapitalismus  ablenken  will, 

Marx  und  Engels  haben  sich  nie  damit  begnügt,  von  den  ver- 
derblichen Wirkungen  des  Kapitaiismus  im  allgemeinen  zu  sprechen, 
Sie  waren  ebenso  sehr  bemüht,  dem  Wirken  der  einzelnen  Insti- 
tutionen,  Parteien  und  der  sie  führenden  Politiker,  wie  etwa  Pa!» 
merston  und  Napoleon  nachzuspüren.  Das  gleiche  mit  Bestu^ 
auf  diejenigen  zu  tun,  die  den  Weltkrieg  herbeiführten,  ist  nicht 
nur  unser  Recht,  sondern  unsere  Pflicht,  und  nicht  bloß  aus  Grün- 
den der  äußeren,  sondern  auch  der  inneren  Politik,  um  den  Perso« 

14 


mten   und    Institutionen,   die  das   lurchtbare  Verderben   verschuldet 
haben,  dl«   Wiederkehr  für  immer  unmöglich  zu  muchen. 

2.  Deutschlands  Isolierung. 

Nun  wird  eingeworfen,  die  letzten  Tage  vor  Kriegsausbruch 
seien  für  die  Schuidfrage  allein  nicht  entscheidend.  Man  müsse 
weiter  zurückgehen,  um  zu  sehen,  wie  die  Gegensätze  sich  bildeten, 
dann  werde  man  bei  allen  Großstaaten  Imperialismus,  Ausdeh- 
nungsstreben,  finden,   eicht  bloß   bei   Deutschland    allein. 

Sehr  richtig,  aber  dieses  Ausdehnungsstreben  erklärt  noch 
nicht  den  Weltkrieg,  dessen  Eigenart  darin  besteht,  daß  sich  alle 
Großmächte  und  mehrere  kleine  an  ihm  beteiligten  und  alle  Welt 
sich  gegen  Deutschland  verbündete.  Zu  zeigen,  wieso  es  dazu 
kam,  das  ist  das  Problem,  das  zu  lösen  ist.  Das  Wörtchen  Im- 
perialismus bringt  uns  dabei  nicht  weiter. 

Das  Aufkommen  des  Imperialismus  am  Ende  des  19.  und  zu 
Beginn  des  20.  Jahrhunderts  zeichnet  sich  dadurch  aus,  daß  die 
verschiedensten  Großstaaten  miteinander  in  Konflikt  gerieten, 
Frankreich  zuerst  mit  Italien  und  dann  mit  England,  Amerika  mit 
Spanien  und  auch  mit  England,  England  überdies  mit  den  Buren, 
mit  denen  alle  Welt  sympathisierte,  schließlich  Rußland  mit  Japan, 
hinter  dem.  England  stand. 

Am  freieslen  von  Internationalen  Konflikten,  die  zeitweise  »u 
Kriegen   wurden,   hielt   sich  in    jenem  Zeitalter  Deutschland, 

Es  hatte  allerdings  1871  den  großen  Fehler  begangen,  Elsässer 
und  Lothringer  wider  ihren  Willen  von  Frankreich  gewaltsam  loss- 
ziireißen  und  dieses  dadurch  in  die  Arme  Rußlamis  zu  trcil>eö. 
Das  fran.7Ösische  Bedürfnis  nach  Revanche,  nach  Wieder- 
vereinigung mit  den  losgeris'senen  geknechteten  Brüdern  begann 
mit  der  Zeit  i^lir^dere  Formen  anzunehmen,  um  so  mehr,  als  dit 
Aussichten  der  Franzosen  in  einem  Krieg  mit  Deutschland  sich 
zusehends  verschlechterten,  da  Frankreichs  Bevölkerungszahl 
kaum  v/üchs,  indes  das  deutsche  Volk  g-ich  rapid  vermehrte  un»d 
schon  dadurch  immer  mehr  das  Übergewicht  über  Frankreich  er- 
hielt. Im  Jahre  1866  zählte  das  Gebiet  des  späteren  Deutschen 
Reiches  40  Millionen,  das  Frankreichs  38  Millionen  Einwohnjer. 
Wäre  diesem  1870,  wie  es  erhofft,  Preußen  allein  gegenüber- 
gestanden, dann  hätte  sein  Gegner  bloß  über  24  Millionen  verfügt. 
Im  Jahre  1910  dagegen  zählt  Franikreich  bloß  39,  Deutschland 
über  65  Millionen  Ernwohncr. 

^  !5 


Daher  die  Furcht  Frankreichs  vor  einem  Kriege  mit  dem  über- 
mächtigen Deutschland,  eine  Furcht,  die  heute  noch  in  den  Be- 
dingungen des  Versailler  Friedens  nachwirkt.  Daher  auch  sein 
Bedürfnis  nach  der  Allianz  mit  Rußland, 

Durch  die  Feindschaft  zwischen  Deutschland  und  Frankreich 
fühlt  sich  Rußland  nach  1871  als  Schiedsrichter  zwischen  beiden 
und  somit  .als  Herr  des  ganzen  kontinentalen  Europas.  Im  Ver- 
trauen darauf  wagt  Rußland  1877  den  Krieg  gegen  die  Türkei, 
bei  dem  es  schließlich  eine  Hemmung  in  der  Ausnutzung  seines 
Sieges  nur  findet  in  England  mid  Österreich,  Auf  dem  Berliner 
Kongreß  1878  muß  sich  Bismarck  zwischen  beiden  Mächten  und 
Rußland  entscheiden.  Er  macht  sich  vom  Zaren  selbständig  und 
unterstützt  Österreich  und  England, 

Von  da  ab  rückt  Rußland  von  Deutschland  ab  und  knüpft  immer 
enger  werdende  Beziehungen  zu  Frankreich  an,  so  daß  Bismarck 
trotz  seiner  starken  russischen  Sympathien  immer  mehr  auf  Öster- 
reich angewiesen  wird,  dem  er  Italien  als  Bundesgenossen  hinzu- 
gesellt hat  (1882),  als  die  Franzosen  Tunis  besetzten  und  damit 
die  nach  diesem  Lande  schielenden  Imperialisten  Italiens  aufs 
tiefste  verletzten. 

England  bleibt  außerhalb  beider  Kombinationen  in  , .glänzender 
Isolierung",  aber  eher  auf  Seite  des  Dreibundes,  als  des  franzö- 
sisch-russischen Einvernehmens,  IDenn  mit  Frankreich  gerät  es 
in  Differenzen  v/egen  afrikanischer  Aspirationen  (Marokko  und 
namentlich  Ägypten  mit  dem  Sudan),  Rußland  gegenüber  fand 
sein  alter  Gegensatz  in  bezug  auf  die  Türkei  und  namentlich  auf 
Indien  immer  wieder  neue  Nahrimg.  Dagegen  stand  England  in 
freundschaftlichem  Verhältnis  zu  Österreich  und  Italien  und  in 
keinem  ausgesprochenem  Gegensatz  zu  Deutschland,  dessen  Lenker 
Bismarck  bei  den  Konflikten  Englands  mit  Frankreich  einerseits, 
mit  Rußland  anderseits  die  Gegensätze  zwischen  ihnen  schürte,  um 
dabei  die  Rolle  des  Schiedsrichters  und  lachenden  Dritten  zu 
Bpielen,  Diese  Politik  war  moralisch  nicht  sehr  hochstehend,  aber 
für  das  ökonomische  Gedeihen  Deutschlands  ganz  ersprießlich. 
Gerade  in  der  Zeit  des  aufkommenden  Imperialism.us  blieb  Deutsch- 
land also  von  jedem  Kriege  verschont  und  konnte  es  seine  In- 
dustrie, seinen  Handel  und  auch  seinen  Kolonialbesitz  erweitern 
dadurch,  daß  es  die  imperialistischen  Konflikte  der  andern  aus- 
beutete, ohne  sich  an  ihnen  zu  beteiligen. 

Man  sieht,  auch  im  Zeitalter  des  Imperialismus  vermochte  ein 
Großslaat  noch  eine  andere  Politik  zu  machen,   als  eine  Kricjgs- 

16  <b 


politik.  Allerdings  gehorten  dazu  Staatsmänner  mit  etwas  Grütze 
im  Kopf  und  mit  genügender  Selbständigkeit  gegenüber  den  Inter- 
essenten an  einer  imperialistischen  Gewaltpolitik,  die  in  Deutsch- 
land ebenso  wenig  Jchlten,  als  anderswo,  ja  die  gerade  durch  das 
Gedeihen  der  Friedenspolitik  besonders  erstarkten.  Der  fabelhafte 
ökonomische  Aufschwung  Deutschlands  am  Ende  des  19.  und  Be- 
ginn des  20,  Jahrhunderts  gab  die  Mittel  zu  starken  militärischen 
Rüstungen,  er  schuf  eine  Klasse  gewalttätiger  Industriemagnaten, 
namentlich  der  Schwerindustrie,  zu  denen  sich  als  alte  Gewalt- 
politiker die  Junker  gesellten  und  der  größte  Teil  der  Intellek- 
tuellen, die  von  Berufswegen  den  Auftrag  hatten,  den  Kriegsruhm 
der  HohenzoIIem  zu  verkünden,  deutschen  Größenwahn  der  ge- 
samten Jugend  einzuimpfen. 

Bismarcks  Nachfolger  Caprivi  verfolgte  noch  die  alte  Politik, 
die  den  Frieden  inmitten  aller  imperialistischen  Konflikte  der  Um- 
welt erhalten  hatte.  Aber  als  Fürst  Bülow  1897  zuerst  Minister 
des  Äußern  (später  1900  Reichskanzler)  und  mit  ihm  Tirpitz 
Leiter  des  Reiohsmarineamts  wurde,  bedeutete  das  eine  völlige  Neu- 
orientierung der  äußeren  Politik,  den  Übergang  zu  einer  Welt- 
politik, die,  wenn  sie  einen  Sinn  hatte,  nur  den  haben  konnte: 
Aufrichtung  der  Beherrschung  der  Welt  durch  Deutschland! 

In  dem  Maße,  wie  diese  neuen  Tendenzen  klarer  zutage  traten, 
bewirkten  sie  nun  auch  eine  völlige  Änderung  der  Stellung  der 
Welt  gegenüber  Deutschland.  War  sie  bis  dahin  imperialistisch 
gespalten  und  gerade  dadurch  Deutschland  in  ihr  der  mächtigste 
Faktor  gewesen,  nach  dem  Spruche:  divide  et  impei-a,  so  traten 
jetzt  alle  Gegensätze  zwischen  den  einzelnen  Staaten  zurück  hinter 
den  einen  großen  Gegensatz  gegen  das  Deutsche  Reich,  von  dem 
sich  alle  bedroht  fühlten. 

Den  Anfang  dieser  verhängnisvollen  Wandlung  der  deutschen 
V/eitpolitik  machte  die  Flottenvorlage  von  1897,  die  das  Wett- 
rüsten mit  England  einleitete  und  nur  dann  erklärlich  wurde,  wenn 
sie  dem  Endziel  der  Niederwerfung  der  britischen  Seeherschaft 
diente.  Das  ist  auch  oft  genug,  namentlich  von  alUdeutschen 
Blättern  und  Politikern  als  die  Aufgabe  der  deutschen  Seerüstun- 
gen bezeichnet  worden. 

Damit  erregte  man  die  öffentliche  Meinung  Englands  auf  das 
äußerste  gegen  Deutschland. 

Im  Zeitalter  der  napoleonischen  Kriege  hatte  das  britische 
Reich  die  Seeherrschaft  errungen  uöd  keine  Macht  unter- 
nahm es  seitdem,  sie  antasten  zu  wollen.     Diese  Herrschaft  selbst 

17 


hatte  baM  nach  dem  Wiener  Fri^ea  ibxtn  Charakter  erh€l)lich 
geändert.  In  den  ersten  Jahrzehnten  des  19,  Jahrhunderts  war 
Großbritannien  noch  ein  stark  agrarisches  Land  gewesen,  das  zur 
Not  sich  «elbst  erh-ahen  konxst«,  Gaaz  anders  spater.  Ab  das 
iodustri eilst«  aller  Läi5>d«r,  wh  «  sich  baM  nicht  bloß  In  bezug  auf 
Rohstoffe,  gondern  auch'  aal  Ernähining  mehr  als  irgendein  anderes 
Gebiet  auf  starke  Zufuhren  von  außen  angewiesen. 

Noch  1S50  war  in  England,  Wales  und  Schottland  allein  (ohne 
Irl&.nd)  die  LaadlHvölkerung  ebenso  z&hircich,  wie  die  städtische. 
Im  Jalire  1911  dagegen  machte  di«  ß«v6lk.erung  der  StSdt«  in 
England  mit  Wales  78  Prozent,  in  Schottland  75  Prozent  der  Ge- 
samtbevölkerung  aus. 

Im  IS.  Jahrhundert  war  Enj^'ar-d  ein  Getreide  atisführendes 
l^nd  gewesen.  Noch  in  den  Anfängen  des  19.  Jahrhunderts  ge- 
nügte seine  V/eizenproduktion  fast  zur  Deckung  des  heimischen 
Bedarfs.  Im  jährUchen  Durchschnitt  wurden  im  Jahrzehnt  ISii 
bis  1820  nur  400  000  Quarters  V/e-izea  eingeführt.  Im  Jahre  1850 
brauchte  man  schovi  ein«  Zufuli.'  von  fast  4  Millionen,  1909  das 
Zehnfach«,  bei  einer  Eigenproduktion  von  nur  7  Millionen,  Ganze 
84  Prozent  de«  in  England  verbrauchten  Weizens  stammten  kurz 
vor  dem  Kriege  aus  dem  Auslände. 

Diese  ganze  Zufuhr  erfolgte  aber  ausschließlich  zur  See,  Das 
hci3t,  daß  England  im  Falle  eines  Krieges  dem  Himgertode  aus- 
geliefert wurde,  sobald  es  nicht  mehr  die  See  beherrschte.  Seine 
Seeherrschaft,  die  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  fast  bloß  ein 
Mittel  zur  Ausdehnung  und  Sicherung  seines  Kolonialreiches  bildete, 
also  um  modern  zu  reden,  imperialistischen  Zwecken  diente,  wurde 
immer  unerläßlicher  zur  Auirechterhaltung  der  Selbständigkeit  des 
Landes,  Die  Sceherrschaft  wurde  für  das  britische  Volk  neben 
einer  imperialistischen  eine  demokratische  Forderung,  w^snigstens 
solange,  als  nicht  allgemeine  Abnlistung  und  Abschaffung  der  Kriege 
möglich  waren  —  pazifistische  Ziele,  die  gerade  wegen  der  durch 
einen  Krieg  gefährdeten  Lage  des  Landes,  bei  der  Masse  der  eng- 
lischen Bevölkerung,  nicht  bloß  Sozialisten,  sondern  auch  Liberalen 
sehr  populär  wurden.  Da  der  Gedanke  der  Seeherrschaft  in  Eng» 
land  nicht  allein  von  imperialistischen,  sondern  auch  von  demo- 
kratischen Schichten  getragen  wurde,  fand  diese  Herrschaft  auch 
eine  sehr  liberale,  durchaus  nicht  protektionistische  oder  gar  mono- 
pollsHsche,  sondern  dne  freihäadlerische  Anweirdiing,  nach  dem 
Grundsatz  der  offenen  Tür. 

19 


Dadurch  errdchl-e  es  England,  daB  während  des  j^innzen  19.  Jahr- 
hunderts kein  Staat  Miene  machte,  seine  Süeherrachaft  zu  be- 
drohen. Nur  Deutschland  begann  die  Politik  der  BedrohtinjJ  am 
Ende  des  19.  Jahrhunderts,  als  Enjjlanils  LcbeGsinieresee  j«ne  Herr- 
schaft weit  entscl)ied«n«r  forderte,  ^h  *w  Zaii  Napoleons  I, 

Wer  England  und  die  En^läoder  kennt,  «mliia  wissen,  daß  di« 
deutsche  Politik  der  Flottenrüötungen  allein  schon  genügte,  immer 
zahlreichere  Schichten  der  Bevölkerung  Englands  dem  Gedanke» 
zugänglich  su  iim^hsn,  Deutschläind  um  j®d«ö  Fr«!»  zum  Ein- 
Eteilea  di«sw  Rüstungen  zu  bnagen,  w«an  es  nicht  ander»  ging, 
durch  einen  Krieg,  der  Dank  d«r  trüberen  deutschen  Politik  auch 
Frankreich  und  Kußland  als  Gegner  Deutschlands  auf  deo  Plan  zu 
bringen  drohte. 

Herr  v.  Bülow,  der  diese  verhängnisvolk  Politik  inaugurierte, 
gesieht  s«lbsi  eija,  dai3  sie  Dsut-schiaRd  mit  dem  Kriege  bedrohte, 
in  seinem  1916  erschienenen  Buche  über  „Deutsche  Politik"  schreibt 
er:  „Während  der  ersten  zehn  Jahre  nach  der  Einbringung  der 
MarinevQrlagi?  von  1897  und  d^m  Beginn  unserer  Schiihbauton 
wäre  ein«  zum  Äußersien  eni^chlossen«  an^ilsche  Politik  wohl  in 
der  Lagts  gewesen,  die  Entwicklung  Deutschlands  zur  Seemacht 
kurzerhand  gewaltsam  zu  unterbinden,  uns  unschädlich  zu  machen, 
bevor  uns  die  Krallen  zur  See  gewachsen  waren  ...  Und  im 
achtzehnten  Monat  des  Krieges  konstatiert  die  „Frankfurier  Zel' 
tung",  England  tiahe,  ah  9$  zur  kriegerischen  AMseinandernetzung 
gekommen  war,  die  trübe  Wahrnehmung  machen  müssen,  daß  ei 
trotz  aller  Einkreisungspläne  den  rechten  Augenblick  versäumt 
hatte,  wo  es  den  gefürchteten  Mitbewerber  halte  klein  machen 
können.    (S.  40)" 

Also  <lie  FloltenpoHtik  ward»  jjaternomwse«  auf  dl«  Grfahr  hki^ 
daß  «ie  Enillaiiil  zum  Kriege  g«gen  Deutischknd  reiz«.  Wenn  es 
da  zu  einem  solchen  nicht  kam,  war  nicht  die  deutsche  Politik 
daran  schuld,  sondern  die  Zurückhaltung  Englands,  das  der  ge- 
waltsamen Ni€>d«rschlagijjig  de-s  drohemJen  Gegners  durob  einen 
Kri«g  sedne  sog«nannte  Einkreisung  vorzog,  d-  k  die  Förderung 
seiner    Isolierung,    d%e)   aus    Deutsohland»   Weltpolitik   hervorging. 

Das  unheilvolle  V/irken  der  ebenso  sinnlosen  wie  provozierenden 
Fiottenpolitik  Deutschlands  wurde  noch  verstärkt  durch  seine  hart- 
näckige Svabotierung  aller  Vfr^twch^?,  ^:u  feiner  internationalen  Ver- 
stSadigung  über  eine  aügeinelAsi  E^nschrg-rskyn^  der  Kriegsrö«tm}* 
gen  zu  kommen,  und  internationale  Konflikte  auf  friedlichem  W^ge 
durch  Schiedsgerichte  zu  beseitigen. 

19 


Das  zeigte  sich  schon  bei  der  ersten  Haager  Konferenz  von  1899, 
die  diesen  Zielen  galt. 

„Gerade  in  den  Tagen  der  Haager  Konferenz  hielt  der  Deutsche 
Kaiser  seine  Wiesbadener  Rede,  in  der  er  ein  ..scharf  geschliffenes 
Schwert"  als  die  beste  Friedensgarantie  erltlärt."  (Fried,  Hand- 
buch der  Friedensbewegung.     S.  171.) 

Auf  dieser  Konferenz  war  der  deutsche  Delegierte  nicht  einmal 
dazu  zu  bewegen,  der  obligatorischen  Schiedsgerichtsbarkeit  wenig- 
stens für  'Entschädigungsforderungen  und  juristische  Streitigkeiten 
zuzustimmen.  Selbst  diese  geringfügige  Einschränkung  der  Aus- 
tragung internationaler  Konflikte  durch  Gewalt  scheiterte  an  dem 
Widerstände  Deutschlands,  das  später  auch  alle  Versuche  zurück- 
wies, zu  einer  Begrenzung  der  Rüstungen  zu  kommen. 

Kein  Wunder,  daß  Deutschland  in  der  Weit  immer  verhaßter 
wurde,  nicht  bloß  bei  den  mit  der  deutschen  Madit  rivalisierenden 
Imperialisten,  sondern  auch  bei  den  Verfechtern  des  Völker- 
friedens imd  der  Völkerfreiheit. 

Die  Rolle,  die  bis  dahin  (das  Zarentum  gegenüber  der  europäischen 
Demokratie,  als  ihr  schlimmster  gemeinsamer  Feind,  gespielt,  die 
fiel  nun  immermehr  der  deutschen  Militärmonarchie  zu.  Eine  sinn- 
losere Politik  war  kaum  möglich.  Sie  mußte  verurteilt  werden, 
nicht  bloß  vom  Standpunkte  d^s  internationalen  Sozialismus,  son- 
dern selbst  vom  Standpunkte  eines  Imperialismus,  der  m.it  den 
gegebenen  Machtverhältnissen  rechnete.  Eine  vernünftige  deutsche 
imperialistische  Politik  durfte  auf  keinen  Fall  derart  sein,  daß  sie 
die  Feindschaft  der  beiden,  neben  Deutschland  in  Europa  ent- 
scheidenden Mächte,  England  und  Rußland,  gleichzeitig  hervorrief. 
Sie  mußte  entweder,  um  ihre  Ziele  im  Gegensatz  zu  Rußland  und 
dem  mit  diesem  verbündeten  Frankreich  zu  erreichen,  Englands 
Unterstützung  gewinnen,  was  vor  allem  Verzicht  auf  das  Flotten- 
wettrüsten bedeutete.  Dies  hätte,  dem  Charakter  der  englischen 
Politik  entsprechend,  geheißen,  daß  der  Griindsatz  der  offenen  Tür 
in  der  ganzen  Welt  zum  Durchbruch  kam  —  was  für  Deutschlands 
Industrie  die  glänzendsten  Aussichten  bot. 

Freilich,  eine  eigentlich  imperialistische  Politik  nach  dem  Herzen 
der  Schwerindustriellen,  Monopolisten  und  der  Militaristen  wäre 
es  nicht  gewesen.  Denen  lag  vor  allem  an  einer  Ausdehnung  auf 
Kosten  Englands.  Dann  aber  mußte  man  darüber  mit  Rußland  zu 
einer  Verständigung  kommen.  Ein  mit  Rußland  verbündetes  und 
damit  auch  gegen  die  französische  Gefahr  mehr  gesichertes  Deutsch- 
land  hätte   ruhig   das   Flottenv.'ettrennen   mit   England   aufnehmen 

20 


können.  Im  Kriegsfalle  konnten  ihm  die  Enrjländer  nichts  Erheb- 
liches antun.  Sie  mochten  seine  Kolonien  besetzen,  seinen  See- 
handel unterbinden,  nicht  aber  Deutschland  aushungern.  Dieses 
dagegen  war  imstande,  auf  dem  Lande  mit  Hilfe  Rußlands  die 
Grundlagen  von  Englands  Weltstellung  zum  Zusammenbruch  zu 
bringen  und  das  zu  erreichen,  was  auf  anderem  Wege  Napoleon  I. 
vergeblich  versucht,  Ägypten  zu  be&etzen  imd  nach  Indien  vorzu- 
dringen. 

Geradezu  toll  dagegen  war  es,  dies  Ziel  der  Niederwerfung  Eng- 
lands nicht  im  Verein  mit  Rußland,  sondern  im  Krieg  mit  Rußland, 
mit  Frankreich,  mit  der  ganzen  Welt,  anzustreben. 

3.  Deutsche  Provokationen. 

Zunächst  freilich  bedeutete  die  deutsche  Politik  noch  nicht  den 
Krieg  Deutschlands  gegen  die  ganze  Welt,  wohl  aber  die  Gefahr 
eines  solchen  Krieges.  Je  stärker  die  Einkreisung,  je  größer  die 
Isolierung  Deutschlands,  desto  dringender  heischte  daher  sein 
eigenes  Interesse,  daß  es  jede  Provokation  unterließ,  die  es  in 
einen  Krieg  verwickeln  konnte. 

Ein  Marxist,  der  da  behauptet,  der  Imperialismus  hätte  auf  jeden 
Fall  den  Krieg  gebracht,  wie  immer  die  deutsche  Politik  war,  er- 
innert an  einen  Verteidiger  dummer  Jungen,  die  sich  damit  ver- 
gnügten, brennende  Zündhölzer  in  ein  Pulverfaß  zu  werfen.  Nicht 
die  Jungens,  meint  der  Verteidiger  .entschuldigend,  hätten  die  zer- 
störende Explosion  verschuldet,  die  ihrem  Treiben  folgte;  Schuld 
sei  das  Vorhandensein  des  Pulvers  im  Faß,  Wäre  Wasser  drin 
gewesen,  hätte  nichts  passieren  können.  Stimmt.  Nur  wußten  in 
UDserem  Falle  die  Jünglinge,  daß  Pulver  im  Faß  war,  ja,  sie  hatten 
selbst  einen  recht   erheblichen  Teil   davon   hineingetragen. 

Man  kann  sagen,  daß  die  Provokationen  aus  Deutschland  vmi  so 
zahlreicher  wurden,  je  größer  seine  Isolierung  und  je  bedrohlicher 
die  Gefahr  des  Weltkrieges. 

Gerade  die  v/achscnde  Gefahr  vermehrte  die  Erbitterung  auc 
beiden  Seiten,  im  Auslande,  wie  in  Deutschland,  sie  bildete  einen 
neuen  Antrieb  zur  Vermehrung  der  Rüstungen  und  damit  zum 
Erstarken  der  kriegerischen  Elemente,  Sie  vermehrte  in  verhäng- 
nisvoller Weise  die  Zahl  derjenigen,  die  den  Krieg  für  unvermeid- 
lich hielten,  und  daher  beinahe  drängten,  daß  er  bei  günstiger 
Gelegenheit  vom  Zaune  gebrochen  werde  als  Präventivkrieg,  wenn 
die  Umstände  das  eigene  Land  begünstigten  und  die  Gegner 
hemmten. 

21 


In  Deutschland  wuchs  aber  auch  mit  der  Kriegsrustun^  das  Ver- 
trauen tu  ihrer  Kruh,  iwacfct«  sich  in  vielen  Kreisen  ein  wahrhaf- 
tet GrABstKWfthfl  g«t.lt«sd,  der  dch  sifits^f.«  fcv!  die  prejußische 
KriegSfgeschichte,  die  seil  anderthalb  Jahrhunderten  mit  Ausnahme 
Jenas  fast  nur  Siege  zu  verzeichnen  hatte. 

Namentlich  <!ie  aüdeutscheti  Kreise  konnten  sich  in  provokato- 
ri»ch«n  Äußerungen  ßi<^bt  genwg  tmn.  St«  erhielten  ernsthafte  Be- 
deutung da>durch.  daß  die  Kreise  des  Alldeutschtums  den  cnt«diie- 
denstco  Teil  gerade  jener  j^esellschaftlichen  Schichten  darstellten, 
die  Deutschland  beherrschten  und  denen  ssine  Regierung  ent- 
sprang. Das  Übel  wurde  noch  verstärkt  durch  die  Persönlichkeit 
des  Kaiser«,  der  durch  und  durch  militärisch  denkend,  dabei  ober- 
flSchiioh  und  maßlos  eitel,  au!  llieatereffekte  erpicht,  vor  den 
herausforderndsten  Gesten  und  Reden  nicht  zurückschreclcte,  wenn 
er  glaubte,   damit  seiner  Umgebung  zu  imponieren. 

Wir  hat>«n  schon  <<«ßehcn,  daÖ  er  in  den  Tagen  der  ersten  HaÄgcr 
Friedenskonferenz  im  G-egeöSSt?  tu  Schiedsgerichten  acd  Ab- 
rüstung ein  scharf  geschliffenes  Schwert  für  die  beste  Friedens- 
garantie erklärt. 

Ein  Jahr  darauf  proklamiert  er  vor  den  nach  China  ziehenden 
Truppen  in  B/^emerhaven,  27.  Juli  1900,  folgende  schönen  Grund- 
eätze  der  Kriegfßhrung; 

„Pardon  wird  nickt  gcgsbert.  Gefangene  werden  nicht  gemacht . . 
Wie  vor  tausend  Jahren  die  Rannen  unter  ihrem  Köni^  hizel  sich 
«inen  Namen  gemacht  .  .  .  so  möge  dsr  Name  Deutscher  jetzt  in 
China  auf  tausend  Jahre  in  einer  V7eise  betätigt  werden,  daß  es 
nitmali  ein  Chinese  uieder  wagt,  einen  Deutschen  auch  nur  scheel 
anzusehen." 

Wenn  später  im  Weltkriege  die  Art  der  deutschen  Kriegfülirung 
auf  ein  bei  kaltem  Blut  ersonnenes  System  von  Grausamkeit  7.;i- 
rückgefühit  wurde,  das  den  Deutschen  den  Namen  von  Kunnen 
eintrug,  darf  sich  das  deutsche  Volk  dafür  bei  seinem  Kaiser  be- 
danken. 

Wurde  durch  solche  ÄviSerungcn  der  Abscheu  vor  dem  deutschen 
Volke  bei  allen  human  denkenden  Menschen  großgezogen,  so  trug 
Wilhelm  gleichzeitig  keine  Bedf-nken,  such  der.  Imperialisten  d^s 
Auslandes  die  Fehde  anzusagen.  Den  Anfang  machte  1896  das 
Telegramm  an  den  Burenpräsidenten  K?üe"er,  in  dem  Wilhelm  in 
dem  beginnenden  Konflikt  2:%v-ischen  England  und  den  Buren 
offen   diese  seiner   Freundschaft  versicherie. 


BäW  liarauf,  1S98,  proklamierte  er  «ich  alo  den  Schutzpatron  d«r 
300  Millionen  Mohammedaner  der  Erdo.  Daa  jjalt  denen  des  von 
Frankreich  beherrschten  Algier  obenso  wi«  den  unter  englischer 
Herrschaft  in  Ägypten  und  Indien  lebenden,  den  Mohammedanern 
in  Rußland  und  den  von  diesem  Staate  bedrohten  Mohammedanern 
der  Türkei. 

Es  war  nur  eice  Fortsetzung  dieser  herauslordemden  Politik, 
v/enn  Wilhelm,  als  Frankreich  begann,  Interesse  für  Marokko  zu 
betätigen,  1905  in  Tanger  dem  Sultan  von  Marokko  seinen  Schutz 
gevjen  jodcrmann  zusagte,  der  seine  Unabhängigkeit  bedrohe,  und 
später,  1911,  ebenxalls  um  des  gleichen  Streitgegenstandes  willen, 
plötzlich  eia  Kriegsschiii  vor  dea  tuarokkanischcu  Hafen  Agadir 
schickte, 

Beidemale  ward  so  der  Weltfriede  in  Frage  gestellt.  Die 
Sache  wurde  nicht  besser  dadurch,  daß  Wilhelm  jedesmal,  wenn 
es  galt,  die  Drohung  wahr  zu  machen,  die  Courage  verlor  imd 
diejenigen  Im  Süclxe  ließ,  die  er  «eines  Schutzes  versichert  hatte. 
So  den  Sultan  von  Marokko  uad  besondei's  w^ürdelos  die  Buren. 
Das  trug  nur  dazu  bei,  daß  sich  zum  Haß  noch  die  Mißachtung 
gesellte. 

Bei  diesen  Konflikten  waren  es  auf  beiden  Seiten  Imperialisten, 
die  gegeneinander  standen,  B^i  deni  Kairspf  de«  großen  England 
gegen  die  kleinen  Burenrepubliken  hatte  stell  die  öffentliche  Mei- 
nung der  ganzen  zivilisierten  Welt  einmütig  auf  die  Seite  der  Klei- 
nen und  Schwachen  gestellt.  In  den  Marokkokonflikten  waren  die 
Arbeiter  Deutschlands  wie  Frankreiclis  iß  vollster  Übereinstim- 
mung ihren  Regierungen  entgcgeagelretea  und  hatten  damit  nicht 
wenig  zur  Erhaltung  des  bedrohten  Weitfri^rderis  beigetragen.  Durch 
diese  Haltung  des  sozialistischen  Proletariats  wurde  da«  Unbe- 
rechenbare, Spruiighafte,  Provokatorische  der  deutschen  Weltpolitik 
&iwa«  gecjüdert 

4.  Oster-elcli. 

Die  Regierung  Deutschlands  begnügte  sich  jedoch  nicht  damit, 
Dummheiten  auf  eigene  Faust  zu  machen.  Sie  fühlte  sich  auch 
gedrängt,  die  Dummheiten  der  österreichischen  Politik 
zu  decken,  die  ebenfalls  drcht^a-n,  einen  Weltkrieg  zu  entzünden, 
aber  nicht  um  überseeischer  Objekte,  30«dern  mn  der  Unabhängig- 
keit europäischer  Staaten  selbst  willen,  die  durch  Österreich  direkt 
bedroht  wurden. 

Durch  seine  Weltpolitik  hatte  Deutschland  es  erreicht,  daß  es 
last  kciaea  Frcoud  -ont^ir  de»  sieLbsifodl^ea  Ubeja*iäiüg«n  Staaten 

23 


Europas  mehr  besaß.  Selbst  das  Verhältnis  zu  dem  verbündeten 
Italien  war  ein  recht  kühles  geworden.  Nur  zwei  Staaten  blieben 
ihm  eng  befreundet,  zwei  Staaten,  die  ihre  Lebensfälügkeit  ver- 
loren hatten,  so  daß  sie  nur  durch  einen  starken  Helfer  von  außen 
sich   noch   zu   behaupten   vermochten,   Österreich   und   die   Türkei. 

Der  Staat  der  Habsburger  wie  der  des  Sultans  von  Konstanti- 
ncpel  waren  jeder  ein  Nationalitätenstaat,  der  nicht  durch  gemein- 
same Interessen  seiner  Nationalitäten,  nicht  durch  eine  Überlegen- 
heit an  Wohlstand  und  Freiheit  zusammengehalten  wurde,  sondern 
nur  durch  militärischen  Zwaüg.  Dieser  Typus  des  Nationalitäten- 
staates wurde  immer  unverträglicher  mit  der  modernen  Demokra- 
tie, die  unwiderstehlich  unter  dem  Einfluß  der  modernen  Verkehrs- 
entwicklung wächst, 

Österreich  und  die  Türkei,  wenigstens  die  europäische,  waren 
also  rettungslos  dem  Untergange  vei-fallen.  So  wenig  merkten  das 
die  leitenden  deutschen  Staatsmänner,  daß  sie  gerade  diese  Staa- 
ten zu  ihrer  einzigen  Stütze  machten  —  aber  freilich,  v*-elche  andere 
wäre   ihnen   bei   ihrer   Wcltpolitik   geblieben? 

Diese  beiden  Staaten  standen  in  überliefertem  Gegensatz  zu  Ruß- 
land, das  nach  dem  Zugang  zum  Mittclmeer,  nach  Konstantinopel 
strebte,  das  aber  wiederholt  erfahren  hatte,  daß  es  direkt  dahin 
nicht  zu  gelangen  vermöge.  Es  entschied  sich  daher  zu  dem  Um- 
weg, die  Türkei  in  eine  Reihe  selbständiger  kleiner  Nationalstaaten 
aufzulösen,  von  denen  es  hoffte,  daß  sie,  die  durch  die  Religion 
und  zum  Teil  —  bei  Serben  und  Bulgaren  —  auch  durch  die  Sprache 
dem  russischen  Volke  sehr  nahe  gebracht  waren,  Vasallenstaaten 
des  Zarentums  •würden.  Im  Gegensatz  zur  österreichischen  und 
türkischen  Regierung  begünstigte  e?  die  nationalen  Selbständig- 
keitsbewegungen auf  dem  Balkan,  und  es  arbeitete  dabei  auf  der 
Linie  des  notwendigen  historischen  Fortschritts,  indes  jene  Re- 
gierungen sich  ihm  widersetzten.  Derselbe  Monarch,  den  die  eigenen 
Untertanen  als  Henker  und  Blut-Zar  verfluchten,  wurde  auf  dem 
Balkan  als  ,, Zar-Befreier"  begrüßt.  Seine  Ziele  hätte  der  russische 
Imperialismus  bei  den  Balkanvölkem  freilich  nicht  erreicht.  Je 
mehr  deren  Kraft  und  Unabhängigkeit  vom  Sultan  wuchs,  um  so 
selbständiger  mußten  sie  auch  dem  Zaren  gegenüber  werden.  Sie 
fühlten  sich  von  ihm  nur  so  lange  angezogen,  als  sie  seines 
Schutzes  bedurften;  so  lange  ihre  Unabhängigkeit  von  anderer 
Seite  bedroht  wurde. 

Diese  andere  Seite  wurde  in  den  letzten  Jahrzehnten  vor  dem 
Kriege  immer  mehr  Österreich.     Angesichts  der  wachsenden  natio- 

24 


nalen  Bewegungen  der  Rumänen  und  Südslavcn  im  eigenen  L.':xnde, 
die  namentlich  von  der  magyarischen  Herrensohicht  schwer  bedrückt 
wurden,  erschien  den  Leitern  der  Österreichisch-ungarischen  Mon- 
archie ein  starkes  Serbien  und  Rumänien  an  ihren  Grenzen  als 
höchst  gefährlich.  Nicht  minder  waren  den  Agrariern  der  Mon- 
archie, auch  da  wieder  in  erster  Linie  den  ungarischen,  die  agrari- 
schen Exportgebiete  Serbiens  und  Rumäniens  ein  Dorn  im  Auge. 
Und  endlich  waren  es  die  Imperialisten,  Militärs,  Bureaukraten, 
Kapitalisten  Österreichs,  die  den  Weg  nach  Saloniki  beherrschen 
wollten,  denen  die  Existenz  eines  selbständigen  Serbiens  als  ein 
Hindei-nis  erschien,  dessen  Beseitigung  sie  v/ünschen  mußten. 

Die  Politik  aller  dieser  österreichischen  Elemente  drängte 
Serbien  und  RunT-änien  in  die  Arme  Rußlands. 

Wenn  die  österreichischen  Staatsmänner  glaubten,  Serbien  zer- 
schmettern zu  müssen,  um  den  russischen  Intrigen  atif  dem  Balkan 
einen  Riegel  vorzuschieben,  so  lag  die  Sache  in  Wirklichkeit  gerade 
umgekehrt.  Eben  durch  ihre  Feindschaft  gegen  Serbien  stärkten 
die  Österreicher  dort  erst  den  russischen  Einöuß. 

Um  ihn  auszuschalten,  mußten  die  Leiter  Österreichs  eine  Politik 
des  Entgegenkommens  gegen  die  Serben  und  Rumänen  im  eigenen 
Lande  und  gegen  die  benachbarten  Staatswesen  Serbien  und 
Rumänien  betreiben.  Ein  solches  Vorgehen  war  für  die  Herrschen- 
den Österreich-Ungarn«;  unmöglich.  Sie  hätten,  um  in  dieser  Weise 
den  Staat  zu  retten,  ihren  eigenen  Augenblicksinteressen  zuwider- 
handeln müssen. 

Vermochte  niclit  die  demokratisch-nationale  und  proletarische 
Opposition  im  österreichischen  Staatswesen  jene  Herrschenden  zu 
stürzen,  dann  war  es  verloren,  ebenso  wie  die  Türkei,  und  verloren 
derfenige,  der  sich  mit  diesem  Staate  auf  Gedeih  und  Verderb 
verband. 

Dabei  aber  fühlte  sich  Österreich  noch  als  Großmacht,  wollte 
sich  noch  selbständig  gebärden,  machte  immer  wieder  Anläufe  zu 
einer  selbständigen  Politik,  die  bei  seinen  wachsenden  inneren  und 
äußeren  Schwierigkeiten  immer  verkehrter  wurde. 

Die  Sache  gestaltete  sich  nicht  besser  durch  die  persönlichen 
Regierungsverhältnisse  des  Staates.  An  seiner  Spitze  stand  ein 
Herrscher,  der  nie  über  hervorragende  Geisteskräfte  verfügt  hatte, 
den  das  Aller  und  eine  Reihe  der  härtesten  Schicksalsschläge  aufs 
äußerste  ruhebedürftig  machten  und  dessen  Regime  den  Charakter 
der  Senililät  bekommen  hatte.  Aber  sein  Unglück  wollte,  daß  die 
Völker  Österreichs  diesem  Ruhebedürfnis  in  keinerlei  Weise  Rech- 

25 


ntm^  trugen,  daß  ihr«  EmpCrung  ^cgen  den  unrnSglichen  Staat,  in 
den  »ie  eingepreßt  waren,  immer  mehr  wuchs.  Unter  dem  Eindruck 
dieser  wachseriden  Unruh«  Iro  Reich  zeitigte  das  senile  Ruhe- 
bedürfnii  die  widersprechendsten  Erscheinungen:  es  iührte  mit- 
unter zju  überraschender  Nachgiebigkeit,  Diese  konnte  aber  nicht 
die  gewünschten  Resultate  haben,  die  Völker  zu  beruhigen,  da  sie 
sich  «Ict«  nur  eul  EinzelpunJktc  bezog,  nur  Flickwerk  schuf.  Zu 
einer  durohgreiienden  Relorro  war  dieses  Regime  unfähig. 

Erzielte  aber  die  Nachgiebigkeil  nicht  die  gewünschte  Beruhigung, 
dann  entfesselte  das  Ruhebsdürfnis  die  äußerste  Strenge,  um  durch 
Gewalttat  die  Ruhestörer  niederzuwerfen. 

Galt  das  zunächst  voa  d^r  Ituieren  Politik,  so  wurde  auch  die 
fiußere  daduroh  bctrofiea.  Diese  stand  mit  der  äußeren  in  Öster- 
reich in  engstem  Zusammenhang  schon  dadurch,  daß  von  den  acht 
Nationalitäten  des  Reiches  nur  zwei  ausschließlich  innerhalb  seiner 
Grenzen  wohnten,  indes  die  andern  zu  erheblichem  Teil  außerhalb 
6\ebtcr  Cremen  lebten,  mAnche  in  seihstäjadigen  Nationalstaaten 
organisier L  Beeinflußten  schon  die  nationalen  Bestrebungen  der 
Rumänen,  Ruthenen,  Polen  die  äußere  Politik  Österreichs,  so  ge- 
schah dies  noch  mehr  durch  die  italienische  und  südslawisch«  Irre- 
denta. 

Zu  alledem  kam  nua  noch,  daß  Österreich  neben  seinem  Kaiser 
einen  zv/eiten  Herrscher  bekam,  den  Erzherzog  Franz  Ferdinand, 
dem  1896  das  Recht  auf  die  Thronfolge  zufiel,  fast  um  dieselbe 
Zeit,  als  Deutschland  seine  verhängnisvolle  Flottenpolitik  begann, 
Die  imperialistischen  Bestrebungen,  die  damals  alle  größeren  Staa- 
ten erfaßten,  begamien  sich  seitdem  auch  in  Österreich  zu  regen. 
Sie  konnten  sich  aber  keine  überse€ischen  Objekte  wählen.  Gleich 
dem  russischen  strebte  auch  der  österreichische  Imperialismus  nach 
Ausdehnung  durch  Erweiterung  seiner  Landesgrenzen.  Das  konnte 
er  am  besten  erreichen  im  Süden,  durch  Gewinnung  des  Weges 
nach  Saloniki,  was  die  Verwandlung  Albaniens  und  Serbiens  in  eine 
österreichische  Kolonie  erheischte.  Was  kein  Staat  in  Europa  seit 
1S71,  seit  der  Annexion  Elsaß-Lothringens  mehr  wagte,  sich  eine 
politisch  selbständige  Bevölkerung  wider  ihren  Willen  gewaltsam 
anzugli^^dern,  das  wollte  das  altersschwache,  aber  freilich  große 
Österreich  dem  jugendkriftigen,  doch  kleinen  Serbien  gegenüber 
durch   dessen   systematische   Mißhandlung   erreichen. 

Der  junge,  energische,  ja  rücksichtslose  Franz  Ferdinand,  der 
kein  Ruhebedürfnis  kannte,  kein  Schwanken  zwischen  Nachgiebig- 
keit und  G<r*ait,  sondern  der  allein  auf  die  Gewalt  baute,  wurde 

26 


der  Träger  dieser  imperialistischen  Bestrebungen,  denen  er  um  so 
mehr  Nachdruck  zu  geben  vermochte,  je  mehr  bd  runi-hmcnxlem 
Alter  des  Kaisers  der  Einfluß  des  Thronfoli^crs  auf  das  Militär 
und  die  äußere  Politik  wuchs,  die  Franz  Ferdinand  seit  1906,  seit 
der  Ersetzung  Goluchowskis   durch  Aehrenthal,  bestimmte. 

Unv/issende  Draufgänger,  scheuten  Franz  Ferdinand  und  seine 
Werkzeuge  vor  den  schlimmsten  Provokationen  nicht  zurück,  un- 
bekümmert darum,  daß  sie  dadurch  Rußland,  den  Schütscr  Ser- 
biens, herausforderten  und  so  den  Weltfrieden  gefährdeten.  Was 
Icümmerte  sie  der,  so  lange  der  große  deutsche  Bruder  mit  seiner 
^^waltigöft,  gepanzerten  Faust  hinter  ihnen  stand!  Und  der  staad 
hinter  ihnen,  weil  seine  eigene  Wellslellung  bedroht  war,  wenn 
die  einzige  Militärmacht  von  Bedeutung,  auf  die  er  bauen  konnte, 
an  Kraft  oder  Ansehen  verlor, 

5.  Die  Balkankrisen. 

Die  erste  der  frivolen  Gefährdungen  des  Weltfriedens  durch 
Österreich  geschah  im  Herbst  1908,  als  es  ohne  Not  die  von  ihm 
bis  dahin  seit  1878  für  die  Türkei  verwalteten  Gebiete,  Bosnien 
und  die  Herzegowina  annektierte,  unter  schamlosem  Vertragsbruch 
gegenüber  der  Türkei  und  unter  grober  Verletzung  des  nationalen 
Empfindens  der  Südslawen,  die  jene  Behandlung  der  Bosnier  als 
einfache  Besitzgeigenstände,  die  nach  Belieben  getauscht  oder  ge- 
raubt werden  durften,  aufs  äußerste  erbittern  mußte.  Die  Gefahr 
eines  Weltkrieges  wurde  damals  dadurch  heraufbeschworen,  daß 
Rußland  sich  auf  dem  Balkan  zurückgedrängt  sah,  v/enn  es  keine 
Kompensation  erhielt.  Doch  auch  bei  den  übrigen  Staaten  Europas, 
namentlich  bei  England,  rief  die  freche  Zerreißung  des  Vertrages 
von  1878  die  lebhaftesten  Proteste  hervor.  Österreich  hätte  klein 
beigeben  müssen,  wäre  ihm  das  Deutsche  Reich  nicht  zur  Seita 
gestanden. 

Diese  Haltung  legte  bereits  den  Grund  zum  späteren  Weltkrio^, 
trotzdem  haben  deutsche  Politiker  sie  noch  während  dieses  ver- 
teidigt, freilich  noch  vor  dem  Zusammen-bfuch.  Fürst  Bülow  rühr.>l 
sich  in  seinem  bereits  zitierten  Buche  über  „Deutsche  Politik"  seiner 
damaligen  Haltung: 

„Ich  ließ  in  meinen  Reichstagsreden  wie  In  meinen  Weisungen 
an  unsere  Vertreter  im  Auslande  keinen  Zwei'el,  daß  Dev'schla^d 
enfschlösaen  sei,  in  Nibelungentreue  und  unter  allen  Umständen 
am  Bündnis  mit  Österreich-Ungarn  hsttuhalien.  Das  d  ent  sehn 
Schwert  war  in  die  Wa^schaU  der  europäischen  Entscheidung  ge- 

21 


warfen,  unmiUelbar  für  unseren  osierreichisch-un^ariscnen  Bundes- 
genossen, mittelbar  für  die  Erhaltung  des  europäischen  Friedens 
und  vor  allem  und  in  erster  Linie  für  das  deutsche  Ansehen  und 
die  deutsche  Weltstellung."     (S.  60.) 

Das  war  also  die  Methode,  mit  der  das  alte  Regime  den  Frieden 
zu  erhalten  suchte:  es  sah  seine  Aufgabe  nicht  darin,  frivole  Provo- 
kationen des  Bundesgenossen  zu  verhindern,  sondern  darin,  für  ihn 
das  deutsche  Schwert  in  die  Wagschale  zu  werfen.  Und  dadurch, 
wie  durch  Gutheißung  des  Vertragsbruches  glaubte  es  für  „das 
di'utsche  Ansehen"  in  der  Welt  zu  wirken! 

Noch  entzückter  äußert  sich  Hashagen  in  seinem  Büchlein  übor 
„Umrisse  der  Weltpolitik",  das  im  gleichen  Jahre  wie  Bülows  Buch 
erschien: 

„Für  die  Festigung  des  beiderseitigen  Bündnisses  ist  es  ein  un- 
schätzbarer Vorteil,  daß  die  Annexion  Bosniens  und  der 
Herzegowina  bald  eine  so  gewaltige  internationale 
Hetze  nicht  nur  gegen  österreich-U ngarn,  sondern  auch  gegen 
Deutschland  entfesselt.  Erst  diese  Hetze  hat  die  beiden  Bundes- 
genossen in  ein  völlig  unauflösliches  Verhältnis  zueinander  ge- 
bracht." (IL  S.  6.) 

In  der  Tat.  welch  sinnreiche  Politik,  die  in  dem  Entfesseln  einer 
gewaltigen  internationalen  Hetze  gegen  sich  selbst  einen  unschätz- 
baren Vorteil  deshalb  erblickt,  weil  dadurch  Deutschland  vollkom- 
men der  Gefangene  des  innerlich  völlig  bankerotten  Österreich 
wurdel 

Das  „deutsche  Schwert"  hat  190S  und  1909  den  Weltfrieden  des- 
halb erhalten,  weil  Rußland  die  Demütigung,  die  damals  Serbien 
und  damit  ihm  selbst  zugefügt  wurde,  ruhig  hinnehmen  mußte. 
Denn  noch  blutete  es  aus  allen  Wunden,  nach  der  Niederlage  im 
Kriege  mit  Japan  und  nach  der  Revolution. 

Serbien  mußte  am  31,  März  1909  in  einer  demütigen  Note  ge- 
loben, daß  es  sich  bessern  und  auf  seine  Politik  des  Protestes 
gegen  die  Annexion  verzichten  werde. 

Aber  natürlich  gab  sich  Rußland  auf  dem  Balkan  nicht  end- 
gültig geschlagen.  Das  isolierte  Serbien  hatte  vor  Österreich  zu- 
rückweichen müssen.  Der  russischen  Staatskunst  gelang  es  jetzt, 
ein  Bündnis  zwischen  den  Regierungen  des  Balkan  zustande  zu 
bringen.  Eine  Föderation  der  Balkanvölker  in  einer  gemeinsamen 
Republik  war  seit  Jahren  die  Forderung  der  südslawischen  Sozia- 
listen, Sie  bot  die  beste  Möglichkeit,  den  Völkern  des  Balkan  die 
größte  Selbständigkeit  gegenüber  der  Türkei  und   Österreich,   wie 

2S 


auch  Rußland  zu  sidiern.  Der  russischen  Politik  war  an  der  Her- 
stellung eines  solchen  Gebildes  natürlich  nicht  das  mindeste  ge- 
legen. Im  Gegenteil.  Wie  so  oft,  verstand  sie  es  aber  auch  dies- 
mal, die  Kraft  für  sich  auszunutzen,  die  einer  in  der  Richtung 
der  notwendigen  Entwicklung  wirkenden  Idee  entspringt.  Sic 
schuf  einen  Bund  nicht  der  Balkan  v  ö  1  k  e  r  ,  wohl  aber  der 
Balkan  f  ü  r  s  t  e  n  ,  mit  dem  Ziele,  der  Herrschaft  der  Türken  in 
Europa  ein  Ende  zu  machen?. 

Im  Oktober  1912  kommt  es  zum  Krieg«  der  Verbündeten,  Ser- 
biens, Bulgariens,  Griechenlands,  Montenegros  gegen  die  Türkei. 
Diese  wird  leicht  geschlagen,  und  die  Mächte  Europas  finden  sich 
damit  ab,  daß  die  Sieger  die  Beute  unter  sich  teilen  unter  der 
Parole:  der  Balkan  den  Balkan  Völkern. 

So  scheint  trotz  des  südöstlichen  Wetterwinkels  der  Wcltfriede 
erhalten  zu  bleiben.  Da  tritt  vÄeder  Österreich  auf  den  Plan  und 
gefährdet  ihn,  indem  es  abermals  dem  verhaßten  Serbien  einen 
Fußtritt  versetzt,  es  zwingt,  auf  den  Zugang  zum  Adriatischen 
Meer  zu  verzichten,  den  es  sich  erstritten  hat. 

Diesmal  wird  es  ernsthafter  als  1908. 

Österreich  wie  Rußland  mobilisieren  im  Februar  1913,  Doch  die 
Mobilisierung  bedeutet  nur  die  Vorbereitung  zum  Kriege,  nicht  den 
Krieg  selbst.  England  vermittelt,  und  Rußland  gibt  abermals 
nach.  So  wird  die  Mobilisierung  wieder  zurückgenommen  im 
März.  Der  Friede  bleibt  erhalten.  Aber  auf  Kosten  Serbiens 
und  damit  seines  Protektors  Rußland.  Serbien  muß  auf  den  Zu- 
gang zur  Adria  verzichten. 

Auf  diese  Weise  ist  eine  neue  gefährliche  Spannung  geschaffen, 
Serbien  sucht  sich  schadlos  zu  halten  auf  Kosien  Bulgariens  in 
Mazedonien.  Es  findet  Bundesgenossen  in  Griechenland  und 
Rumänien.  Ihrem,  vereinten  Vorgehen  gelingt  es,  Bulgarien  nieder- 
zuwerfen und  zu  verkleinern. 

Doch  auch  diesmal  noch  bleibt  der  Weltfrietde  gewahrt.  Eurooa 
hütet  sich  zu  intervenieren.  So  kommt  es  am  10,  August  1913 
zum  Frieden  von  Bukarest.  Man  hofft,  daß  nun  der  Balkan  zur 
Ruhe  kommt  und  damit  der  Friede  der  Welt  für  langehin  ge- 
sichert sei  —  iust  ein  Jahr  vor  Beginn  des  Weltkrieges! 

Österreich  freilich  geSel  der  Bukarester  Friede  nicht.  Es  ver- 
langte von  Italien  die  Genehmigung  zu  einer  „vorbeugenden  Defen- 
siyaktion"  gegen  Serbien.  Italien  erstickte  die  Idee  im  Keime. 
Man  darf  mit  Fürst  Lichnowsky  annehmen,  daß  Marquis  San  Giu- 
liano,    der    den    Plan    eine    „pericolosissima    aveatura"    —    ein 

29 


höchst  gefährliches  Abenteuer  —  nannte,  uns  davor  bev/ahrt  hat, 
sc'ion  im  Sommer  1913  in  einen  Weltkrieg  verwickelt  zu  werben. 
Doch  auch  bei  der  deutschen  Regierung  land  Österreich  in  diesem 
Falle  keine  Gegenliebe,  Man  vergesse  nicht,  daß  in  Rumänien 
ein  Hohenzoller  herrschte,  Deutschlacbd  schützte  daher  zunächst 
den  Buiaresler  Vertrag,  Darauf  bezieht  sich  wohl  die  Bemerkung 
über  „die  Eingenommenheit  dieses  hohen  Herrn  (Wilhelm)  für 
Serbien"  in  der  dem  österreichischen  Kaiser  überreichten  Denk- 
schrift Tisxas  vom  i,  Juli  1914.  (österreichische^  Rotbuch  zur  Vor- 
jjesohichtc  des  Krieges,   1919.  I,  S,  18.) 

Doch  die  Rcgjerer  Österreichs  beruhigten  sich  nicht-  Sic  bohrten 
«nablässig  an  dem  durch  den  Bukarester  Frieden  geschaffenen  Zu- 
stand, und  es  gelang  ihnen  schließlich,  Deutschland  herumzukriegen. 

WäJirend  so  die  beiden  Verbündeten  eine  Politik  vorbereiteten, 
cUc  im  Weltkriege  enden  sollte,  verstanden  sie  es  aufs  trefflichste, 
ihm  dadurch  zu  präludieren,  daß  sie  sieh  nicht  nur  um  alle  Allian' 
zen  mit  den  Regierungen,  sondern  auch  um  alle  Sympathien  bei  den 
Völkern  brachten.  Österreich-Ungarn  bekämpfte  die  auf  größere 
Freibeii  geriditeten  Bestrebungen  in  Kroatien  und  Bosnien  nicht 
nur  mit  einem  Schreckensregltnent,  sondeni  auch  mit  Prozessen 
und  mit  einer  Propaganda,  die  so  skrupellos  und  dabei  so  unsag- 
bar dumm  geführt  wurde,  daß  sie  sich  nachweisen  lassen  mußte, 
namentlich  im  Prozeß  Fr ie^ jung  1909,  sie  arbeite  mit  Doku- 
mecicn,  die  gefälscht  waren,  und  ob-indrein  in  der  öster- 
reichischen Gesandtschaft  in  Beigrad  gefälscht,  miter 
der  Ägide  des  Gralen  Forgach,  der  1914  am  Ulimatiun  an  Serbien 
und  damit  an  der  Entfesselung  des  Weltkrieges  verhängnisvoll 
beteiligt  sein  sollte.  Aber  noch  schlimmer  waren  die  „moralischen 
Ero-beru'ngen",  die«  Deutschland  unrrättelbar  vor  dem  Kriege  in  der 
Welt  durch  die  Zaberner  Affäre  vom  November  1913 
machte,  die  deutlich  bewies,  daß  im  Deutschen  Reich  die  Zivil- 
bevölkerung dem  Militär  gegenüber  vogelfrei  ©ei  und  dieses  die 
Zivilregierung  völlig   beherrsche. 

Um  di«  Jahrhundertwende  hatte  wohl  die  Drcyfus-Affäre  ge<^ 
zeigt,  daß  der  Iranzösisohe  Militarismus  an  Bedenkenlosigkeit  und 
Anmaßung  auch  Hervorragendes  leistet.  Aber  diese  Affäre  hatte 
nach  hartem  Kampfe  mit  dem  Sieg  der  Zivilregierung  geendet,  indes 
in  Deutschland  die  Zaberner  Affäre  mit  der  Unterv/eriung  der 
Ziviibehörden  absdiloß. 

überdies  aber  hatte  diese  Affäre  den  Erfolg,  von  neuem  wieder 
die  Wunde  Elsaß-Lothringens  in  Frankreich  aufzureißen,  die  he- 

30 


gönnen  hatte  zu  vernarben.  So  f^ingen  Deutschland  und  Öster- 
reich dem  Weltkriege  entgegen,  beladen  mit  dem  Weltruf  der  Lüge, 
der  Fälschung,  der  Gewalttätigkeit,  der  Diktatur  des  Säbels,  der 
Rechtlosigkeit  der   annektier len   Provinzen. 

6.  Die  Lage  vor  dem  Kriege. 

Die  Verteidiger  des  alten  Regimes  meinen,  man  müsse  bei  der 
Untersuchung  der  Schuldfragc  nidit  bloß  die  letzten  V(/^ochen  vor 
dem  Kriege  heranziehen,  sondern  auch  die  Jahre  vorher  in  Betracht 
nehmen.  Wie  man  sieht,  wird  seine  Position  dadurch  keineswegs 
verbessert. 

Schon  jahrelang  vor  dem  Weltkrieg  war  die  Politik  der  Zcntral- 
mächtc  eine  solche,  daß  der  Weltfriedc  nicht  durch  sie,  sondern 
nur  noch  trotz  ihnen  erhalten  blieb.  Diese  Politik  nahm  zuerst 
bestimmte  Formen  unter  Leitung  Bülows  an,  sie  wurde  fortgesetzt 
von  Bethm.ann  HoUwe^,  unter  dem  sie  zur  Katastrophe  führte.  Es 
bleibe  ununtersucht,  inwieweit  diese  Männer  dabei  als  Triebkraft 
tätig  waren,  wieweit  als  bloße  ?landianger  Ihres  Herrn,  der  selbst 
wieder  von  seiner  Umgebung  geschoben  war,  so  sehr  er  sich  ein- 
bilden mochte,  die  ganze  ungeheure  Reichsmasse  zu  schieben. 

Dieser  bestimmte  Zusammenhang  wird  nicht  aufgehoben  durch 
einen  Hinweis  auf  die  allgemeinen  imperialistischen  Tendenzen  des 
Zeitalters,  die  sich  in  allen  Staaten  zeigten.  Andererseits  aber  darf 
man  diesen  bestimmten  Zusammenhang  nicht  zu  einer  Generalisa- 
tion  in  der  Art  erweitern,  als  gehöre  es  etwa  zu  den  Natureigen- 
Schäften  des  deutschen  Volkes,  nach  der  Weltherrschalt  zu  streben 
und  durch  brutale  Gev/alt  um  seine  Ziele  zu  ringen, 

Imperialistische  Tendenzen  finden  sich  bei  allen  kapitalistischen 
Regierungen  der  Großmächte.  Ob  sie  die  eine  oder  andere  dieser 
Regierungen  veranlassen,  einen  Krieg  zu  entzünden,  hängt  ab  von 
der  Gelegenheit,  der  internationalen  Lage,  den  Machtmitteln,  so- 
vrohl  den  eigenen  wie  denen  der  Bundesgenossen  und  nicht  zum 
v/enlgstcn  auch  von  der  Inneren  Lage,  vor  allem  der  politischen 
Kraft  und  Selbständigkeit  der  Arbeiterklasse, 

Nicht  immer  waren  es  Deutschland  und  Österreich,  die  den 
Weltfrieden  gefährdeten.  Im  Jahre  1902  veröffentlichte  ich  eine 
Schrift  über  „die  soziale  Revolution",     Dort  bemerkte  ich: 

„Die  einzige  Friedensbürgschafi  liegt  heute  in  der  Angst  vor  dem 
Tüvoliiiionären  Proletariat.  Es  bleibt  abzuv-arten,  wie  lange  diese 
den  sich  häufenden  KonfliktsuTsachen  i^egenüber  standhalten  wird. 

3t 


Und  e$  gibt  eine  P.Qtke  von  Mächten,  die  noch,  kein  selbständiges 
revolutionäres  Proletariat  zu  fürchten  haben,  und  manche  von  ihnen 
werden  völlig  von  einer  skrupellosen,  brutalen  Clique  von  Männern 
der  hohen  Finanz  beherrscht.  Diese  Mächte,  bisher  in  der  inter- 
nationalen Politik  unbedeutend  oder  friedliebend,  treten  jetzt  als 
internationale  Störenfriede  immer  mehr  hervor.  So  vor  allem  die 
Vereinigten  Staaten,  daneben  England  und  Japan. 
Rußland  figurierte  ehedem  in  der  Liste  der  internationalen 
Störenfriede  an  erster  Stelle,  sein  heldenmütiges  Proletariat  hat 
es  augenblicklich  von  ihr  abgesetzt.  Aber  ebenso  wie  der  Übermai 
eines  im  Innern  schrankenlosen  Regimes,  das  keine  revolutionäre 
Klasse  in  seinem  Rücken  scheut,  kann  auch  die  Verzweiflung  eines 
wankenden  Regimes  einen  Krieg  entzünden,  wie  es  1870  bei  Napo- 
leon III.  der  Fall  war  und  vielleicht  noch  bei  Nikolaus  II.  der 
Fall  sein  wird.  Von  diesen  Mächten  und  ihren  Gegensätzen 
und  nicht  etwa  von  dem  zwischen  Deutschland  und  Frankreich, 
zwischen  Österreich  und  Italien,  droht  heute  dem  Weltfrieden 
die  größte  Gefahr."  (I.  S.  53.) 

Das  wurde  geschrieben  unter  dem  Eindruck  des  Krieges  der 
Japaner  gegen  China  (1894),  der  Amerikaner  gegen  Spanien  {189S), 
der  Engländer  gegen  die  Buren  (1899—1902),  Und  der  Krieg 
rwischen  Rußland  und  Japan  bereitete  sich  bereits  vor.  Wohl 
v/ar  auch  die  neue  deutsche  Weltpolitik  schon  eingeleitet,  aber 
noch  zeigte  sie  nicht  ihre  Gefährlichkeit.  Doch  in  den  späteren 
Auflagen  meiner  Schrift  habe  ich  den  hier  zitierten  Passus  ge- 
strichen, denn  inzwischen  zeitigte  die  deutsche  Politik  ihre  Kon- 
sequenzen, und  in  dem  Maße,  als  diese  mehr  zutage  traten,  horten 
die  früheren  internationalen  Störenfriede  auf,  als  solche  zu  wirken 
und  traten  die  Zentralraächte  an  ihre  Stelle. 

Betrachtet  man  die  imperialistischen  Tendenzen  als  unmoralische 
und  glaubt  man,  daß  es  sich  bei  der  Entscheidung  der  Schuldfrage 
um  ein  moralisches  Urteil  handle,  dann  mag  man  mit  Recht  dar- 
auf hinweisen,  daß  Mönch  und  Rabbi,  Zentralmächie  und  Entente, 
beide  stinken.  Anders  steht  es,  wenn  man  die  Frage  der  Schuld 
am  Kriege  nicht  als  eine  der  Moralität,  sondern  der  Kausalität  auf- 
faßt und  fragt,  welche  bestimmte  Politik  diesen  bestimmten  Krieg 
hervorgerufen  hat.  Dann  wird  man  vielleicht  nicht  zu  einer  mora- 
lischen, sicher  aber  zu  einer  politischen  Verurteilung  bestimmter 
Personen  und  Institutionen  kommen.  Indes  auch  nur  dieser,  nicht 
etwa   des  gesamten   Volkes,  das  von  üinen  beherrscht  wurde  und 

32 


das  nach  ihrer  Beseitigung  naturgemäß  ganz  artdere  Tendenzen  ent- 
wickeln  muß. 

Der  deutsche  Professor  hat  das  deutsche  Volk  in  den  Zeiten 
seiner  größten  militärischen  Kraft  verhaßt,  in  den  Zeiten  seiner 
Niederlage  lächerlich  gemacht,  wenn  er  es  als  ein  Volk  idealer 
Helden  hoch  über  die  Engländer  stellte,  von  denen  er  verächtlich 
als  einem  Volke  schmutziger  Händler  sprach.  Aber  ebensowenig, 
Avie  die  Deutschen  mehr  Helden  sind,  als  ein  anderes  Volk,  sind 
sie  mehr  händelsüchtige  Raufbolde  als  ihre  Gegner  im  Weltkriege. 

Eines  ist  allerdings  zuzugeben: 

Zeigten  die  Gegner  Deutschlands  zeitweise  dieselben  imperia- 
listischen Tendenzen,  dieselbe  Neigung  zu  Krieg  und  Eroberung, 
M'aren  sie  Deutschland  also  moralisch  nicht  überlegen,  so  doch 
intellektuell,  trotz  des  deutschen  Professors. 

Sie  verstanden,  namentlich  die  Engländer  und  Amerikaner,  sehr 
gut  zu  rechnen.  Sie  trieben  im  Zeitalter  des  Imperialismus  eine 
aggressive  Kriegspolitik  mir  dort,  wo  sie  das  eigene  Land  nicht 
gefährdete,  Sie  waren  zu  kluige  Geschäftsleute,  um  einen  Krieg 
unter  Bcdingangen  heraufzubeschwören,  unter  denen  er  sie  ruinie- 
ren konnte,  Sie  waren  solide  Kapitalisten  und  niclit  Va-banqre- 
Spieler,  Und  darum  ist  es  falsch,  daß  das  Finanzkapital  not- 
wendigerweise kriegerische  Gelüste  und  Kriegsgefahren  mit  sich 
bringt.     Das  tut  es  nur  unter  ganz  bestimmten  Bedingungen. 

Einzig  das  deutsche  Finanzkapital  wuchs  in  einer  Weise  auf,  die 
es  aufs  engste  mit  dem  machtvollsten  und  siegessichersten  Milita- 
rismus der  Welt  verband.  Die  angelsächsischen  Staaten  kannten 
bis  zum  Weltkriege  überhaupt  keinen  Militarismus,  Frankreich 
und  Rußland  hatten  davon  mehr  als  genug,  aber  besonders  sieges- 
sicher fühlt  er  sich  gerade  nicht  nach  den  zerschmetternden  Nieder- 
lagen einmal  von  1870-71  und  dann  von  1904-05. 

Die  VerbindiuBg  mit  dem  stärksten  und  übermütigsten  Militaris- 
mus der  Welt  ließ  das  deutsche  Finanzkapital  alles  nüchterne 
Rechnen  vergessen.  Nur  so  wurde  es  möglich,  daß  es  eine  Politik 
nicht  nur  mitmachte,  sondern  sogar  mit  aller  Kraft  vorantrieb,  die 
Deutschland  völlig  isolierte  und  dabei  seine  Nachbarn  immer 
stärker  provozierte.  Es  verlor  jeden  Sinn  für  das  ökonomisch 
Mögliche  und  trieb  seinen  Don  Quixote,  den  Militarismus,  in  den 
Kampf  gegen  die  Windmühlen  der  Entente,  in  dem  nicht  nur  der 
kampffrohe  Ritterj  sondern  auch  sein  vertrauender  Sancho  Pansa 
auf  dera  Platze  bleiben  miißten,  zerschunden  und  zerschlagen. 

33 

3 


7.  Materialien  über  den  Ursprung  des  Krieges. 

Die  Verteidiger  der  deutschen  Kriegspolitik  hoben  stets  hervor, 
daß  die  „Schuldfrage"  nicht  blcß  nach  den  Vorgängen  beurteilt 
werden  dürfe,  die  dem  Kriege  unmittelbar  vorausgingen.  Eine 
„wissenschaftliche"  Auffassung  müsse  weiter  zurückgreifen. 

Wir  haben  gesehen,  daß  damit  für  die  deutsche  Sache  nichts 
gewonnen  wird.  Wohl  aber  deutet  dieses  Bemühen,  die  Forschung 
von  den  letzten  Wochen  vor  dem  Kriege  ab-  und  früheren  Zeit- 
punkten zuzulenken,  schon  darauf  hin,  daß  die  Ereignisse  dieser 
letzten  Wochen  noch  belastender  sind  als  ihre  Vorgänger, 

Doch  kommt  da  den  Anwälten  der  alten  deutschen  Regierung 
als  rettender  Gedanke  ein  neues  v/isssnschaftliches  Bedenken. 
Hieß  es  zuerst,  daß  der  wahre  Wissenschafter  die  Dinge  nur  in 
ihren  großen  Zusammenhängen,  nicht  in  kleinen  Ausschnitten  zu 
betrachten  habe,  so  heißt  es  jetzt:  jedes  einseitige  Zeugnis  ist  von 
Übel.  Solange  nicht  alle  Geheimarchive  aller  Nationen  geöffnet 
sind  und  alle  beteiligten  Staatsmänner  als  Zeugen  vernommen 
wurden,  ist  es  überhaupt  nicht  möglich,  über  die  Entstehung  des 
Krieges   eine  Meinung   zu   haben. 

Doch  diejenigen,  die  derartige  Bedenken  vorbringen,  bezeugen 
deren  Nichtigkeit  durch  ihre  eigene  Praxis,  denn  sie  haben  gleich 
nach  Ausbruch  des  Krieges  schon  sich  um  den  Bev.^eis  bemüht,  daß 
die  Zentralmächte  von  der  Entente  angegriffen,  ja  überfallen 
wurden. 

In  einem  hatten  sie  dabei  unleugbar  recht:  die  Welt  kann  einem 
Kriege  gegenüber  nicht  v.'arten,  bis  alles  erdenkliche  Beweismaterial 
über  seine  Entstehung  vorliegt.  Jeder  Politiker  muß  einem  Kriege 
gegenüber  Stellung  nehmen  nach  dem  Material,  das  ihm  zugänglich 
ist.  Er  muß  trachten,  daß  es  so  umfassend  sei  als  möglich  — 
lückenlos  wird  es  nie  sein.  Nicht  für  den  Politiker  der  Gegenwart 
und  ebensowenig  für  den  Historiker  einer  späteren  Zeit.  Diesem 
mögen  manche  geheimen  Archive  zugänglich  sein,  die  augenblick- 
lich noch  verschlossen  sind,  dafür  sind  ihm  viele  Zeugnisse  ver- 
loren gegangen,  die  von  den  Zeitgenossen  abgegeben  werden  konn- 
ten, und  die  von  ihnen  nicht  schriftlich  fixiert  v/urden. 

Kann  man  nicht  alles  wissen,  ist  jedes  Wissen  nur  Stückv.^erk. 
so  wäre  es  doch  ein  Unsinn,  deswegen  der  Menschheit  das  vor- 
zuenthalten, was  man  weiß.  Ja,  der  Unsinn  kann  einer  jener  poli- 
tischen Fehler  werden,  die  schlimmer  sind  als  ein  Verbrechen,  v/enn 
die  Vorenthaltung  dis  Materials  dazu  dienen  soll,  ein  der  Nation 


lind  der  Menschheit  gefährliches  System  zu  decken,  die  Klar- 
legung seines  Wirkeas  zu  verhindern. 

An  Material  über  den  Ursprung  des  Weltkrieges  fehlt  es  ja  nicht. 
Gleich  bei  seinem  Beginn  wurden  wir  von  offiziellen  Weiß-,  Rot-, 
Gelb-,  Blau-  und  anderen  Farb-Büchern  überschwemmt,  und  bald 
setzte  auch  deren  kritische  Behandlung  ein.  Bereits  im  Frühjahr 
1915  erschien  Grellings  „J'accuse",  das  er  später  durch  sein 
dreibändiges  Werk  „Das  Verbrechen"  fortsetzte.  Mit  großem 
Scharfsinn  gelang  es  ihm  bereits,  in  sehr  wesentlichen  Punkten 
auf  die  richtige  Spur  zu  kommen. 

Besonders  wichtig  wurde  dann  die  Denkschrift  des  Fürsten  Lich- 
nowsky  vom  Augyst  1916,  die  nicht  für  die  Öffentlichkeit  bestimmt 
war,  aber  in  pazifistische  Hände  geriet,  die  ihr  bald  eine  weite 
unterirdische  Verbreitung  gaben.  Daneben  kamen  in  Betracht  die 
Publikationen  des  Herrn  Mühion, 

Wer  danach  noch  nicht  klar  sah,  dem  mußte  der  Star  gestochen 
werden  nach  der  Novemberrevolution  durch  Eisners  Veröffent- 
lichung des  Berichts  aus  der  bayerischen  Gesandtschaft  in  Berlin 
vom  18,  Juli  1914,  Leider  beging  Eisner  bei  dieser  Publikation 
die  Unvorsichtigkeit,  sie  melir  als  Journalist  zu  behandeln,  dem 
es  auf  die  Wirkung  ankommt,  denn  als  Historiker,  dem  es  um  die 
VoUstämdigkeit  und  Unversehrtheit  seiner  Quelle  zu  tun  ist.  Er 
brachte  den  Bericht  nur  im  Auszfuge  und  ließ  Stellen  weg,  aus 
denen  man  die  Friedensliebe  der  deutschen  Regierung  herauslesen 
wollte. 

Wir  werden  noch  sehen,  wie  die  Friedensliebe  zu  bewerten  ist, 
die  in  den  weggelassenen  Stellen  zum  Ausdruck  gebracht  sein  soll. 

Neues  Material  wurde  dann  beigebracht  durch  österredchische 
und  deutsche  Publikationen  der  auswärtigen  Ämter,  Rot-  und  Weiß- 
Bücher,  Das  oben  schon  zitierte  österreichische  Rotbuch  „Diplo- 
matische Aktenstüclce  zur  Vorgeschichte  des  Krieges  1914",  (Wien 
1919)  im  folgenden  kurz  als  Rotbuch  1919  zitiert,  bietet  äußerst 
wichtige  Aufschlüsse  über  die  Frage  der  Urheberschaft  am  Kriege. 
Sehr  kritisch  muß  dagegen  die  Verarbeitung  dieses  Materials  durch 
Dr.  Roderich  Gooß  gelesen  werden,  die  gleichzeitig  mit  dem  ersten 
Bande  des  erwähnten  Rotbuches  vmter  dem  Titel:  „Das  Wiener 
Kabinett  und  die  Entstehung  des  Weltkrieges"  in  Wien  erschien. 
Da  ihm  die  deutschen  Akten  nicht  bekannt  waren,  ist  der  Verfasser 
des  österreichischen  Kommentars  stellenweise  zu  sehr  anfecht- 
baren, ja  direkt  vmrichligen  Auffassungen  gekommen. 

Vor  dem  österreichischen  Roibuch  erschien  im  Juni  ein  deutsches 

35 


Wtißbucli,  bejil'V.mf,  c-A  die  sie^reUion  Kationen  v/ä;>i2nd  der 
Friedensverhandlungen  zugunsten  Deutschlands  Eindruck  zu 
machen.  In  Wirkliclikeit  hat  es  nur  dazu  beigetragen,  die  deutsche 
Auslandspolitik  von  neuem  zu  kompromittieren.  Aus  welchen 
Gründen,  vk^erden  wir  noch  sehen. 

Seitdem  ist  noch  ein  anderes  Werk  erschienen,  das  für  die  fol- 
gende Darstellung  die  Hauptquelle  bildet,  die  unter  meiner  Leitung 
zustande  gekommene  Sammlung  der  Akten  über  die  Urheberschaft 
am  Kriege. 

Was  sonst  noch  an  Material  erschienen  ist,  wirkt  in  Einzelheiten 
ergänzend,   ändert   jedoch  nichts  am  Gesamteindruck, 

Wie  gestalteten  sich  danach  die  Dinge? 


8.  Serajewo. 


Wir  haben  unsere  Darstellung  im  5,  Kapitel  bis  zum  Bukarester 
Vertrag  geführt  imd  gesehen,  daß  Wien  nach  diesem  Frieden  ent- 
schlossen war,  seine  Revision  bei  der  ersten  günstigen  Gelegenheit 
mit  Hilfe  Deutschlands  durchzuführen. 

Die  Zentralmächte  zeigten  damals  stete  Unruhe  und  großen 
Tatendrang.  Deutschland  setzte  es  bei  der  Türkei  durch,  daß  ein 
deutscher  General,  Liman  v.  Sanders,  im  Dezember  1913  an  der 
Spitze  einer  deutschen  Militärmission  nach  Konstantinopel  kam 
und  dort  das  Oberkommando  des  ersten  Armeekorps  übernahm. 
Rußland  protestierte  heftig,  erreichte  aber  niu",  daß  Limans  Titel 
in  den  eines  Generalinspektors  der  türkischen  Armee  (mit  dem 
Grade  eines  Marschalls)   geändert  wurde. 

Kurz  darauf,  März  1914,  hatten  die  Zentralmächte  die  Ge- 
nugtuung, einen  der  ihrigen,  den  Fürsten  von  Wied,  auf  den 
Thron  des  neugeschaffenen  Königreiches  Albanien  zu  bringen, 
allerdings  ein  Erfolg  sehr  zweifelhafter  Art,  da  der  deutsche 
Landesvater  schon  im  Mai  vor  seinen  heftig  drängenden  Landes- 
kindern ausriß  und  sich  und  seine  Schutzherren  vor  ganz  Europa 
lächerlich  machte. 

Gleichzeitig  häuften  sich  die  Zusammenkünfte  Kaiser  Wilhelms 
mit  dem  Thronfolger  Franz  Ferdinand,  Im  April  trafen  sie  sich 
in  Miramare,  am  12,  Juni  wieder  in  Konopischt  in  Böhmen. 

„Die  Neugier  des  Publikums  und  das  Interesse  der  Diplomaten 
wurden  erregt  durch  diese  Bekundungen  einer  Freundschaft,  die 
zu  lebhaft  ivar,  um  nicht  zu  beunruhigen.  Während  des  AusHuge^ 
nach  Konopischt  hatte  der  deutsche  Gesandte  in  London  den  Auf- 

36 


/joje;.  das  dortige  Auswärtige  Amt  über  die  Anwesßnhc't  des  Adini- 
rals  von  Tirpitz  im  Celolge  des  Kaisers  zu  beruhigen.  Wer  sich 
entschuldigt,  klagt  sich  an.  Der  Admiral  hatte  offenbar  die  Luft- 
veränderung nur  vorgenommen,  um  den  Duft  der  Rosen  in  Böhmen 
einzuatmen." 

So  höhnt  über  die  Harmlosigkeit  jener  Zusammenkunft  ein  bel- 
gischer Diplomat,  Baron  Beyens  in  seinem  Buche:  „L'Allemagne 
avant  la  guerre,  les  causes  et  les  responsabilites".  (Paris  1915, 
S-  265,)  Beyens  war  bei  Kriegsbeginn  belgischer  Gesandter  in 
Berlin  und  schrieb  von  dort  Berichte,  die  Deutschland  so  sympa- 
ihisch  waren,  daß  die  deutsche  Regierung,  die  sie  nach  dem  Ein- 
marsch in  Brüssel  vorfand,  eine  Reihe  von  ihnen  veröffentlichte  in 
dem  Band  „Belgische  Aktenstücke  1905 — 1914,"  Indes  änderte 
Beyens  seine  günstige  Meinung  von  der  deutschen  Politik  voll- 
ständig nach  dem  österreichischen  Ultimatum,  Die  Berichte,  die 
er  von  da  an  schrieb,  hat  das  Berliner  Auswärtige  Amt  nicht  ver- 
öffentlicht. Man  findet  sie  in  der  „Correspondance  diplomatique 
relative  ä  la  guerre  de  1914-15,     Paris  1915," 

Trotz  Beyens  erzählt  noch  Herr  v.  Jagow  in  seinem  Buche  über 
„Ursachen  un'd  Ausbruch  des  Weltkrieges"   (Berlin,  1919,  S,  101): 

„Der  Thronfolger  wünschte  seinem  kaiserlichen  Freunde  die 
Rosenblüte  auf  der  von  ihm  besonders  geliebten  böhmischen 
Besitzung  zu  zeigen." 

Was  in  Konopischt  ausgeheckt  wurde,  darüber  könnte  nur 
Wilhelm  selbst  authentische  Auskunft  geben.  Daß  die  Zusammen- 
kunft nicht  bloß  dem  Rosenduft  galt,  bezeugt  ein  Bericht,  den 
Tschirschky,  der  deutsche  Botschafter  in  Wien,  am  17,  Juni  1914 
an  den  Reichskanzler  sandte.  Dieser  Bericht  beginnt  mit  folgender 
Mitteilung; 

„Graf  Berchtold  war  nach  der  Abreise  S.  M.  des  Kaisers  von 
S.  Hoheit  dem  Erzherzog  Franz  Ferdinand  nach  Konopiscfit  ge- 
laden worden.  Der  Minister  erzählte  mir  heute,  S.  K.  u.  K. 
Hoheit  habe  sich  ihm  gegenüber  in  höchstem  Maße  befriedigt  über 
den  Besuch  S.  M.  ausgesprocfien.  Er  habe  über  alle  möglichen 
Fragen  eingehend  mit  S.  M.  gesprochen  und  durchweg  völlige 
Übereinstimmung  der  Ansichten  konstatieren  können." 

Leider  teilt  der  Bericht  nicht  mit,  welche  Ansichten  das  v.^ren. 
Aus  dem  Folgenden  erfahren  wir  nur,  daß  viel  von  der  Politik 
die  Rede  war,  die  gegenüber  den  Rumänen  zu  befolgen  sei.  Franz 
Ferdinand   sei  mit  Tiszas  Rumänenpolitik  nicht  einverstanden,  da 

37 


Tisza  größere  Konzessionen  an  die  Rumänen  im  ungarischen 
Staate  ablehne,  wozu  V7ilhehn  in  einer  Randnole  bemerkt: 

„Er  darf  durch  seine  innere  Politik,  die  bei  der  Rumänen- 
frage auf  die  äußere  des  Dreibundes  Einfluß  fiat,  die 
letztere  nicht  in  Frage  stellen." 

Sicher  machte  die  ungarische  Rumänenpolitik  es  der  rumänischen 
Regierung  unmöglich,  sich  von  Serbien  und  Rußland  loszusagen, 
damit  sie  im  Fahrwasser  Österreichs  gegen  diese  Staaten  Front 
mache. 

Unmittelbar  nach  der  Zusammenkunft  von  Konopischt  machte 
sich  das  Ministerium  des  Auswärtigen  in  Wien  daran,  eine  Denk- 
schrift ausziiarbeiten,  die  zeigen  sollte,  daß  der  gegenwärtige  Zu- 
stand auf  dem  Balkan  unerträgliph  und  Österreich  gezwungen  sei, 
Rußland  entgegenzutreten,  das  einen  Balkanbund  gegen  die  habs- 
burgische   Monarchie   plane- 

Zu  diesem  Zwecke  suche  es  Rumänien  zu  gewinnen.  Dessen 
Verhältnis  zu  Österreich  habe  sich  sehr  verschlechtert. 

„Die  Monarchie  hat  sich  bisher  darauf  beschränkt,  die  Schwen- 
kung der  rumänischen  Politik  in  Bukarest  in  freundschaftlicher 
Weise  zur  Sprache  zu  bringen,  sich  im  übrigen  aber  nicht  veran- 
laßt gesehen,  ans  dieser  immer  deutlicheren  Kursänderung  Rumä- 
niens ernste  Konsequenzen  zu  ziehen.  Das  Wiener  Kabinett  hat 
sich  Jtierzu  in  erster  Linie  dadurch  bestimmen  lassen,  daß  die 
deutsche  Regierung  die  Auffassung  vertrat,  es  handle  sich  um  vor- 
übergehende Schwankungen,  Folgeerscheinungen  gewisser  Mißver- 
ständnisse aus  der  Zeit  der  Krise,  dis  sich  automatisch  zurück- 
bilden würden,  wenn  man  ihnen  gegenüber  Ruhe  und  Geduld  be- 
wahrt. Es  hat  sich  aber  gezeigt,  daß  diese  Taktik  ruhigen  Ab  - 
Wartens  und  freundschaftlicher  Vorstellungen 
nicht  die  gewünschte  Wirkung  hatte,  daß  sich  der  Prozeß  der 
Entfremdung  zwischen  Österreich-Ungarn  und  Rumänien  nicht 
zurückgebildet,  sondern  im  Gegenteil  beschleunigt  hat." 

Auch  ,,für  die  Zukunft"  erwartet  die  Denkschrift  keine  , .Wen- 
dung im  günstigen  Sinne." 

Wie  in  dem  Bericht  über  Konopischt  sfcht  auch  in  dem  Pro- 
memoria  die  rumänische  Frage  im  Vordergrunde.  Die  serbische 
wird  kaum  berührt.  Nicht  etwa  deswegen,  weil  die  Feindseligkeit 
Österreichs  gegen  Serbien  geringer  wäre,  sondern  sicher  deshalb, 
weil  sie  auf  kein  Hindernis  in  Berlin  stößt,  während  die  deutsche 
Regierung  auf  ein  gütliciiss  Einvernehmen  mit  Rumänien  hindrängt. 
Österreich    dagegen    will    Serbien    und    Rumänien    gegenüber    die 

38 


Taktik  des  „ruhigen  Abwartens  und  freundschaftlicher  Vor- 
stellungen"   aufgeben,    ebenso    aber    auch    Rußland    gegenüber. 

Dieser  Staat,  führt  die  Denkschrift  aus,  bedeute  eine  Gefahr 
nicht  bloß  für  die  österreichische  Monarchie,  sondern  auch  für 
Deutschland,  Rußland  und  sein  Verbündeter  Frankreich  strebten 
danach,  ,,die  militärische  Superiorität  der  beiden  Kaisermächte 
durch  Hilfstruppen  vom  Balkan  her  zu  brechen"  und  seine  Aus- 
dehnungspolitik im  Gegensatz  zu  den  deutschen  Interessen  durch- 
zusetzen. 

„Aus  diesen  Gründen  ist  die  Leitung  der  auswärtigen  Politik 
Österreich-Ungarns  auch  davon  überzeugt,  daß  es  ein  gemein- 
sames Interesse  der  Monarchie  und  nicht  minder  Deutschlands 
ist,  im  jetzigen  Stadium  der  Balkankrise  rechtzeitig  und 
energisch  einer  von  Rußland  planmäßig  angestrebten  und 
geförderten  Entwicklung  entgegenzutreten,  die  später  vielleicht 
nicht  mehr  rückgängig  zu  machen  wäre."  (Abgedruckt  in  dem 
Weißbuch  betr.  die  Verantwortlichkeit  der  Urheber  des  Krieges, 
vom  Juni  1919,  S.  68.) 

Dieses  Memorandum  ist  kaum  anders  aufzufassen,  als  daß  es  in 
der  Sprache  der  Diplomatie  den  Präventivkrieg  gegen  das 
Zarenreich  fordert. 

Das  gefährliche  Dokument  war  eben  fertig,  als  die  Katastrophe 
von  Serajev/o  eintrat. 

Von  Konopischt  hatte  sich  der  Thronfolger  zu  den  Manövern 
nach  Bosnien  begeben.  Ausgerechnet  auf  diesem  kürzlich  erst  für 
annektiert  erklärten  heißen  Beiden  mußten  damals  Manöver 
im  Beisein  Franz  Ferdinands  abgehalten  werden  und  an  sie  an- 
schließend mußte  er  einzn  triumphierenden  Einzug,  gleich  einem 
Eroberer,  in  die  Hauptstadt  des  Landes  halten.  Als  wollte  man 
das  nationale  Empfinden  besonders  stark  herausfordern,  hatte  man 
den  28,  Juni  zum  Tage  des  Einzugs  in  Serajewo  gewählt,  den 
„Widow  dan",  den  St.  Veitstag,  einen  nationalen  Trauertag  für  die 
Serben.  An  diesem  Tage  hatten  sie  im  Jahre  1389  auf  dem  Amsel- 
felde im  Kampfe  gegen  die  sie  unterjochenden  Türken  eine  furcht- 
bare und  entscheidende  Niederlage  erlitten,  deren  Andenken  bis 
heute  in  den  Volksliedern  fortlebt.  Gerade  an  diesem  Tage  mußte 
der   fremde   Herrscher  von  Norden  einziehen. 

Und  echt  altösterreichisch  gesellte  man  zur  Provokation  noch 
gedankenlosen  Leichtsinn, 

Wenn  man  in  einem  Lande,  in  dem  die  Herrenklasse  furchtbar- 
sten Terrorismus  übte  und  dadurch  eine  Atmospihäre  von  Atten- 

39 


taten   schuf,   schon   den   Thronfolger   paradieren   ließ,   mußte  man 
wenigstens  Sorge  tragen,  ihn  zu  schützen, 

A.ber  nicht  das  mindeste  war  vorgesorgt.  So  groß  war  die  Kopf- 
losigkeit und  Leichtfertigkeit,  daß  raan  nach  dem  ersten  Attentat, 
das  mißlang,  den  Thronfolger  mit  seiner  Frau  nochmals  durch  die 
Straßen  fahren  ließ,  lun  sie  zu  bequemen  Zielscheiben  für  einen 
zweiten  Anschlag  zu  machen. 

In  einer  Depesche  vom  3.  Juli  erhob  der  gemeinsame  Finanz- 
minister  und  oberste  Verwalter  Bosniens  Dr,  v,  Bilinski  schwere 
Anklagen  gegen  die  Leichtfertigkeit  der  leitenden  Kreise  in  Bos- 
nien und  namentlich  der  Militärs: 

„Auch  dia  sonstigen  Gebiete  der  Verwaltung  (außer  der  Justiz) 
hätten  Blößen  aufgedeckt,  deren  Kenntnis  wohl  von  vornherein 
gegen  eine  Reise  Erzherzog  Franz  Ferdinands  hätte  sprechen 
müssen.  Es  sei  ja  dem  Landeschef  (Feldzeugmeister  Potiorek) 
am  besten  bekannt,  daß  das  Zustandekommen  und  die  Durch- 
führung der  Reise  ausschließlich  vom  militärischen 
Gesichtspunkte  zivischen  dem  Erzherzog  und  ausschließlich  dem 
Landeschef  ins   Werk  gesetzt  wurde  .  .  . 

„Am  allerwenigsten  liätte  Dr.  v.  Bilinski  annehmen  können, 
daß  dem  militärischen  Prograw.m  ein  nicht  militärischer  Besuch 
Sercjewos  eingefügt  werden  sollte:  Hätte  Dr.  v.  Bilinski  aus  den 
Berichten  des  Landeschefs  Kenntnis  davon  gehabt,  daß  die  Polizei- 
verwaltung  ihrer  Aufgabe  durchaus  nicht  gewachsen  sei,  so  wäre 
es  offenbar  ihrer  beider  Pflicht  gewesen,  die  Reise  unter 
allen  Umständen  zu  hintertreibe  n."  (GooS,  Wiener 
Kabinett  S.  46,  47.) 

Bald  darauf,  am  13,  Juli,  telegraphierte  der  Sektionsrat  von 
Wiesner,  der  nach  Serajev/o  abgesandt  war,  um  Einsicht  in  die 
Untersuchungsakten  des  Prozesses  gegen  die  Attentäter  zu  nehmen; 

„Mitwisserschaft  serbischer  Regierung  an  der  Leitung  des  Atten- 
tates oder  dessen  Vorbereitung  und  Beistellung  der  Waffen  durcfi 
nichts  erwiesen  oder  auch  nur  zu  vermuten.  Es  bestehen 
vielmehr  Anhaltspunkte,  dies  als  ausge- 
schlossen anzusehe  n." 

Also  nicht  bei  der  serbischen  Regierung  hatte  man  die  Schuldi- 
gen an  der  blutigen  Tat  zu  suchen,  wohl  aber  v/aren  für  sie  ver- 
antwortlich die  Unwissenheit,  der  Leichtsinn,  die  frechen  Provo- 
kationsmethoden des  österreichischen  Gewaltregiments, 

40 


Die  Faktoren,  die  das  Altentat  auf  den  Thronfolger  herauf- 
beschworen, waren  dieselben,  die  ihm  folgend  das  weit  furchtbarere 
Attentat  auf  den  Weltfrieden  direkt  begingen. 

Zwölf  Troer  schlachtete  Achilles  bei  der  Leichenfeier  seines 
Freundes  Patroklus.  Zur  Leichenfeier  Franz  Ferdinands  wurden 
vier  Jahre  lang  viele  Millionen  Menschen  aus  allen  fünf  Weltteilen 
geschlachtet. 

Für  die  Regenten  Österreichs  hätte  die  Tötung  des  aktivsten 
Trägers  des  bestehenden  Regimes  ein  warnendes  Menetekel  sein 
müssen,  das  zur  Umkehr  drängte.  Es  zeigte  deutlich,  welche 
Früchte  die  Gewaltpolitik  trug  und  mahnte  auf  das  eindringlichste, 
diese  Politik  durch  eine  der  Freiheit  und  der  Versöhnung  zu  er- 
setzen als  die  einzige,  die  dem  in  allen  Fugen  krachenden  Staats- 
wesen noch   einige   Lebensfähigkeit   geben   konnte. 

Aber  wann  hätte  je  ein  Gewaltregiment  ein  derartiges  Mene- 
tekel beachtet!  Es  fühlte  sich  vielmeihr  getrieben,  den  Terrorismus 
zu  verstärken  und  der  Gewalt  gegenüber  seinen  kroatischen  und 
bosnischen  Untertanen  auch  noch  Gewalt  gegen  das  benachbarte 
serbische  Staatswesen  hinzuzugesellen,  dem  man  nun  vollends  den 
Garaus  zu  machen  beschloß.  Ehe  noch  Wiesners  Bericht  über  die 
Urheberschaft  am  Attentat  angelangt  war,  hatten  die  Wiener  Macht- 
haber bereits  die  Überzeugung  formuliert,  die  serbische  Regierung 
sei  für  die  Tat  verantwortlich  zu  machen  nach  dem  Prinzip:  Tut 
nichts,  der  Jude  wirid  verbrannt, 

9.  Wilhelms  monarchisches  Bewu&tsein. 

Hatte  in  der  Denkschrift,  die  noch  vor  dem  Attentat  fertiggestellt 
worden  war,  Rumänien  die  Hauptsorge  für  Österreich  gebildet,  so 
trat  jetzt  wieder  Serbien  in  die  erste  Linie,  Der  Text,  der  von 
Serbien  nur  nebenher  gesprochen,  bekam  jetzt  ein  Postskriptum, 
in  dem  es  hieß; 

„Die  vorliegende  Denkschrift  war  eben  fertiggestellt,  als  die 
furchtbaren  Ereignisse   von  Serajewo   eintraten. 

Die  ganze  Tragweite  der  ruchlosen  Mordtat  läßt  sich  heute  kaum 
überblicken.  Jedenfalls  ist  aber,  wenn  es  dessen  noch  bedurft 
hätte,  hierdurch  der  unzweifelhafte  Beweis  für  die  Unüberbrück- 
barkeit des  Gegensatzes  zwischen  der  Monarchie  und  Serbien,  so- 
wie für  die  Gefährlichkeit  und  Intensität  der  vor  nichts  zurück- 
schreckenden  großserbischen   Bewegung    erbracht   worden  .  .  . 

41 


Um  so  gebieterischer  tritt  on  die  Monarchie  die  Notwendigkeit 
heran,  mit  entschlossener  Hand  die  Fäden  zu  zerreißen,  die  ihre 
Gegner  zu  einem  Netze  über  ihrem  Haupte  verdichten  wollen." 

Mit  anderen  Worten:  Österreich  oder  vielmehr  Graf  Berchtold 
und  seine  Leute  waren  entschlossen  zum  Kriege  gegen  Serbien 
und,  wenn  es  sein  mußte,  gegen  Rußland. 

Wie  stellte  sich  dazu  die  deutsche  Regierung?  Das  ist  bisher 
nicht  ganz  klar  gewesen.  Ließ  sie  sich  von  Österreich  mitschleppen, 
ohne  recht  zu  wissen,  was  sie  beging,  oder  tat  sie  freudig, 
energisch,  vollbewußt  mit? 

Ihre  Stellung  zur  österreichischen  Balkanpolitik  wurde  durch 
das  Attentat  ^on  Serajewo  wesentlich  verändert. 

Als  Rumänien  im  Bund  mit  Serbien  in  den  zweiten  Balkankrieg 
1913  eintrat,  fand  der  Hohenzoller  Carol  die  Rückendeckung  des 
HohenzoUern  Wilhelm  gegen  den  Habsburger,  In  jenem  Stadiiun 
mahnte  Berlin  Wien  zur  Zurückhaltung, 

Noch  am  2.  Juli  1914  äußerte  Berchtold  zu  Tschirschky: 

„Deutschland  habe  damals,  als  Rumänien,  ohne  uns  zu  hagsn, 
und  gegen  unser  ihm  wohl  bekanntes  Interesse  gemeinsam  mit  Ser- 
bien über  das  wehrlose  Bulgarien  hergefallen  sei,  Rumänien  ge- 
deckt und  uns  zu  verstehen  gegeben,  daß  wir  uns  ruhig  verhalten 
'tollen."     (Rotbuch  1919,  I.  19.) 

Nach  Serajewo  galt  der  Zorn  Österreichs  nicht  mehr  Rumänien 
und  Serbien  vereint,  er  konzentrierte  sich  ganz  auf  letzteres.  Und 
die  serbische  Regierung,  obwohl  eine  monarchische,  galt  in  Wil- 
helms Augen  nun  als  die  Förderin  und  Urheberin  von  Monarchen- 
morden. Sein  dynastisches  Bewußtsein,  das  Österreich  Rumänien 
gegenüber  zurückgehalten  hatte,  wurde  den  Serben  gegenüber  jetzt 
zu  einer  geradezu  vorwärts  drängenden  Triebkraft,  Nicht  nur  mon- 
archische Prinzipien,  sondern  auch  persönliche  Furcht  waren  da- 
bei beteiligt.  Ließ  er  doch  am  2.  Juli  den  geplanten  Kondolenz- 
besuch in  Wien  absagen,  weil  Winke  aus  Serajewo  ihn  befürchten 
ließen,  in  der  österreichischen  Kaiserstadt  harre  seiner  eine  Rotte 
serbischer  Mordbuben. 

Ohne  jede  Überlegung  war  er  sofort,  nachdem  er  vom  Attentat 
erfahren,  derselben  Meinung,  die  Franz  Joseph  damals  in  seinem 
Handschreiben  an  Wilhelm  ausdrückt,  das  dieser  am  5.  Juli 
erhielt.     Es  verkündete  bereits: 

„Das  Bestreben  meiner  kegieruryg  muß  in  Zukunft  auf  die  Iso- 
lierung    und     Verkleinerung     Serbiens    gerichtet    sein." 

42 


Unid  es  schloß  mit  den  Woil-n; 

.Auch  Du  wirst  nach  dem  jüngsten,  furchtbarsten  Geschehnisse  m 
Bosnien  die  Überzeugung  haben,  daß  an  eine  Versöhnung  des 
Gegensatzes,  welcher  Serbien  von  uns  trennt,  nicht  mehr  zu  denken 
ist,  und  daß  die  erhaltende  Friedenspolitik  aller  europäischen 
Monarchen  bedroht  sein  wird,  s  olange  dieser  Herd  von 
verbrecherischer  Agitation  in  Belgrad  unge- 
straft fortleb  t." 

Ehe  noch  dieses  Handschreiben  nach  Potsdam  gelangt  war,  hatte 
sich  Wilhelm  ohne  Rücksicht  auf  die  Konsequenzen  bereits  ent- 
schieden, daß  Serbien  niederzuwerfen  sei.  Sein  monarchisches  Be- 
wußtsein war  durch  die  Schüsse  von  Serafewo  zu  tobendem  Drang 
nach  Blutrache  an  dem  Mördervolk  entzündet,  Fürst  Lichnowsky 
war  in  den  Tagen  nach  dem  Attentat  in  Berlin.  Er  berichtet  über 
eine  Unterredung  mit  Zimmermann,  der  damals  den  abwesenden 
Jagow  vertrat: 

„Aus  seinen  Worten  ging  eine  unverkennbare  Mißstimmung  gegen 
Rußland  hervor,  das  uns  überall  im  Wege  sei  .  .  .  Daß  General 
v.  Moltke  zum  Kriege  drängte,  wurde  mir  natürlich  nicht  gesagt. 
Ich  erfuhr  aber,  daß  Herr  v.  Tschirschky  einen  Verweis  erhalten, 
weil  er  berichtete,  er  habe  in  Wien  Serbien  gegenüber  zur  Mäßi- 
gung geraten."  (Meine  Londoner  Mission,  S.  27.) 

Lichnowskys  Mitteilungen  finden  ihre  Bestätigung  in  den  Akten 
des  Berliner  Auswärtigen  Amtes.  Wir  geben  einen  Bericht  wieder, 
den  Tschirschky  am  30.  Juni  an  den  Reichskanzler  richtete.  Er 
bekommt  Wichtigkeit  durch  die  Randglossen  des  Kaisers,  die  wir 
in  Klammern,   mit  einem  W.   gezeichnet,   anführen; 

„Graf  Berchtold  sagte  mir  heute,  alles  deute  darauf  hin,  daß  die 
Fäden  der  Verschwörung,  der  der  Erzherzog  zum  Opfer  gefallen 
sei,  in  Belgrad  zusammenliefen.  Die  Sache  sei  so  wohl  durch- 
dacht worden,  daß  man  absichtlich  ganz  jugendliche  Leute  zur 
Ausführung  des  Verbrechens  ausgesucht  habe,  gegen  die  nur  mil- 
dere Strafen  verhängt  werden  können  (hoffentlich  nicht! 
W.)  Der  Minister  sprach  sich  sehr  bitter  über  die  serbischen  An- 
zettelungen aus. 

„Hier  höre  ich,  auch  bei  ernsten  Leuten,  vielfach  den  Wunsch,  es 
müsse  einmal  gründlich  mit  den  Serben  abgerechnet  werden. 
(Jetzt  oder  nie.  W.)  Man  müsse  den  Serben  zunächst  eine 
Reihe  von  Forderungen  stellen  und,  falls  sie  diese  nicht  akzeptier- 
ten, energisch  vorgehen.  Ich  benutze  jeden  solchen  Anlaß,  um 
ruhig,  aber  sehr  nachdrücklich  und  ernst  vor  übereilten  Schritten  zu 

43 


warnen.  (\V  e  r  fi  a  t  i  h  n  d  a  z  ii  e  r  in  ä  c  h  t  i  g  t  ?  Dasistsehr 
dumm !  geht  ihn  gar  nichts  an,  da  es  ledig- 
lich Österreichs  Sache  ist,  was  es  hierauf  zu 
tun  gedenkt.  Nachher  heißt  es  dann,  wenn  es 
schief  geht:  Deutschland  hat  nicht  gewollt!! 
T  schir  sc  hky  soll  den  Unsinn  gefälligst  lassen! 
Mit  den  Serben  muß  aufgeräumt  werden  und 
zwar  bald.     W.J 

Vor  allem  müsse  man  sich  erst  klar  darüber  werden,  was  man 
ivolle,  denn  ich  hörte  bisher  nur  ganz  unklare  Gefühlsäußerungen. 
Dann  solle  man  die  Chancen  irgendeiner  Aktion  sorgfältig  erwägen 
und  sich  vor  Augen  halten,  daß  Österreich-Ungarn  nicht  allein  in 
der  Welt  stehe,  daß  es  Pflicht  sei,  neben  der  Rücksicht  auf  seine 
Bundesgenossen  die  europäische  Gesamtlage  in  Rechnung  zu 
ziehen  und  speziell  sich  die  Haltung  Italiens  und  Rumäniens  in 
allen  Serbien  betreffenden  Fragen  vor  Augen  zu  halten.  (Ver- 
steht sich  alles  von  selbst  und  sind  Binsenwahr- 
heiten.    W.J 

Das  Schriftstück  gelangte  vom  Kaiser  am  4.  Juli  ans  Auswärtige 
Amt  zurück.  Also  schon  damals,  ehe  noch  von  Österreich 
aus  die  geringste  Forderung  gestellt  worden  war,  stand  es  bei 
Wilhelm  fest:  ,,Mii  den  Serben  muß  aufgeräumt  werden  und 
zwar  bald".  Die  durch  das  Gooß'sche  Buch  sehr  gestützte  Auf- 
fassung, als  sei  Deutschland  in  der  serbischen  Krise  rein  nur  im 
Schlepptau  Österreichs  gewesen,  dem  es  zuviel  vertraute,  ist 
gänzlich  hinfällig. 

10.  Die  Verschwörung  von  Potsdam. 

Am  4,  Juli  kam  der  österreichische  Legationsrat  Graf  Hoyos 
nach  Berlin,  um  das  schon  erwähnte  Handschreiben  des  Kaisers 
Franz  Joseph  an  Wilhelm  zu  überbringen.  Man  fixiert  nicht 
immer  gefährliche  Gedanken  schriftlich  mit  völliger  Deutlichkeit. 
Das  Handschreiben  sprach  bereits  von  der  notwendigen  „Ver- 
kleinerung" Serbiens.  Graf  Hoyos  erläuterte  diesen  Ausdruck 
mündlich  dahin,  daß  darunter  die  Aufteilung  Serbiens 
unter  seine  Nachbarn  zu  verstehen  sei,  Hoyos,  der  Vertrauens- 
mann Berchtolds,  setzte  diese  Pläne  dem  Reichskanzler  und  dem 
Unterstaatssekretär  Zimmermann  auseinander.  Das  gab  ihnen 
keine  Veranlassung,  auf  die  Österreicher  zurückhaltend  zu  wirken. 

Das  schon  erwähnte  Weißbuch  vom  Juni  1919,  das  in  Wirklich- 
keit ein  Weißwaschungsbuch  ist,  bemerkt  freilich: 

44 


„Das  Ministerium  des  Äußern  in  Wien  hat  später  daraid 
Wert  gelegt,  festzustellen,  daß  es  die  rein  persönlichen  Ansichten 
des  Grafen  Hoyos,  die  den  Erwerb  serbischen  Gebiets  und  sogar 
eine  Aufteilung  Serbiens  umfaßten,  nicht  teile."     (S.  56.) 

Diese  Mitteilung  ist  nicht  iganz  richtig.  Das  Ministerium  hat 
wohl  erklärt,  daß  die  Ansichten  des  Grafen  Hoyos  seine  persön- 
lichen seien;  es  hat  aber  nie  unzweideutig  erkennen  lassen,  daß 
es  andere  Ansichten  hege,  und  es.  konnte  das  auch  nicht,  schon 
aus  dem  Grunde,  weil  idie  Ansichten  des  Herrn  Legationsrats  ganz 
mit  (den  Ansichten  seines  Vorgesetzten,  des  Ministers  Berchtold, 
übereinstimmten.  Das  Ministerium  des  Äußern  in  Wien  hat  denn 
auch  nie  verraten,  welches  seine  Absichten  in  Beziehung  auf 
Serbien  seien.  Indes,  selbst  wenn  das  bloße  Abrücken  von  Hoyos 
eine  beruhigende  Aufklärung  über  die  österreichischen  Pläne  ge- 
geben hätte,  so  fgind  es  doch  jedenfalls  erst  später  statt,  erst 
nach  dem  5,  Juli,  an  dem  der  österreichische  Botschafter  in 
Berlin  dem  Deutschen  Kaiser  das  Haridschreiben  Franz  losephs 
überreichte    und    die    entscheidenden    Beschlüsse    gefaßt    wurden. 

Über  die  Beratungen  jenes  Tages,  die  die  Phantasie  der  Außen- 
welt um  so  lebhafter  erregten,  je  weniger  sie  von  ihnen  wußte,  ist 
viel  gefaselt  worden.  Es  habe  ein  Kronrat  in  Potsdam  statt- 
gefunden, an  dem  Erzherzog  Friedrich,  Graf  Berchtold  und 
Conrad  von  Hötzendorf  teilnahmen,  und  in  dem  der  Krieg  gegen 
Serbien  oder  gar  der  Weltkrieg  beschlossen  wurde.  Das  schon 
zitierte  Weißbuch  vom  Juni  weist  nach,  daß  dieser  Kronrat  eine 
Legende  ist.  Zum  Beweis  zitiert  es  den  Sir  Horace  Rumboidt, 
bei  Kriegsausbruch  englischer  Botschaftsrat  in  Berlin,  der  es  für 
unwahrscheinlich  hält,  daß  ein  solcher  Kronrat  stattgefunden  habe. 
Er  ist  dieser  Meinung  nicht  wegen,  sondern  trotz  der  Beteuerungen 
der  deutschen  Regierung: 

„Die  gewohnheitsmäßige  V erlogenheit  der  deutschen  Regierung 
ist  in  der  Tat  so  groß,  daß  ich  unwillkürlich  versucht  bin,  jeder 
von  ihr  geleugneten   Feststellung  Glauben   zu  schenken  " 

Auf  dieses  ehrenvolle  Zeugnis  beruft  sich  das  Weißbuch  vom 
Juni  1919  zum  Beweis  der  Unschtild  der  alten  deutschen  Re- 
gierung, Das  Weißbuch  selbst  teilt  dann  mit,  was  sich  an  jenem 
5,  Juli  tatsächlich  in  Potsdam  zugetragen  haben  soll.  Es  wieder- 
holt dabei  im  wesentlichen  dasjenige,  was  schon  die  Wochen- 
schrift I.Deutsche  Polilik"  im  Mai  darüber  vorgebracht  hatte. 
Diese  Erzählung  klingt   sehr   harmlos. 

45 


Danach  fiülistückte  am  5.  Juli  der  österreichische  Botschafter 
Siögyeny  beim  Kaiser  Wilhelm  in  Potsdam  und  überreichte  ihn? 
das  Handschreiben  seines   Souveräns. 

Später  kamen  zum  Kaiser  Bethmann  Kollweg  und  Zimmer- 
mann, der  den  auf  der  Hochzeitsreise  befindlichen  Jagow  ver- 
trat und  sie  , .besprachen  die  politische  Lage'*.  Tags  darauf  trat 
Kaiser  Wilhelm  seine  Nordlandsreise  an.  Offenbar  das  deut- 
lichste Zeichen,   daß   er  nichts  Böses  erwartete  oder  gar  plante. 

Das  Weißbuch  teilt  den  Tatbestand  ebenso  mit,  nur  läßt  es  den 
Hinweis  auf  die  Nordlaodsreis*  weg.     Dafür  fügt  es  hinzu: 

„Es  find  keinerlei  besondere  Beschlüsse  gefaßt 
worden,  da  von  vornhsrein  feststand,  daß  es  nicht  möglich 
sei,  Österreich-Ungarn  die  den  Bundespflichten  entsprechende 
Unterstützung  bei  dem  Versuche,  von  Serbien  wirkliche 
Garantien  zu  erlangen,  zu  versagen."     fS.  50.) 

Das  soll  offenbar  auch  harmlos  klingen,  doch  kann  es  nichts  an- 
deres besagen,  als  daß  die  deutsche  Regierung  es  bei  jener  „Be- 
sprechung" schon  für  selbstverständlich  fand,  daß  Österreich  „wirk- 
liche Garantien"  fordern  werde  —  man  weiß,  was  das  heißt  —  und 
daß  Deutschland  dabei  „den  Bundespfiichten  entsprechend"  mittu«. 
Darüber  „besondere  Beschlüsse"  zu  fassen,  sollte  am  5.  Juli 
nicht  meiir  notwendig  gewesen  sein! 

Das  Weißbuch  vom  Juni  1919  scheint  auf  ein  sehr  kindliches 
Publikum  zu  rechnen.  Am  Eingang  seiner  Darstellung  wendet  es 
sich  gegen  die  Beha-opttmg,  am  5.  Juli  habe  ein  Kronrat  statt- 
gefunden, der  „den  Krieg  gegen  Serbien,  nach  anderer  Lesart  den 
Weltkrieg"  beschloisen  habe.  Die  berichtigende  Darstellung  tut 
aber  bloß  kund, 

1.  daß  kein  Kronrat  stattfand,  sondern  nur  vereinzelte  Be- 
sprechungen, 

2.  daß  nicht  der  Weltkrieg  beschlossen  wurde.  Vom  Krieg 
gegen  Serbien  ist  dabei  nicht  mehr  die  Rede. 

Es  heißt  schließlich: 

,,Aus  dem  Telegramm  (der  deutschen  Regierung)  nach  Wien 
vom  6.  Jali  und  dem  Handschreiben  Kaiser  Wilhslms  vom  14.  Juli 
geht  klar  hervor,  dc3  man  auch  in  Berlin  die  Möglichkeit 
eir.er  Einmischung  Rußlands  und  ihre  Folgen  mit  in 
Betracht  zog.  aber  mit  irgendeiner  Wahrscheinlichkeit 
eines  allgemeinen  Krieges  nicht  rechnete.  Von  der  Absicht 
vollends,  einen  europäischen  Krieg  zu  entfesseln,  kann,  wie 


die  beigefügten  Dokamente  einwandirei  zei^n,  häne  Rede  tevC 
(S.  57.) 

lidmowsky  bsricbtel  darüber  in  teiaer  Deaksdbrift' 

,JfachträgIich  erfuhr  ich,  daS  bei  der  entscheidenden  Bespreehxmg 
in  Potsdam  am  5.  Juli  die  Wiener  Anfrage  die  unbedingte  Za- 
stimmung  aller  niaß^benden  Persönlicftkeiten  fand  and  mit  dem 
Zutatz,  es  nerde  auch  mchJs  schaden,  wenn  daraus  ein  Krieg 
mit  Rußland  entstellen  tollte.  *  So  heißt  es  wemfßtens  in 
österreichischen  Protoltoll,  dos  Grd  Mensdorff  in  London  erhielt." 
'S.  28.) 

Graf  Szögyeny,  der  österreichiscbe  Botschafter  m  Berün«  be- 
richtet über  sein  Gespräch  mit  Wilbefan  am  5.  Juli: 

.Sach  seiner  (Käser  Wilhelms)  Mehaaig  moB  a6er  mü  diester 
Auktion  f gegen  Serbien)  meld  za  lange  gewartet  werden.  Ruß" 
fand s  Haltung  werde  jedenfalls  feindselig  sein, 
doch  sei  er  füersuf  schon  seit  Jahren  vorbereitet,  nmd  soUle  es 
sogar  zu  einem  Krieg  zwischen  ÖslerreielhUagfim  und  RaßUmd 
kommen,  so  könnten  wir  davon  aberzeagjt  sein,  daß  DeuixMamd 
in  gewolvüer  Bundestrene  an  unserer  Seile  stehen  werde,  RoB» 
land  sei  übrigens,  wie  die  Dinge  heate  ständen,  noch  keines- 
IS  e  gs  kriegsbereit  und  werde  es  sich  gewiß  noch  sehr 
überlegen,  an  die  Wolfen  zu  appelUeren.  Doch  werde  es  bei  den 
anderen  Mächten  der  Tripleentenie  gegen  ans  heizen  and  am 
Balkan  das  Feuer  scftüren. 

Er  begreüe  seftr  gat,  daß  es  Seiner  K.  tu  K.  Aposiolisehen  Maie" 
stäi  bei  seir^er  bekannten  Friedendiebe  schwer  lauen  werde,  in 
Serbien  einzamarsdderen:  wenn  wir  «dter  urirüich  die  Notwendig' 
keit  eitler  Aktion  gegen  Serbien  erkannt  hätten,  so  wärde  er  (Kmer 
Wdhdm)  es  bedauern,  wenn  wir  den  jetzigen,  für 
V  ns  so  günstigen  Moment  unbenutzt  ließe nT  (Rot- 
buch,  1919,  I.  S.  22.) 

Dr.  Goo6  vecsuAt,  die  ZuredmaogslälH^Eeit  des  Oraiea  Szö- 
gyeny  anznzwetidn.  Im  dicsrfbe  Ketbe  banea  iner  Verfasser  ciacr 
Denkschrift  wser  die  Schnld  am  Aadbrwck  des  Kxie§es  is  dem 
WeiOmch  Tom  Josi  1919,  die  Prokssoren  Hans  DeDndc.  Moidcls- 
sofan-Bartbf^dy  nnd  Max  Wdier  sovie  Graf  Mcr:|e'»: 

Wir  werden  daranf  noch  ia  eineas  amktea  Zzs^—~i:Lzizt   z. 
sprechen  kommen,  hier  sei  mir  bemerkt,  dafi  die  K:  ^ 
österrescinscfaen  Botschafters    in  Berfia    vcdfatl-  i.i 
stehen  aüi  dem«  -vzs  ^rrr  5ber  Wübdms  damnUge  I  : : 
mid  was   >zz:z    5  -dg^ossen  zu  Tschirs-:::^     ;    z^r  ::        :r-. 


47 


30,  Juni  bekunden.  Der  Zufall  will,  daß  gerade  aus  jenen  Tagen 
ein  Zeugnis  über  Szögyenys  Zuverlässigkeit  in  der  Berichter- 
stattung vorliegt.  Am  6,  verhandelte  der  Graf  mit  Bethmann 
Hollweg.  Dieser  berichtete  darüber  an  Tschirschky  und  gleich- 
zeitig sandte  Szögyeny  einen  Bericht  über  die  gleiche  Unter- 
redung an  BerchthoW.  Am  Tage  darauf  hatte  Tschirschky  Ge- 
legenheit, beide  Berichte  miteinander  zu  vergleichen.  Er  tele- 
graphierte darüber  an  das  Auswärtige  Amt  am  7.  Juli: 

„Die  Berichte  des  Grafen  Szögyeny  entsprachen  durch- 
aus dem  Inhalt  des  mir  sachgemäß  zugestellten  Telegramms 
Ew.  Exz.  vom  6.  d.  M." 

So  einfach  ist  es  also  nicht,  diesen  unbequemen  Zeugen  mora- 
lisch lun  die  Ecke  zu  bringen. 

Richtig  ist,  daß  in  jenen  Gesprächen  Bethmann  sich  viel  vorsich- 
tiger ausdrückte   als  sein  kaiserlicher  Herr,    Aber  das  war  öfter  so. 

Ein  Umstand  ist  vielleicht  nicht  ohne  Belang,.  Szögyeny  be- 
richtet, Wilhelm  sei  vor  dem  Frühstück  sehr  zugeknöpft  gewesen. 
Erst  nach  dem  Frühstück  habe  er  aus  seinem  Herzen  keine  Mörder- 
grube gemacht. 

Über  das,  was  der  Kaiser  am  5,  Juli  nach  dieser  Besprechung  mit 
seinen  Leuten  verhandelte,  sind  wir  nicht  unterrichtet.  Aber 
man  darf  dem  Weißbuch  vom  Juni,  so  wenig  Zutrauen  es  verdient, 
doch  glauben,  daß  die  Absicht,  einen  europäischen  Krieg 
zu  entfesseln,  damals  nicht  bestand.  Nur  verschweigt  es,  daß  man 
damals  schon  den  Österreichern  freie  Hand  zu  einem  Krieg 
gegen  Serbien  gab,  auf  die  Gefahr  hin,  damit  einen  Krieg 
mit  Rußland  hervorzurufen. 

Im  Grunde  hat  das  die  deutsche  Regierung  schon  in  ihrem 
ersten  Weißbuch  zugegeben,  das  sie  bei  Kriegsbeginn  veröffent- 
lichte,    Sie  erklärte  damals: 

„Österreich  mußte  sich  sagen,  daß  es  weder  mit  der  Würde, 
noch  mit  der  Selbsterhalfung  der  Monarchie  vereinbar  wäre,  dem 
Treiben  jenseits  der  Grenze  noch  länger  tatenlos  zuzusehen.  Die 
k.  u.  k.  Regierung  benachrichtigte  uns  von  dieser  Auffassung  und 
erbat  unsere  Ansicht.  Aus  vollem  Herzen  lionnten  wir  unse- 
rem Bundesgenossen  unser  Einverständnis  mit  seiner  Einschätzung 
der  Sachlage  geben  und  ihm  versichern,  daß  eine  Aktion,  die  er 
für  notwendig  hielte,  um  der  gegen  den  Bestand  der  Monarchie 
gerichteten  Bewegung  in  Serbien  ein  Ende  zu  machen,  unsere 
Billigung  finden  würde.  Wir  waren  uns  hierbei  wohl  bewußt,  daß 
ein     etwaiges     kriegerisches  Vorgehen  Österreich-Ungarns     gegen 

48 


Serbien  Rußland  auf  den  Plan  bringen  und  uns  hiermit  unseren 
Bundespflichten  entsprechend,  in  einen  Krieg  verwickeln  könnte." 
(S.  3,  4.) 

Es  wäre  der  Gipfel  der  Gedankenlosigkeit  gewesen,  wenn  Beth- 
mann  und  der  Kaiser  am  5.  Juli  wirklich  nicht  weiter  gedacht  und 
nicht  die  Möglichkeit  eines  europäischen  Krieges  erwogen  haben 
sollten,   die  sie  mit  ihrem   Vorgehen  heraufbeschworen. 

Es  ist  sicher  auffallend,  daß  der  Kaiser  in  einer  so  gefajir- 
drohenden  Situation  eine  Nordlandreise  antrat.  Eines  ist  aber 
klar:  Auch  der  leichtfertigste  Souverän  hätte  das  nicht  gewagt, 
ohne  sich  vorher  versichert  zu  haben,  daß  Wehr  und  Waffen  des 
Staates  für  alle  möglichen  Anforderungen  bereit  seien.  Die  Tat- 
sache, daß  er  nach  den  „Besprechungen"  in  Potsdam  seine  Som- 
merreise antrat,  deutet  schon  darauf  hin,  was  bei  ihnen  beschlossen 
wurde. 

Haben  dort  Wilhelm  ujid  Bethmann  Hollweg,  wie  dieser  selbst 
eiklärte,  einem  „kriegerischen  Vorgehen  Österreich-Ungarns"  ihre 
Zustimmung  zugesagt  auf  die  Gefahr  hin,  in  einen  Krieg  mit  Ruß- 
land verwickelt  zu  werden,  dann  mußte  klar  zum  Gefecht  gemacht 
werden,  ehe  Wilhelm  der  Mitternachtssonne  entgegenfuhr. 

Es  ist  also  durchaus  nicht  überraschend,  daß  sich  eine  „Auf- 
zeichnung des  Unterstaatssekretärs  Frhr.  v,  d.  Bussche  für  Staats- 
sekretär Zimmermann"  findet,  datiert  vom  30,  August  1917,  Dort 
heißt   es: 

„Am  Tage,  nachdem  der  Österreich-ungarische  Botschafter 
im  Juli  1914  S.  M.  dem  Kaiser  das  vom  Grafen  Hoyos  überbrachte 
Schreiben  Kaiser  Franz  Josefs  überreicht  hatte,  und  der  Reichs' 
kanzler  v.  Bethmann  Hollweg  und  Unterstaafssekretär  Zimmer' 
mann  in  Potsdam  empfangen  worden  waren,  fand  in  Potsdam  eine 
Beratung  militärischer  Stellen  bei  Seiner  Majestät  statt. 
Es  nahmen  teil:  Exz.  Capelle  für  Tirpiiz,  Kapitän  Zenker  für  den 
Admiraistab,  Vertreter  des  Kriegsministcriums  und  des  General- 
siabs.  Es  wurde  beschlossen,  auf  alle  Fälle  vor» 
bereitende  Maßnahmen  für  einen  Krieg  zu  tref- 
fen. Entsprechende  Befehle  sind  darauf  ergangen.  —  Quell« 
durchaus  zuverlässig.  B  us  sc  h  e." 

In  gleicher  Richtung  weisen  die  Mitteilungen,  die  Herr  v,  Tirpitz 
in  seinen  , (Erinnerungen"  macht  (1919,  S.  209).  Er  berichtet,  daß 
Wilhelm  bei  allem  Optimismus  es  für  notwendig  fand,  für  alle 
Eventiialitäten  gerüste't  zu  sein: 

49 


„Er  hat  aus  diesem  Grunde  schon  im  Laufe  des  5.  den  Reichs- 
kanzler V.  Bethmann  Holhueg,  den  Kriegsminister  v.  Falkenhayn, 
den  U  nt  er  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Zimmermann,  und  den 
Chef  des  MiUtärkabinetts  v.  Lyncker  nach  Potsdam  befolilen.  Es 
wurde  dabei  beschlossen,  daß  Maßnahmen,  die  geeignet  wären, 
politisches  Aufsehen  zu  erregen  oder  besondere  Kosten  zu  ver- 
Ursachen,  vermieden  luerden  collten." 

Am  6.  Juli  habe  dann  der  Kaiser  mit  Capelle  für  den  damals 
abweseniden  Tirpitz  in  Potsdam  gesprochen. 

Das  ist,  bis  auf  Kleinigkeiten,  ganz  dasselbe,  was  Bussche  auf- 
zeichnet. Damit  ist  das  Duiikel  noch  nicht  völlig  erhellt,  das  über 
den  Potsdamer  „vereinzelten  Besprechungen"  liegt.  Sicher  -«Agaren 
sie  kein  K  r  o  n  r  a  t  zu  nennen.  Wilhelm  entschied  vielmehr  allem 
Anschein  nach  selbständig  in  dieser  Schicksalsstunde.  Was  sich 
daran  anschloß,  könnte  m.an  eher  als  Kriegsrat  bezeichnen. 
Man  kann  ihn  auch  eine  Verse  hv/örung  nennen,  zum  min- 
desten gegen  Serbien  und  Rußland,  wenn  nicht  gegen  den  Frieden 
der  Welt. 

11.  Die  Verschworer  an  der  Arbeit. 

Wilhelms  Drängen. 

Wie  -die  harmlose  Unterhaltung  über  „die  politische  Lage"  am 
5.  Juli  in  Potsdam  auf  die  österreichische  Regierung  wirkte,  be- 
kundete diese  schon  im  Ministerrat  für  gemeinsame  Angelegen- 
heiten vom  7.  Juli,  dessen  Protokoll  jetzt  veröffentlicht  wurde. 
(Rotbuch  1919,  S.  25—38.) 

Berchtold  begann  dajnit,  zu  erklären,  daß  der  Moment  gekommen 
sei,  Serbien  „für  immer"  unschädlich  zu  machen.  Dazu  habe  er  mit 
der  deutschen  Regierung  Fühlung  genommen,  diese  habe  für  den 
Krieg  mit   Serbien  ihre   unbedingte  Unterstützung   zugesichert. 

„Er  sei  sich  klar  darüber,  daß  ein  V/affengang  mit  Ssrbien  den 
Krieg  mit  Rußland  zur  Folge  haben  könnte." 

Aber  lieber  jetzt  als  später,  denn  Rußland  werde  auf  dem  Balkan 
immer  stärker. 

Tisza  stimm.te  zu,  daß  ein  Krieg  mit  Serbien  möglich  geworden 
sei,  aber  er  sei  weder  für  den  Krieg  unter  allen  Umständen,  noch 
für   die  Kriegserklärung  ohne  •diplomatische  Vorbereitungen: 

„Er  würde  niemals  einem  überraschenden  Angriff  auf  Serbien 
ohne  vorhergehende  diplomatische  Aktion  zustimmen,  wie  dies  be- 
absichtigt zu  sein  scheine,  und  bedauerlicherweise  auch 

50 


in  Berlin  durch  den  Grafen  H  o  y  o  s  besprochen 
wurde." 

Also  man  hatte  in  Berlin  sogar  den  Fall  besprochen,  daß  an 
Serbien  ohne  jedes  Ultimatum  der  Krieg  erklärt  v/ürde.  Das  wurde 
durch  Tisza  verhindert,  der  zu  gut  erkannte,  daß  man  sich  damit 
von  vornherein  ins  Unrecht  setzte.  Er  wollte  ein  Ultimatum,  aber 
ein  erfüllbares.  Wenn  Serbien  es  akzeptiere,  habe  man  einen  großen 
diplomatischen  Erfolg  errungen,  mit  dem  man  sich  zufriedengeben 
könne. 

Nach  langen  Erörterungen  konnte  ztmi  Schlüsse  konstatiert 
werden: 

,J.  daß  alle  Versammelten  eine  tunlichst  rasche  Entscheidung^ 
des  Streitfalles  mit  Serbien  im  kriegerischen  oder  friedlichen  Sinne 
wünsclien, 

2.  daß  der  Ministerrat  bereit  wäre,  sich  der  Ansicht  des  kgl. 
ungarischen  Ministerpräsidenten  anzuschließen,  wonach  erst  mobi^ 
lisiert  werden  sollte,  nachdem  konkrete  Forderungen  an  Serbien 
gerichtet  und  dieselben  zurückgewiesen  sowie  ein  Ultimatum  ge- 
stellt worden  ist. 

Dagegen  sind  alle  Anwesenden  mit  Ausnahme  des  kgl. 
ung.  Ministerpräsidenten  der  Ansicht,  daß  ein  rein  diploma- 
tischer Erfolg,  wenn  er  auch  mit  einer  diplomatischen  De- 
mütigung Serbiens  enden  würde,  wertlos  wäre  und  daß  daher 
solche  weitgehenden  Forderungen  an  Serbien  gestellt  werden 
müßten,  die  eine  Ablehnung  voraussehen  ließen, 
damit  eine  radikale  Lösung  im  Wege  militärischen  Eingreifens  an- 
gebahnt würde." 

Dieses  saubere  Planchen,  war  die  Folge  der  Besprechungen  der 
,, politischen  Lage"  in  Potsdam  vom  5,  Juli.  Es  wurde  sofort  nach 
Berlin  gemeldet,  in  dem  Bericht  Tschirsohkys  vom  8.  Juli,  in  dem 
es  unter  anderem  hieß: 

„Graf  Berchtold  meinte,  er  würde  seinem  Kaiser,  falls  sich  dieser 
der  Ansicht  anschließen  sollte,  daß  zunächst  Forderungen  an  Ser- 
bien zu  stellen  seien  ,jedenfalls  rater.,  die  Forderungen  so 
einzurichten,  daß  deren  Annahme  ausgeschlos- 
sen erschein  e." 

Darüber  war  man   also   in   Berlin  von  Anfang  an  unterrichtet. 

Wilhelm  billigte  nicht  bloß  diese  Politik,  er  drängte  auf  ihre 
baldige  Durchführung,  Das  bezeugen  schon  seine  Bemerkungen  .^u 
Tschirsohkys  Berichten  aus  Wien, 

51 


Dieser  teilf.  am    10.   Juli   ii)H: 

„Ganz  geheim. 

„Über  seinen  gestrigen  Vortrag  bei  S.  M.  dem  Kaiser  Franz 
Josef  in  Ischl  teilt  mir  Graf  Berchioid  nachstellendes  mit: 

„S.  M.  der  Kaiser  habe  mit  großer  Ruhe  die  Sachlage  besprochen. 
Zunächst  habe  er  seinem  lebhaften  Dank  Ausdruck  gegeben  für  die 
Slüllungnahme  unseres  Aller  gnädigsten  Herrn  und  der  kaiserlichen 
Regierung  und  geäußert,  er  sei  ganz  unserer  Ansicht,  daß  man 
jetzt  (von  Wilhelm  unterstrichen,  K.)  zu  einem  Entschluß  kom- 
men müsse  (da  Sr.M.Promemoria  etwa  14T  a  ge  alt  ist , 
so  dauert  das  sehr  lang!  Das  ist  doch  eigentlich 
zur  Begründung  des  Entschlusses  s  e  l  b  st  ent- 
worfen. W.J,  um  den  unleidlichen  Zuständen  Serbien  gegenüber 
ein  Ende  zu  machen.  Über  die  Tragweite  eines  solchen  Entschlusses 
fügt  Graf  Berchtold  hinzu,  sei  sich  S.  M.  völlig  klar. 

Der  Minister  hat  hierauf  dem  Kaiser  Kenntnis  gegeben  von  den 
zwei  Modalitäten,  die  in  bezug  auf  das  nächste  Vorgehen  gegen 
Serbien  hier  in  Frage  ständen.  S.  M.  hätten  gemeint,  es  ließe  sich 
vielleicht  dieser  Gegensatz  überbrücken.  Im  Ganzen  hätten  aber 
S  M.  eher  der  Ansicht  zugeneigt,  daß  konkrete  Forderungen 
an  Serbien  zu  stellen  sein  würden  (A  b  e  r  sehr!  und  unzwei- 
deutig! W.J.  Er,  der  Minister  wolle  auch  die  Vorteile  eines 
solchen  Vorgehens  nicht  verkennen.  Es  würde  damit  das  Odium 
einer  Überrumpelung  Serbiens,  das  auf  die  Monarchie  fallen  würde, 
vermieden  und  Serbien  ins  Unrecht  gesetzt  werden.  Auch  würde 
dieses  Vorgehen  sowohl  Rumänien  als  auch  England  eine  wenig- 
stens neutrale  Haltung  sehr  erleichtern. 

Die  Formulierung  geeigneter  Forderungen  gegenüber  Serbien 
bildet  gegenwärtig  hier  die  Hauptsorge  (Dazu  haben  sie  Zeit 
genug  gehabt!  W.J.  Graf  Berchtold  sagte,  er  würde  gerne 
wissen,  wie  man  in  Berlin  darüber  denke.  Er  meinte,  man  könnte 
unter  anderem  verlangen,  daß  in  Belgrad  ein  Organ  der  österr.- 
ungarischen  Regierung  eingesetzt  werde,  um  von  dort  aus  die  groß- 
serbischen Umtriebe  zu  überwachen,  eventuell  auch  die  Auflösung 
von  Vereinen  und  Entlassung  einiger  (der!  W.j  kompromittierter 
Offiziere.  Die  Frist  zur  Beantwortung  müsse  möglichst  kurz  be- 
messen werden,  wohl  48  Stunden.  Freilich  würde  auch  diese  kurze 
Frist  genügen,  um  sich  von  Belgrad  aus  in  Petersburg  Weisungen 
zu  holen  (Hartwig  ist  toi!  W.J.  Sollten  die  Serben  alle  ge- 
stellten Forderungen  annehmen,  so  wäre  das  eine  Lösung,  die  ihm 
„sehr  unsympathisch"  wäre  und  er  sinne  noch  darüber  nach,  welche 

52 


Forderungen  man  stellen  könne,  die  Serbien  etne  Annahme  vöftig 
unmöglich  machen  würden.  (Den  Sandschak  räumen! 
Dann  ist  der  Krakeel  sofort  da!  Den  muß  Öster- 
reich unbedingt  sofort  wieder  haben,  um  die 
Einigung  Serbiens  und  Montenegros  und  das 
Erreichen  des  Meeres  seitens  der  Serben  zu  hin- 
dern.    W.) 

Der  Minister  klagte  schließlich  wieder  über  die  Haltung  des 
Grafen  Tisza,  die  ihm  ein  energisches  Vorgehen  gegen  Serbien  er- 
schioere.  Graf  Tisza  behaupte,  man  müsse  gentlemanlike  vor- 
gehen (M  ordern  gegenüber,  nach  dem  was  vorge- 
fallen ist?  W.J,  das  sei  aber,  wenn  es  sich  um  so  wichtige 
Sfaatsintcressen  handle  und  besonders  einem  Gegner  wie  Serbien 
gegenüber  schwerlich  angebrocht. 

Der  Anregung  der  kaiserlichen  Regierung,  schon  jetzt  die  öffent- 
liche Meinung  im  Inlande  im  Wege  der  Presse  gegen  Serbien  zu 
stimmen,  —  worüber  Graf  Szögyeny  telegraphiert  hat  —  wird  der 
Minister  gern  folgen.  Nur  müsse  dies,  seiner  Meinung  nach,  vor- 
sichtig gemacht  iverden,  um  Serbien  nicht  vorzeitig  zu  alarmieren. 

Der  Kriegsminister  wird  morgen  auf  Urlaub  gehen,  auch  Freiherr 
Conrad  v.  Hötzendorf  Wien  zeitweilig  verlassen.  Es  geschieht 
das,  ivie  Graf  Berchtold  mir  sagte,  absichtlich  (kindisch!  W.J, 
um  jeder  Beunruhigung  vorzubeugen.  (Ungefähr  wie  zur 
Zeit  der  Schlesisckcn  Kriege.  „Ich  bin  gegen  die 
Kriegsräthc  und  Beratungen,  sintemalen  die 
t  iniid  er  e  P  ar  t  h  e  y  allemal  die  Oberhand  ha  t." 
Friedrich  der  Große.    W.)" 

Man  sieht  aus  Wilhelms  Randglossen  seine  Zustimmung  dazu, 
daß  Serbien  ein  Nachgeben  unmöglich  gemacht  werde,  aber  auch 
seine  Ungeduld,  daß  Österreich  noch  nicht  losgehe.  Endlich,  am 
13,  Juli  schien  die  träge  österreichische  Masse  in  Bewegung  zu 
kommen,     Tschirschky  berichtet: 

„Minister  (Berchtold.  K.J  ist  jetzt  selbst  überzeugt,  daß 
schnellstes  Handeln  geboten  ist.  (von  Wilhelm  doppelt 
unterstrichen.  K.)  Er  hofft  morgen  mit  Tisza  über  Wortlaut  der 
an  Serbien  zu  richtenden  Note  ins  Reine  zu  kommen,  würde  diese 
dann  Mittwoch,  den  15.  Juli  dem  Kaiser  in  Ischl  unterbreiten, 
worauf  dann  unverzüglich  —  mithin  noch  vor  der  Abreise  Poin- 
cares  nach  Petersburg    —    Übergabe  in  Belgrad  erfolgen  könnte." 

Der  Zufall  wollte  es  nämlich,  daß  gerade  in  jenen  Tagen  der 
Präsident  der  französischen  Republik  dem  Zaren  in  dessen  Haupt- 


Stadt  einen  Besuch  abstattete.  Ehe  noch  Poincare  die  Reise  an- 
trat (es  geschah  am  15.  Juli  abends),  sollte  die  Note  an  Serbien 
abgehen. 

Aber  so  schnell  vermochten  die  Österreicher  doch  nicht  zu 
schießen.  Indes  verzeichneten  Berchtold  und  Wilhelm  zunächst 
den  Triumph,  daß  Tisza  sich  zu  ihnen  bekehrte, 

Tschirschky  telegraphiert  am  14.  Juli  „ganz  geheim": 

„Graf  Tisza  suchte  mich  heute  nach  seiner  Besprechung  mit  dem 
Grafen  Berchtold  auf.  Der  Graf  sagte,  er  sei  bisher  stets  derjenige 
gewesen,  der  zur  Vorsicht  gemahnt  habe,  aber  jeder  Tag  habe  ihn 
nach  der  Richtung  hin  mehr  bestärkt,  daß  die  Monarchie  zu  einem 
(energischen  Entschluß  kommen  müsse  (unbedingt!  W.),  um 
ihre  Lebenskraft  zu  beweisen  und  den  unhaltbaren  Zuständen  im 
Südosten  ein  Ende  zu  machen.  Die  Spreche  der  serbischen  Presse 
uzd  der  serbischen  Diplomaten  sei  in  ihrer  Anmaßung  geradezu  un- 
erträglich. „Ich  habe  mich  schwer  entschlossen",  meinte  der 
Minister,  „zum  Kriege  zu  raten,  bin  aber  jetzt  fest  von  dessen  Not- 
wendigkeit überzeugt  und  ich  werde  mit  aller  Kraft  für  die  Größe 
der  Monarchie  einstehen!" 

Glücklicherweise  herrsche  jetzt  unter  den  hier  maßgebenden 
Persönlichkeiten  vollem  Einvernehmen  und  Entschlossenheit.  S.  M. 
Kaiser  Franz  Josef  beurteile,  wie  auch  Baron  Burian,  der  S.  M. 
noch  dieser  Tage  in  Ischl  gesprochen  hat,  berichte,  die  Lage  sehr 
ruhig  und  werde  sicher  bis  zum  letzten  Ende  durchhalten.  Graf 
Tisza  fügte  hinzu,  die  bedingungslose  Stellungnahme  Deutschlands 
zur  Monarchie  sei  entschieden  für  die  feste  Haltung  des  Kaisers 
von  großem  Einfluß  gewesen. 

Die  an  Serbien  zu  richtende  Note  soll  heute  noch  nicht  in  ihrem 
letzten  Wortlaut  festgestellt  werden.  Dies  werde  erst  Sonntag 
(19.  Juli)  geschehen.  In  betreff  des  Zeitpunktes  der  Übergabe  an 
Serbien  sei  heut  beschlossen  worden,  lieber  bis  nach  der  Abreise 
Poincares  aus  Petersburg  zu  warten,  also  bis  zum  25.  (w  i  e 
schade!  W.)  Dann  aber  würde  sofort  nach  Ablauf  der  Serbien 
gestellten  Frist,  falls  dieses  nicht  unbedingt  alle  Forderungen  an- 
nehmen sollte,  die  Mobilmachung  erfolgen.  Die  Note  werde  so  ab- 
gefaßt sein,  daß  deren  Annahme  so  gut  wie  ausgeschlossen 
sei.  (von  Wilhelm  zweimal  unterstrichen,  K.)  Es  käme  darauf 
an,  nicht  nur  Versicherungen  und  Versprechungen  zu  fordern,  son- 
dern Taten.  Bei  der  Abfassung  der  Note  müsse  seiner  Ansicht 
nach,  auch  darauf  Rücksicht  genommen  werden,  daß  sie  für  das 

54 


große  Publikum  —  besonders  in  England  —  verständlich  sei  und 
das  Unrecht   klar   und  deutlich   Serbien   zuschiebe. 

Baron  Conrad  hat  bei  der  letzten  Besprechung  auf  ihn  einen  sehr 
guten  Eindruck  gemacht.  Er  habe  ruhig  und  sehr  bestimmt  ge- 
sprochen. In  nächster  Zeit  müsse  man  sich  freilich  darauf  gefaßt 
machen,  daß  die  Leute  wieder  darüber  klagen  werden,  man  sei 
hier  unentschlossen  und  zögernd.  Es  komme  darauf  aber  wenig  an, 
wenn  man  in  Berlin  wisse,  daß  das  nicht  der  Fall  sei. 

Zum  Schluß  drückte  mir  Tisza  warin  die  Hand  und  sagte:  „Wir 
loollen  nun  vereint  der  Zukunft  ruhig  und  fest  ins  Auge  sehn."  •— 
(Na,  doch  mal  ein  Mann.  W.) 

Man  sieht,  wie  gänzlich  unhaltbar  die  Meinung  ist,  als  sei  Wil- 
helm das  arme  Opferlamm  Berchtoldscher  Perfidie  gewesen.  Die 
beiden   Verbündeten   waren   einander   würdig. 

Und  wie  der  Herr,  so  seine  Knechte, 

Am  18.  Juli  berichtete  der  Botschaftsrat  Prinz  zu  Stolberg-Wer- 
nigerode  aus  Wien  in  einem  persönlichen  Schreiben  an  Herrn 
von   Jagow: 

„Gestern  war  ich  bei  Berchfold,  der  mir  sagte,  daß  die  bewußte 
Note  am  23.  d.  M.  in  Belgrad  überreicht  werden  soll.  Wie  ich 
gestern  berichtet  habe,  hofft  Berchtold,  daß  die  österreichischen 
Forderungen,  über  die  er  sich  im  Einzelnen  nicht  ausließ,  von  Ser- 
bien  nicht  angenommen  werden.  Ganz  sicher  ist  er  aber  nicht, 
und  ich  habe  aus  seinen  wie  aus  Äußerungen  von  Hoyos  den  Ein- 
druck, daß  Serbien  die  Forderungen  annehmen  kann.  Auf  meine 
Frage,  was  dann  geschehen  solle,  wenn  die  Sache  auf  diese  Weise 
wieder  im  Sande  verlaufe,  meinte  Berchtold,  man  müsse  dann  bei 
der  praktischen  Durchführung  der  einzelnen  Posiulate  eine  weit- 
gehende Ingerenz  üben.  Will  man  hier  wirklich  eine  endgültige 
Klärung  des  Verhältnisses  zu  Serbien,  wie  sie  auch  Graf  Tisza 
in  seiner  Rede  kürzlich  als  unabweislich  bezeichnet  hat,  so  wäre  es 
allerdings  unerfindlich,  warum  man  nicht  solche  Forderungen  auf- 
gestellt haben  sollte,  die  einen  Bruch  unvermeidlich  machen.  Ver- 
läuft die  Aktion  wieder,  wie  das  Hornberger  Schießen  und  bleibt 
es  bei  einem  sogenannten  diplomatischen  Erfolg,  so  wird  damit 
die  hierzulande  schon  vorherrschende  Anschauung,  daß  die  Mon- 
archie zu  keiner  Kraftäußerung  w.ehr  fähig  ist,  bedenklich  befestigt. 
Die  Folgen,  die  dies  nach  innen  und  außen  haben  würde,  liegen 
ja  auf  der  Hand." 

Die  Herren  der  deutschen  Diplomatie  in  Wien  waren  also  mit 
B-erchlold  nicht  öanz  zufrieden  und  trauten  ihm  nicht  vollständig. 

55 


Nicht  aber  deswegen,  weil  er  zum  Kriege  gedrängt  und  sie  davon 
abgemahnt  hätten,  sondern  weil  sie  fürchteten,  ,,dic  Monarchie"  sei 
keiner  „Kraftäußerung"  mehr  fähig  und  die  ganze  Aktion  werde, 
statt  mit  einem  frisch-fröhlichen  Krieg  mit  einem  unblutigen  diplo- 
matischen Erfolg  endigen. 

Leider   waren    die   Befürchtungen,    die    der   deutsciie   Herr   Bot- 
schaftsrat   zum    deutschen    Herrn    Staatssekretär    über    den    öster- 
reichischen Bundesgenossen  äußerte,  völlig  unbegründet, 
Österreichs   Zögern. 

Nachdem  die  deutsche  Regierung  am  5,  Juli  ihren  Segen  zu 
dem  von  Österreich  beabsichtigten  Krieg  gegen  Serbien  gegeben, 
drängte  sie  zu  raschestem  Losschlagen,  während  Österreich  schwer 
aus  seinem  gemütlichen  Tempo  zu  bringen  war. 

Das  widersprach  ganz  den  Regeln  des  preußischen  Militarismus, 
der  auf  Raschheit  der  Bewegung  den  größten  Wert  legt.  Es  drohte 
aber  auch  das  diplomatische  Konzept  zu  verderben,  das  darauf  an- 
gelegt war,  Europa  vor  vollendete  Tatsachen  zu  steilen,  ehe  es 
noch  recht  wußte,  was  geschah,  und  es  zu  erschweren,  daß  sich 
Serbien  mit  den  Mächten  imd  die  Mäch«^  untereinander  verstän- 
digten, Bestürzimg  und  Wirrwarr  sollten  die  Möglichkeit  geben, 
im  Trüben  zu  fischen  und  die  Gefahr  verringern,  daß  sich  die 
Mächte    gegen   die   frivolen   Ruhestörer   vereinigten. 

Deshalb  die  kurze  Frist  von  48  Stunden,  die  den  Serben  zur  Be- 
antwortung der  Note  zu  geben  war. 

Da  erschien  es  gefährlich,  mit  dem  Absenden  der  Note  zu  war- 
ten, denn  jeder  Tag  des  Zögerns  konnte  neue  Zwischenfälle  brin- 
gen, konnte  die  Absichten  der  Verschworenen  enthüllen  und  damit 
zunichte  machen.  Das  deutsche  Drängen,  nachdem  man  einmal 
zum  Kriege  seine  Zustimmung  gegeben,  ist  also  wohl  begreiflich. 

Nicht  so  begreiflich  das  österreichische  Zögern.  Zum  Teil  mag 
es  der  eingewurzelten  schwarzgelben  Schlamperei  zuzuschreiben 
sein,  zum  Teil  vielleicht  auch  der  damit  zusammenhängenden 
Langsamkeit  der  Kriegsvorbereitungen,  die  sofort  nach  den  Pots- 
damer Beschlüssen  in  Österreich  begonnen  hatten.  Schon  am 
12,  Juli  telegraphiert  Jagow  an  Tschirschky: 

,,Zur  streng  vertraulichen  Orientierung  des  Grafen  Berchtold. 

Nach  geheimen  Nachrichten  liegt  Rußland  und  Serbien  die  ver- 
trauliche Information  vor,  daß  Österreich-V ngarn  seine  Garnisonen 
an  serbischer  und  russischer  Grenze  unauUällig  verstärkt." 

Also  nicht  bloß  an  der  serbischen,  sondern  auch  an  der  russi- 
schen Grenze  traf  damals  schon  Österreich  Kriegsvorbereittmgen. 


Das  ist  sdir  wichtig  wegen  der  Erörterungen  über  die  verschie- 
denen Mobilmachungen.  Die  Mobilisierung  ist  der  wichtigste,  auf- 
fälligste, letzte  Altt  der  Kriegsvorbereitungen,  aber  nicht  der  ein- 
zige, Truppenverschiebungen,  Ansammlung  und  Transport  von 
Kriegsgerät,  Rückberufung  beurlaubter  Offiziere,  Bereitstellung 
von  Transportmitteln  und  dergl,  können  vorgenommen  werden,  ehe 
die  Mobilisierung  verkündet  wird.  Diese  wird  um  so  rascher  und 
wirksamer  vor  sich  gehen  können,  je  besser  die  übrigen  Kriegsvor- 
bereitungen getroffen  sind.  Die  Zentralmächte  konnten  darin  beim 
Ausbruch  der  Krise  am  24,  Juli  den  anderen  weit  voraus  sein,  weil 
sie  ja  seit  dem  5.  mit  der  Möglichkeit  eines  Krieges  mit  Rußland 
rechneten. 

Trotzdem  blieb  wohl  Österreich  weiter  zurück,  als  den  deutschen 
Kriegspolitikern  lieb  war.  Erklärte  es  doch  auch  schließlich  Ruß- 
land erst  am  6,  August  den  Krieg,  trotzJdem  es  schon  am  31,  Juli 
die  allgemeine  Mobilmachung  angeordnet  hatte.  Dazu  kamen  noch 
Unstimmigkeiten  zwischen  den  Staatsmännern  des  Doppelstaales 
Österreich-Ungarn,  der  so  wenig  ein  einheitliches  Wesen  war,  daß 
seine  Politiker  keinen  anderen  Namen  für  ihn  wußten,  als  „die 
Monarchie". 

Am  5.  Juli  Iiatte  sich  Bcrchtold  schon  in  Potsdam  die  Erlaubnis 
zum  Kriege  gegen  Serbien  geholt,  aber  erst  am  14,  Juli  konnte 
Tschirschky  berichten,  daß  aiich  Budapest  seine  uneingeschränkte 
Erlaubnis  gebe.  Und  da  erst  begannen  die  Minister  in  Wien  mit 
dem  Versuch,  sich  über  die  Absichten  Serbien  gegenüber  unter- 
einander zu  verständigen.  Merkwürdigerweise  hatte  man  früher 
auch  in  Berlin  nicht  das  Bedürfnis  gehabt,  sich  über  die  Ziele  des 
Krieges  klar  zu  werden,  den  man  bereits  gebilligt  hatte  und  zu 
dessen  Eröffnung   man  drängte. 

Erst  am   17.   Juli  telegraphierte  Jagow  an  Tschirschky; 

„Wie  Ew.  Exz.  aas  der  Verlesung  der  Aul  Zeichnung  des  Grafen 
Hoyos  über  soin^  Unterredung  mit  dem  Herrn  Unter  Staatssekretär 
bekannt  ist,  hat  Graf  Hoyos  hier  geäußert,  Österreich  müsse  Ser- 
bien völlig  aufteilen. 

Graf  Bercliiold  und  Graf  Tisza  haben  hierzu  bemerkt,  daß  diese 
Äußerung  nur  die  persönliche  Ansicht  des  Grafen  Hoyos  ivieder- 
gäbe,  liaben  sich  also  mit  mit  ihr  ausdrücklich  nicht  identifiziert, 
sich  aber  scheinbar  über  ihre  territorialen  Pläne  aucfi  nicht  weiter 
ausgelassen. 

Für  die  diplomatiscfie  Beliandlung  des  Konfliktes  mit  Serbien 
wäre  es  von  dessen  Beginn  an  nicht  umi;ichtig  zu  wissen,  welches 

57 


die  Ideen  der  österreichisch-ungarischen  Staatsmänner  über  die 
künftige  Gestaltung  Serbiens  sind,  da  diese  Frage  von  wesentlichem 
Einfluß  auf  die  Haltung  Italiens  und  auf  die  öffentliche  Meinung 
und  die  Haltung  Englands  sein  wird. 

Daß  die  Pläne  der  Staatsmänner  der  Donaumonarchie  durch  den 
Gang  der  Ereignisse  beeinflußt  und  modifiziert  werden  können,  ist 
ivohl  als  selbstverständlich  anzusehen,  immerhin  sollte  man  an- 
nehmen, daß  das  Wiener  Kabinett  sich  doch  schon  ein  allgemeines 
Bild  der  zu  erstrebenden  Ziele  auch  in  territorialer  Hinsicht  ge- 
macht hat.  Ew.  Exz.  wollen  versuchen,  im  Gespräch  mit  dem 
Grafen  Berchfold  sich  hierüber  eine  Aufklärung  zu  verschaffen, 
dabei  aber  den  Eindruck  vermeiden,  als  wollten  wir  der  öster- 
reichischen Aktion  von  vornherein  hemmend  in  den  Weg  treten  oder 
ihr  gewisse  Grenzen  oder  Ziele  vorschreiben.  Es  wäre  uns  nur 
von  Wert,  einigermaßen  darüber  orientiert  zu  sein, 
wohin  der  Weg  etwa  führen   s  o  1 1." 

Dieses   Schriftstück  ist  sicher  höchst  merkwürdig. 

Man  denke!  Am  5,  Juli  sanktioniert  die  deutsche  Regierung  den 
Krieg  gegen  Serbien  mit  dem  Bewußtsein,  daß  es  ein  Weltkrieg 
werden  kann.  Seitdem  drängt  sie  auf  rasches  Losschlagen,  und 
am  17.  fragt  der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  in  Wien  schüch- 
tern an,  ob  er  „einigermaßen  darüber  orientiert"  werden  könnte, 
„wohin  der  Weg"  des  Krieges  „etwa  führen  soll". 

Und  er  fragt  das  nicht  einmal,  um  seine  eigenen  Entschlüsse 
danach  einzurichten  —  nach  wie  vor  behält  Österreich  freie  Bahn  — , 
sondern  nur,  um  imstande  zu  sein,  Italien  und  England  diplomatisch 
richtig  zu  „behandeln". 

Eine  ganz  klare  Antwort  hat  Berlin  darüber  von  Wien  nie  be- 
kommen, aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  man  dort  selbst  nicht 
wußte,  ,,wo]nn  der  Weg  führen  sollte".  Die  beiden  Zentralmächte 
haben  den  furchtbarsten  aller  Kriege  entfesselt,  ohne  über  Zweck 
und  Ziel  auch  nur  seines  Ausgangspunktes  klar  zu  sein. 

Die  Antwort  sollte  in  Wien  am  19,  Juli  gegeben  werden  in  einem 
Ministerrat  ,,für  gemeinsame  Angelegenheiten"  über  „die  bevor- 
stehende diplomatische  Aktion  gegen  Serbien",  in  dem  die  Ziele 
des  Krieges  festgelegt  werden  sollten,  den  zu  erzwingen  man  ent- 
schlossen v/ar.  In  jener  Sitztmg  stellte  Graf  Tisza  die  Forde- 
rung auf,  daß  mit  der  Aktion  gegen  Serbien  keine  Eroberungspläne 
der  Monarchie  verknüpfe  werden  dürften.  Man  müßte  sich  auf 
die  aus  militärischen  Gründen  bedingten  Grenzberichtigungen  be- 
schränken.     Er    verlangte    darüber    einen    einstimmigen    Beschluß.- 

58 


Ah  Magyare  v/ollte  er  keine  Vermehrung  der  Zahl  der  Serben  In 
der  Monarchie.     Graf  Berchtold  v/ar  anderer  Meinung: 

Er  meinte,  daß  er  sich  dieser  Auffassung  nuv  mit  einer  gewissen 
Reserve  anschließen  könne.  Auch  er  sei  der  Meinung,  daß  Öster- 
reich-Ungarn von  Serbien  kein  Gebiet  annektiere,  wohl  aber,  daß 
möglichst  große  Stücke  an  Bulgarien,  Griechenland  und 
Albanien,  eventuell  auch  an  Rumänien  zuzuweisen  seien,  Serbien 
müsse  so  verkleinert  werden,  „daß  es  nicht  mehr  gefährlich 
sei".  Die  Situation  auf  der  Balkanhalbini-el  könne  sich  jedoch 
ändern.  Es  sei  möglich,  „daß  es  uns  am  Ende  des  Krieges  nicht 
mehr  möglich  sein  v/ird,  nichts  zu  annektieren." 

Man  sieht,  die  Ansichten,  die  der  Graf  Hoyos  am  5.  Juli  in 
Berlin  entwickelt  hatte,  waren  nicht  nur  seine  persönlichen  An- 
sichten, sonÜern  ebenso  sehr  die  des  Grafen  Berchtold. 

Graf  Tisza  ließ  jedoch  die  Reserven  des  Grafen  Berchtold  nicht 
gelten.  Graf  Stüi'gkh  meinte,  auch  wenn  die  Besetzung  serbischer 
Gebietsteile  ausgeschlossen  wäre,  könnte  durch  die  Absetzung; 
der  Dynastie,  durch  eine  Militärkonvention  oder  durch 
andere  entsprechende  Maßnahmen  Sicherheit  geschaffen  werden. 
Da  der  Kriegsminister  sich  bereit  zeigte,  die  Beschränkung  einer 
Annexion  auf  strategische  Grenzberichtigungen  und  auf  die 
dauernde  Besetzung  eines  Brückenkopfes  jenseits  der  Save  gutzu- 
heißen, wurde  von  den  versammelten  Ministern  einstimmig  be- 
schlossen: 

„dcß  sofort  bei  Beginn  des  Krieges  den  fremden  Mächten  er- 
klärt werde,  daß  die  Monarchie  keinen  Eroberungskrieg 
führe  und  nicht  die  Einverleibung  des  Königreichs  beabsichtig!. 
Natürlich  sollen  strategisch  notwendige  Grenzberichtigungen,  so- 
wie die  Verkleinerung  Serbiens  zugunsten  anderer  Staaten  sowie 
eventuelle  notwendige  vorübergehende  Besetzungen  serbischer 
Gebtete  durch  diesen  Beschluß  nicht  ausgeschlossen  werden."  (Rot- 
buch von  1919,  S.  65—67.) 

Von  diesem  ganzen  Programm  teilte  man  vorsichiigerweise  den 
Mächten  nur  den  ersten  Satz  mit,  daß  „die  Monarchie  keinen  Er- 
oberungskrieg" führe.  Man  unterschlug  der  Öffentlichkeit  die  wei- 
teren Sätze,  die  ift  Wirklichkeit  das  verleugnete  Programm  des  Gra- 
fen Hoyos  enthielten  und  auch  d&xi  Vorbehalt  des  Grafen  Berchtold 
nicht  ausschlössen,  den  er  so  fein  in  die  Worte  gekleidet  hatte,  es 
werde  uns  „am  Ende  des  Krieges  nicht  mehr  möglich  sein,  nichts 
zu  annektieren", 

59 


Tisza  v/ar  merkwürdigerv/eise  mit  diesem  Abschluß  ganz  einver- 
standen. Er  machte  rwar  nicht  die  Eroberung,  wohl  aber  die 
Vernichtung  Serbi2Ds  zum  Kriegsziel.  Dorthin  sollte  also  der 
Weg  „etwa"  führen  rsacli  den  Absichten  der  österreichischen 
Staatslenker. 

Wohin  er  wirklich  führte,  hat  uumiltclbar  vorher,  am  16,  Juli, 
Fürst  Lichnowsky  dem  Reichskanzler  in  einem  trefflichen  Expose 
auseinandergesetzt,  das  hier  vollständig  wiedergegeben  sei. 

Lichnowsky  schrieb: 

„Vom  Standpunkt  des  Grafen  Berchtold  ist  es  vollkommen  be- 
greiflich, daß  er  seine  durch  den  Bukarester  Frieden  stark  er- 
schütterte Stellung  und  den  durch  den  Abfall  Rumäniens  vermin- 
derten Einfluß  der  Monarchie  auf  dem  Balkan  dadurch  wieder  zu 
heben  gedenkt,  daß  er  die  jetzige  verhältnismäßig  günstige  Gelegen- 
heit zu  einem  Waffengange  mit  den  Serben  benutzt.  Die  leitenden 
militärischen  Persönlichkeiten  in  Österreich  haben  bekanntlich 
schon  seit  längerer  Zeit  dahin  gedrängt,  das  Ansehen  der  Mon- 
archie durch  einen  Krieg  zu  befestigen.  Einmal  war  es  Italien,  dem 
der  Irredentismus  ausgetrieben,  ein  andermal  Serbien,  das  durch 
Kriegstaten  ä  la  Prinz  Eugen  zur  Entsagung  und  zu  besseren  Sitten 
gezwungen  werden  sollte.  Ich  begreife,  wie  gesagt,  diesen  Stand- 
punkt der  österreichischen  Staatsleiter  und  würde  in  ihrer  Lage 
vielleicht  schon  früher  die  serbischen  Wirren  dazu  benutzt  haben, 
um  die  südslawische  Frage  im  Habsburgischen  Sinne  zu  lösen. 

Die  erste  Voraussetzung  für  eine  derartige  Politik  müßte  aber 
ein  klares  Programm  sein,  das  auf  der  Erkenntnis  beruht,  daß  der 
heutige  Staats-  und  völkerrechtlichs  Zustand  innerhalb  der  serbo- 
kroatischen Völkerfamilie,  der  einen  Teil  dieser  nur  durch  die 
Religion,  nicht  aber  durch  die  Rasse  gespaltenen  Nation  dem 
österreichischen,  einen  anderen  dem  ungarischen  Staat,  einen  drit- 
ten der  Gesamtmonarchie  und  einen  vierten  und  fünften  endlich 
unabhängigen  Königreichen  zuweist,  auf  die  Dauer  nicht  haltbar 
ist.  Denn  das  Bestreben,  den  geheiligten  status  quo  aus  Bequem- 
lichkeitsgründen unter  allen  umständen  aufrechtzuerhalten,  hat 
schon  oft  und  so  erst  bei  der  jüngsten  Balkankrise,  zu  einem  völli- 
gen Zusammenbruch  des  auf  diesen  Grundlagen  erbauten  politi- 
schen Kartenhauses  geführt. 

Zunächst  bezweifle  ich  nun,  daß  in  Wien  ein  großzügiger  Plan, 
der  allein  die  Grundlage  einer  dauernden  Regelung  der  südslawi- 
schen Frage  bieten  v/ürde,  ich  meine  den  Trialismus  mit  Ein- 
schluß  Serbiens,   gefaßt   worden   ist.     Nach   meiner   Kenntnis   der 

60 


dnrli^en  Verhiiltriissc  glaiibe  ich  auch  gar  nicht,  daß  man  in  der 
Lage  ist,  eine  derartige  slaatsrccutiiche  Uaiijestaliung  der  Mon- 
archie in  die  Wege  zu  leiten.  Denn  es  wäre  liierzu  vor  allem  der 
Widerstand  Ungarns  zu  überwinden,  das  sich  gegen  eine  Abtretung 
von  Kroatien  mit  Fiume  auf  das  äußerste  v/ehren  würde.  Zur 
Durchführung  eines  derartigen  Programms  fehlt  es  in  Wien  auch 
an  der  hierzu  geeigneten  kraftvollen  Persönlichkeit,  Man  sucht 
dort  vielmehr  wohl  nur  den  Bedürfnissen  des  Augenblicks  zu  (ge- 
nügen und  ist  froh,  wenn  die  vielen  politischen  Schwierigkeiten, 
die  niemals  aussterben,  da  sie  sich  aus  der  Verschiedenartigkeit 
der  Zusammensetzung  des  Reiches  ergeben,  so  weit  behoben  sind, 
daß  Aussiciit  besteht,  wieder  einige  Monate  fortwursteln  zu  können. 

Eine  militärische  Züchtigung  Serbiens  hätte  daher  niemals  den 
Zv/eck  oder  das  Ergebnis  einer  befriedigenden  Lösung  der  so  über- 
aus schwierigen  südslawischen  Frage,  sondern  bestenfalls  den  Er- 
folg, die  mühsam  beigelegte  orientalische  Frage  von  neuem  ins 
Rolbn  gebracht  zu  haben,  um  Österreich  eine  moralische  Genug- 
tuung zu  verschaffen. 

Ob  Rußland  und  Rumänien  hierbei  müßig  zusehen  und  Öster- 
reich freie  Hand  lassen  würden,  werden  Euere  Exü:ellenz  besser 
zu  beurteilen  in  der  Lage  sein  als  ich.  Nach  meinen  hiesigen  Ein- 
drücken, namentlich  aber  nach  den  vertraulichen  Unterhaltungen, 
die  ich  mit  Sir  Edward  Grey  gehabt  habe,  glaube  ich,  daß  meine 
kürzlich  in  Berlin  vertretenen  Ansichten  über  die  Absichten  Roaß- 
lands  uns  gegenüber  zutrafen,  Sir  Edward  Grey  versicJiert  mir, 
daß  man  in  Rußland  nicht  daran  denke,  mit  uns  Krieg  führen  zu 
wollen.  Ähnliches  sagt  mir  mein  Vetter  Graf  Benckendorff.  Eine 
gewisse  antideutsche  Stimmung  kehre  dort  von  Zeit  zu  Zeit  regel- 
mäßig wieder,  das  hänge  mit  dem  slawischen  Empfinden  zusam- 
men. Dieser  Strömung  gegenüber  bestehe  aber  immer  eine  starke 
prodeutsohe  Partei.  Weder  der  Kaiser  noch  irgendeine  der  maß- 
gebenden Persönlichkeiten  sei  antideutsch  und  seit  der  Beilegung 
der  Liman-Frage  sei  keine  ernste  Verstimmung  wieder  eingetreten. 
Hingegen  gab  Graf  Benckendorff  offen  zu,  daß  ein  starkes  anti- 
österreichisches Empfinden  in  Rußland  bestehe.  Es  denke  aber 
dort  niemand  daran,  Teile  von  Österreich,  wie  etwa  Galizien,  er- 
obern zu  wollen. 

Ob  angesichts  dieser  Sliuauung  es  möglich  sein  würde,  die  rus- 
sische Regierung  beim  österreichisch-serbischen  Waii'engange  zur 
passiven  Assislenz  zu  bewegen,  vermag  ich  nicht  zu  beurteilen. 
Was  ich  aber  glaube  mit  Bestimmtheit  sagen  zu  können,  ist,  daß 

61 


es  nicht  gelingen  wird,  im  Kriegsfälle  die  hiesige  öffentliche  Mei- 
nung zuungunsten  Serbiens  zu  beeinflussen,  selbst  durch  Herauf- 
beschwörung der  blutigen  Schatten  Dragas  und  ihres  Buhlen,  deren 
Beseitigung  vom  hiesigen  Publikum  schon  längst  vergessen  ist  und 
daher  zu  den  historischen  Ereignissen  gehört,  mit  denen,  soweit 
außerbritische  Länder  in  Frage  kommen,  man  hier  im  allgemeinen 
weniger  Vertrautheit  besitzt,  als  bei  uns  etwa  der  durchschnittliche 
Quartaner, 

loh  bin  nun  weit  entfernt,  für  eine  Preisgabe  unserer  Bundes- 
genossenschalt  oder  unseres  Bundesgenossen  einzutreten.  Ich  halte 
das  Bündnis,  das  sich  in  dem  Empfindungsleben  beider  Reiche 
eingelebt  hat,  für  notwendig  und  schon  mit  Rücksicht  auf  die  vielen 
in  Österreich  lebenden  Deutschen  für  die  natürliche  Form  ihrer 
Zugehörigkeit  zu  uns.  Es  fragt  sich  für  mich  nur,  ob  es  sich  für 
uns  empfiehlt,  unseren  Genossen  in  einer  Politik  zu  unterstützen 
bzw.  eine  Politik  zu  gewährleisten,  die  ich  als  eine  abenteoierliche 
ansehe,  da  sie  v/eder  zu  einer  radikalen  Lösung  des  Problems  noch 
zu  einer  Vernichtung  der  großserbischen  Bewegung  führen  wird. 
Wenn  die  k.  u.  k.  Polizei  und  die  bosnischen  Landesbehörden  den 
Thronfolger  durch  eine  , .Allee  von  Bombenv/crfern"  geführt  haben, 
so  kann  ich  darin  keinsn  genügenden  Grund  erblicken,  damit  wir 
den  berühmten  pommerschen  Grenadier  für  die  österreichische 
Pandurenpolilik  aufs  Spiel  setzen;  nur  damit  das  österreichische 
Selbstbewußtsein  gekräftigt  werde,  das  in  diesem  Falle,  wie  die 
Aera  Ährenthal  gezeigt  hat,  sich  als  vornehmste  Aufgabe  die  mög- 
lichste Befreiung  von   der   Berliner   Bevormundung  hinstellt. 

Sollte  aber  wirklich  für  unsere  politische  Haltung  die  Ansicht 
ausschlaggebend  sein,  daß  nach  Verabreichung  des  ,, Todesstoßes" 
an  die  großserbischc  Bewegung  das  glückliche  Österreich  von  die- 
ser Sorge  befreit  sich  uns  für  die  geleistete  Hilfe  dankbar  erweisen 
Avird,  so  möchte  ich  die  Frage  nicht  unterdrücken,  ob  nach  Nieder- 
werfung des  ungarischen  Aufstandes  durch  die  Hilfe  des  Kaisers 
Nikolaus  und  die  vielseitige  Inanspruchnahme  des  Galgens  nach 
Bezwingxmg  der  Ungarn  bei  Vilagos  und  unter  der  Oberleitung  des 
kaiserlichen  Generals  Haynau  die  nationale  Bewegung  in  Ungarn 
erdrückt  \sairde  und  ob  die  rettende  Tat  des  Zaren  ein  inniges 
und  vertrauensvolles  Verhältnis  zwischen  beiden  Reichen  begründet 
hat." 

So  Lichnowsky  am  16,  Juli,  Natürlich  hatten  alle  seine  War- 
nungen den  üblichen  Erfolg  von  Kassandrarufen.  Sie  wurden 
absolut  nicht  begriffen. 

62 


Inzwischen  war  Poincares  Abreise  nach  Petersburg  gekommen, 
ohne  daß  die  Note  an  Serbien  abgegangen  war.  So  entschloß  man 
sich  wie  wir  schon  gesehen,  mit  ihrer  Überreichung  zu  warten,  bis 
Poincare  Petersburg  verlassen  hatte.  Darüber  berichtete  Tschirschky 
am  14.  Juli: 

„Nachdem  mich  Graf  Tisza  verlassen  hatte,  bat  Graf  Berchtold 
mich  zu  sich,  um  mir  seinerseits  das  Ergebnis  der  heutigen  Be- 
sprechung mitzuteilen.  Zu  seiner  großen  Freude  sei  allseitige 
Übereinstimmung  über  den  Tenor  der  an  Serbien  zu  übergebenden 
Note  erzielt  worden.  Graf  Tisza  sei  seiner,  des  Ministers  Auf- 
fassung in  erfreulicher  Weise  entgegengekommen  und  habe  sogar 
in  manche  Punlite  eine  Verschärfung  hineingebracht.  Allerdings 
habe  sich  in  technischer  Beziehung  die  Unmöglichkeit  fierausge- 
stellt,  die  Note  schon  am  16.  oder  18.  in  Belgrad  zu  übergeben. 

Es  habe  Einmütigkeit  darüber  in  der  heutigen  Besprechung  be- 
stariden,  daß  es  empfehlensiuert  sei,  jedenfalls  die  Abfahrt  des 
Herrn  Poincare  aus  Petersburg  abzuwarten,  elie  man  Schritte  in 
Belgrad  tue  (schade!  W.),  denn  es  sei,  wenn  möglich,  zu  ver- 
meiden, daß  in  Petersburg  bei  Champagner  Stimmung  und  unter 
dem  Einfluß  der  Herren  Poincare,  Isivolsky  und  der  Großfürsten 
eine  Verbrüderung  gefeiert  werde,  die  dann  die  Stellungnahme 
beider  Mächte  beeinflussen  und  womöglich  festlegen  würde.  Es 
sei  auch  gut,  wenn  die  Toaste  nach  der  Übergabi?  der  Note  er- 
ledigt seien.  Es  würde  also  die  Übergabe  am  25.  Juli  erfolgen 
können. 

Graf  Berchtold  bat  rrdch,  wie  dies  auch  Graf  Tisza  getan,  aus- 
drücklich  und  wiederholt  meiner  Regierung  gegenüber  keinen 
Zweifel  darüber  zu  lassen,  daß  lediglich  die  Anwesenheit  Poin- 
cares in  Petersburg  der  Grund  für  den  Aufschub  der  Übergabe  der 
Note  in  Belgrad  sei,  und  daß  man  in  Berlin  vollkommen  sicher 
sein  könne,  daß  von  einem  Zögern  oder  einer  Un- 
schlüssigkeit  hier  keine  Rede  sc  i." 

Diese  steten  Versicherungen,  Berlin  könne  sich  auf  Wiens  Kriegs- 
willen verlassen,  sind  sehr  bemerkenswert. 

Im  Wiener  Ministerrat  vom  19,  Juli  erklärte  auch  Berchtold,  er 
sei  gegen  jede  unnötige  Verscliiebung, 

„da  man  schon  jetzt  beginne,  in  Berlin  nervös  zu  werden 
und  Nachrichten  über  unsere  Intentionen  schon  nach  Rom  durch- 
gesickert seien,  so  daß  er  nicfit  für  unerwünschte  Zwischenfälle  gut- 
stehen könne,  wenn  man  noch   die  Sache  hinausschieben  würde. 

63 


Conrad  v.  Hetzendorf  dränge  auf  Eile.  Der  Kriegsminister  erklärt: 
für  die  Mobilmachung  sei  alles  bereit!" 

Man  wollte  also  die  Note  so  bald  als  möglich  überreichen,  aber 
nicht  früher,  als  der  französische  Präsident  Rußland  verlassen. 
Es  ist  ergötzlich,  zu  sehen,  mit  welcher  Sorgsamkeit  nun  dessen 
Reiseroute  studiert  wird  un'd  einer  der  beiden  Verschworenen  dem 
andern  seine  Beobachtungen  über  die  Bewegungen  des  ahnungs- 
losen Wanderers  zukommen  läßt. 

Am  17.  Juli  wird  aus  Wien  mitgeteilt,  man  werde  die  Note 
schon  am.  23.  Juli  übergeben,  da  an  diesem  Tage  Poincare  Peters- 
burg verlasse.  Nun  aber  ^s^Jl■de  sogar  die  Stunde  der  Abfahrt 
wichtig. 

Am  21.  Juli  teilt  der  Admiralstab  der  AJarine  Jagov/  mit,  die 
Abfahrt  von  Kronstadt  sei  auf  den  23.  um  10  Uhr  abends  fest- 
gesetzt. Am  selben  Tage  telegraphiert  Jagow  an  den  Gesandten 
in  Petersburg  die  Frage: 

„Um  wieviel  Ufir  ist  am  Donnerstag  Abfahrt  des  Präsidenten  von 
Kronstadt  vorgesehen?" 

Am  22.  telegraphiert  Jagow  nach  Wien: 

„Hatte  Graf  Pourfales  nach  Programm  des  Besuches  Poincares 
befragt.  Derselbe  meldet,  daß  Präsident  Donnerstag  abend  11  Uhr 
von  Kronstadt  abfährt.  Dies  wäre  nach  mitteleuropäischer  Zeit 
9,30  Uhr.  Wenn  Demarche  in  Belgrad  morgen  nachmittag  5  Uhr 
gemacht  wird,  würde  sie  also  noch  während  Anwesenheit  Poin- 
cares in  Petersburg  bekannt  werden." 

Darauf  antwortet  Tschirschky  am  23.: 

„K.  u.  k.  Regierung  dankt  für  Information.  Baron  Giesl  ist 
angewiesen,  Übergabe  um  eine  Stunde  zu  verschieben." 

So  kam  es,  daß  die  Note  am  23.  ima  6  Uhr  abends  überreicht 
wurde. 

Man  sieht,  welche  Sorgen  die  österreichischen  und  deutschen 
Minister  vor  Ausbruch  des  Weltkrieges  plagten. 

Eine  falsche  Rechnung, 

Man  hatte  beabsichtigt,  überrascliend  loszuschlagen,  um  Europa 
ehe  es  recht  zur  Besinnung  gekommen  war,  vor  vollendete  Tat- 
sachen zu  stellen,  denen  es  sich  am  ehesten  beugen  mochte.  In 
dieser  Weise  hoffte  man  durch  die  Überrtmipelung  mit  der  Kriegs- 
erklärung den  Weltfrieden  zu  erhalten. 

Das  war  eins  Friedenspolitik  eigener  Art,  dennoch  wagt  noch 
das  deutsche  Weißbuch  vom  Juni  1919  die  friedlichen  Absichten  der 

64 


Reichsregierung  von  1914  zu  beteuern.  Diese  sollen  daraus  her- 
vorgehen, daß  sie  wohl  die  Möglichkeit  eines  Krieges  mit 
Rußland  in  Betracht  zog,  aber  mit  der  Wahrscheinlich- 
keit  eines   allgemeinen   Krieges   nicht  rechnete, 

Sie  hoffte  sogar,  Rußland  werde  sich  v/ieder,  wie  schon  bei  den 
früheren  Balkankrisen,  einsdiüchtern  lassen,  wenn  man  es  über- 
rumpelte, vor  vollendete  Tatsachen  stellte  umd  nicht  nachgab.  Im 
übrigen  verließ  man  sich  auf  sein  Glück. 

Noch  am  28.  Juli  berichtete  Baron  Beyens  aus  Berlin: 

„In  Wien  wie  in  Berlin  war  man  überzeugt,  trotz  der  jüngst  erst 
zwischen  dem  Zaren  und  Poincare  ausgetauschten  offiziellen  Ver- 
sicherungen über  die  vollständige  Rüstung  der  Armeen  des  Zwei- 
bundes sei  Rußland  nicht  imstande,  einen  europäischen  Krieg  zu 
unternehmen  und  es  würde  nicht  wagen,  sich  in  ein  so  furchtbares 
ß.benteuer  zu  stürzen.  Die  beunruhigende  Lage  im  Innern,  revo- 
lutionäre Umtriebe,  unvollständige  Rüstung,  unvollkommene  Ver- 
kehrswege —  alle  diese  Gründe  zwängen  die  russische  Regierung, 
ohnmächtig  der  Exekution  Serbiens  zuzusehen.  Dieselbe  gering- 
schätzige Meinung  hegte  man,  wenn  nicht  von  der  französischen 
Armee,  so  doch  von  dem  Geist,  der  in  den  Regierangskreisen 
Frankreichs  herrscht  ... 

Die  Meinung,  daß  Rußland  einem  europäischen  Krieg  nicht  ge- 
wachsen ist,  herrschte  nicht  nur  im  Schoß  der  kaiserlichen  Regie- 
rung, sondern  auch  bei  den  deutschen  Industriellen,  deren  Spezia- 
lität Kriegslieferungen  sind.  Der  Kompetenteste  unter  ihnen,  um 
ein  Beispiel  anzuführen,  Herr  Krupp  von  Bohlen,  versicherte  einem 
meiner  Kollegen,  die  russische  Artillerie  sei  weit  davon  entfernt, 
gut  and  vollständig  zu  sein,  während  die  deutsche  niemals  besser 
gewesen  sei.  Er  fügte  hinzu:  Es  wäre  für  Rußland  ein  Wahnsinn. 
unter  diesen  Bedingungen  den  Krieg  an  Deutschlnad  zu  erklären." 

Diese  Mitteilung  Beyens  wird  bestätigt  durch  den  oben  mitgeteil- 
ten Bericht  Szögyenys  über  sein  Gespräch  mit  Wilhelm  am  5.  Juli, 
der  seinerseits  wieder  seine  Bestätigung  findet  in  dem,  was  Tirpitz 
in  seinen  Erinnerungen  vom  6,  Juli  erzählt:  ^ 

„Nach  den  Ausführungen,  die  er  (Kaiser  V/ilhelm)  am  Vor- 
mittag des  6.  Juli  meinem  Amtsvertreter  im  Park  des  Potsdamer 
Neuen  Palais  machte,  hielt  der  Kaiser  ein  Einf^rsifen  Rußlands 
zur  Deckung  Serbiens  für  nickt  wahrscheinlich,  weil  der  Zar  die 
Königsmörder  nicht  unterstützen  würde  und  Rußland  zurzeit 
militärisch  und  finanziell  kriegsunfähig  wäre.  Der  Kai- 
ser setzte  ferner  etwas  sanguinisch  voraus,  Frankreich  würde  Ruß- 

65 


land  bremsen,  wegen  Frankreichs  ungünstiger  Finanzlage  und 
seines  Mangel  an  schwerer  Artillerie.  Von  England  sprach  der 
Kaiser  nicht.  An  Verwicklungen  mit  diesem  Staat  wurde  über- 
haupt nicht  gedacht."     fS.  209.) 

In  gleichem  Sinne  äußerte  sich  Jagow  am  18.  Juli  in  einem 
Briefe  an  Lichnowsky: 

„Je  entschlossener  sich  Österreich  zeigt,  je  energischer  wir  es 
stützen,  um  so  eher  wird  Rußland  still  bleiben.  Einiges  Gepolter 
wird  in  Petersburg  zwar  nicht  ausbleiben,  aber  im  Grunde  ist  Ruß- 
land jetzt  nicht  schlagfertig.  Frankreich  und  England  werden  jetzt 
auch  den  Krieg  nicht  wünschen.  In  einigen  Jahren  wird  Rußland 
nach  aller  kompetenten  Annahme  schlagfertig  sein.  Dann  erdrückt 
es  uns  durch  die  Zahl  seiner  Soldaten,  dann  hat  es  seine  Ostsee- 
flotte und  seine  strategischen  Bahnen  gebaut.  Unsere  Gruppe 
wird  inzwischen  immer  schwächer.  In  Rußland  weiß  man  es  wohl, 
und  will  deshalb  für  einige  Jahre  absolut  noch  Ruhe.  Ich  glaube 
gern  Ihrem  Vetter  Benckendorff,  daß  Rußland  jetzt  keinen  Krieg 
mit  uns  will.  Dasselbe  versichert  Sasonow.  Aber  die  Regierung 
in  Rußland,  die  heute  noch  friedliebend  und  halbwegs  deutsch- 
freundlich ist,  wird  immer  schwächer,  die  Stimmung  des  Slawen- 
tums immer  deutschfeindlicher  .  .  .  Ich  will  keinen  Präventiv- 
krieg.   Aber  wenn  der  Kampf  sich  bietet,  dürfen  wir  nicht  kneifen." 

Also  Jagow  glaubt  nicht,  daß  Rußland  im  Moment  Krieg  führen 
kann  und  wand.  Er  will  auch  einen  Präventivkrieg  nicht  geradezu 
erzwingen.  Aber  wenn  er  doch  kommt,  ist  er  eigentlich  ein  Glücks- 
fall für  das  Deutsche  Reich  und  seinen  Verbündeten. 

Das  war  in  jenen  Tagen  eine  verbreitete  Meinung  nicht 
nur  in  Österreich,  sondern  auch  in  Deutschland.  Unmittelbar 
nach  Kriegsaitsbruch  erklärte  Herr  Paul  Rohrhach,  eine  alldeut- 
sche Größe  und  mit  den  Gedankengängen  des  deutschen  Ge- 
neralstabs wohl  vertraut: 

„Für  uns,  d.  k.  für  Deutschland  und  Österreich-Ungarn,  bestand 
die  Hcuptzorge  diesmal  darin,  daß  wir  durch  eine  vorübergehende 
und  sckeir.bare  Nachgiebigkeit  Rußlands  moralisch  gezwungen 
werden  konnten,  zu  warten,  bis  Rußland  und  Frank- 
reich wirklich  bereit  wäre  n."  (Der  Krieg  und  die  deut- 
sche Politik,  Dresden,  Verlag  „Das  größere  Deutschland", 
S.  82,  83.) 

Für  die  Kriegnbegierde  dieser  Kreise  ist  es  bezeichnend,  daß  sie 
den   Krieg,   als   er  v/irklich  hereinbrach,  nicht  angstvoll  oder  mit 

66 


Trauer,   als   eine   furchtbare  Katastrophe,   sondern   mit   Jubel,   als 
eine   Erlösung   begrüßten. 

Am  7.  Juni  1915  erzählte  der  König  von  Bayern: 
„Auf  die  Kriegserklärung  Rußlands  fol^Je  die  Frankreichs,  und 
als  dann  auch  noch  die  Engländer  über  uns  herfielen,  da  habe  ich 
gesagt: 

„Ich  freue  mich  darüber,  und  ich  freue  mich  des- 
wegen,  weil  wir  jetzt  mit  u  ns  er  n  Feinden  Ab- 
rechnung halten  können;  und  weil  wir  jetzt  endlich 
einen  direkten  Ausgang   vom   Rhein   zum   Meere  bekommen." 

Das  war  die  Friedensliebe  deutscher  Regenten  beim  Ausbruch 
des  Krieges.  Aber  sicher  waren  nicht  alle  so  dumm  und  leicht- 
fertig, den  Krieg  zu  ersehnen.  Die  entscheidenden  Männer  des 
Auswärtigen  Amtes  „riskierten"  ihn  allerdings,  hofften  indes  doch, 
es  werde  wieder  so  gehen,  wie  1909  und  1913,  wo  Rußland  wegen 
mangelnder  Rüstung  zurückwich,  Sie  zogen  nicht  in  Betracht, 
daß  das  russische  Reich  diesmal  auf  eine  besonders  harte  Probe 
gestellt  würde:  es  sollte  ohne  Schwertstreich  alle  seine  politi- 
schen Positionen  auf  dem  Balkan  räumen,  diesen  völlig  an  Öster- 
reich ausliefern. 

Indes,  wenn  man  überraschend  handelte,  Rußland  keine  Zeit 
ließ,  sich  mit  seinen  Freunden  zu  verständigen,  dann  war  es  am 
ehesten  möglich,  es  ,, friedlich"  auf  die  Knie  zu  zv/ingen.  Sollte 
es  sich  aber  unerwarteterweise  wehren,  dann  hatte  man  mili- 
tärisch auch  die  besten  Aussichten,  wenn  man  dem  Gegner  mög- 
lichst wenig  Zeit  ließ,  sich  vorzubereiten. 

Die  Einschläferung  Europas. 
Die  öffentliche  Meinung  mußte  unter  allen  Umständen  einge- 
schläfert werden  bis  zu  dem  Zeitpunkt,  wo  man  losgehen  kormte. 
Das  v/ar  nicht  so  einfach.  Man  wollte  das  Ausland  kalmieren 
und  gleichzeitig  die  eigene  Bevölkerung  in  Kriegsstimmung  ver- 
setzen, was  unbedingt  notwendig  war,  wollte  man  nicht  von  Anfang 
an  in  seinen  Aktionen  gelähmt  sein.  Und  anderseits  scheint 
keiner  der  beiden  Verbündeten  dem  andern  recht  getraut  zu  haben. 
Jeder  v/itterte  bei  dem  andern  „Flauheit",  wenn  die  Presse  nicht 
energisch  hetzte. 

Das  gab  zu  mancher  erbaulichen  Darlegung  Anlaß: 
So  telegraphiert  am  18.  Juli  Jagow  an  Tschirschky: 
„Norddeutsche  bringt  morgen  Bemerkungen  zum  österreichisch' 
serbischen   Streit,    die   mit   Rücksicht   auf   europäische   Diplomatie 
absichtlich  mild  gefaßt  sind.     Das  hochoffiziöse  Blatt  sollte  nicht 

67 


vorzeitig,  alarmieren.  Bitte  dafür  zu  sorgen,  daß  dies  nicht 
fäl  schliche)  weise  als  deutsches  Abrücken  von  dortiger  Ent- 
schlossenheit gedeutet  wird." 

Vorher  schon,  am  15.  Juli,  hatte  Berchtold  sich  zu  Szögyeny 
nach  Berlin  geäußert; 

„Aus  dieser  auch  uns  nicht  erwünschten  Verzögerung  läßt  sich 
auch    die   Haltung    unserer    offiziösen    Presse    unschwer   erklären. 

Wir  müssen  momentan  einerseits  ein  Abflauen  der  unserer 
Politik  günstigen  öffentlichen  Meinung  der  Monarchie  verhindern, 
anderseits  nicht  durch  eine  die  Situation  systematisch  zuspitzende 
Sprache  unserer  Presse  bei  andern  Mächten  etwa  einen  Media- 
tionsgedanken aufkommen  lassen." 

Zu  der  Regelung  der  Sprache  der  Press«  gesellten  sich  noch 
andere  Einschläferungsmittel,  Vor  allem  das  Verreisen  der  mili- 
tärischen Chefs,  Wir  haben  schon  gesehen,  daß  der  Kriegs- 
minister und  der  Chef  des  Generalstabs  in  Österreich  ausdrück- 
lich zu  dem  Zweck  der  Irreführung  Europas  auf  Urlaub  geschickt 
v/;irden, 

Wilhelm  bemerkt  dazu,  das  sei  kindisch.  Das  ist  nicht  recht 
zu  verstehen,  denn  er  selbst  ging  damals  auch  auf  Urlaub. 

Hier  ist  noclimals  auf  die  so  geheimnisvollen  Besprechungen  zu- 
rückzukommen, die  Wilhelm  vor  Antritt  seiner  Nordlandsfahrt  noch 
abgehalten  hat.  Und  ZM^ar  so  geheim  als  möglich  abgehalten,  um 
nicht  vorzeitig  zu  alarmieren.  Die  strenge  Geheimhaltung  bezeugt 
der  Schlußsatz  der  Bussche'schen  Aufzeichnung  vom  August  1917: 
„Quelle  durchaus  zuverlässig."  Es  handelte  sich  demnach  nicht 
um  eine  in  Regicrungskreisen  allgemein  bekannte  Tatsache,  sondern 
um  eine,  von  der  nur  wenige  Vertraute  wußten. 

Wenn  die  Öffentlidikeit  etwas  von  einem  Kriegsrat  erfahren 
hätte,  dann  war  sofort  der  Katze  die  Schelle  angehängt,  dann 
v/ußte  alle  Welt,  was  in  jenen  Beratungen  ausgeheckt  worden 
war.  So  unumgänglich  notv/endig  die  Zusammenkunft  mit  Militärs 
unmittelbar  nach  der  Besprechung  des  Kaisers  mit  Bethmann  da- 
durch geworden  war,  daß  der  Kaiser  sofort  darauf  seine  Nord- 
landsreise antrat,  so  v/ar  nicht  minder  notwendig  die  ängstliche 
Geheimhaltung  jener  Zusammeakunft. 

Diese  Nordlandrcise  war  vorher  geplant  gewesen,  Ihre  Ver- 
schiebung hätte  Verdacht  erregen  können,  Sie  wurde  nun  eben- 
falls ein  Mittel,  Europa  in  Sicherheit  zu  wiegen.  Wie  konnte 
eine    Ahnung    des    Ernstes    der    Situation    aufkomm.cn,    v/enn    der 

63 


deutsche    Kaiser    mit    seiner    Flotte    eine    Spazierfahrt    nach    dem 
Norden    un  lernahm  i 

Am  7.  Juli  trat  er  seine  Reise  an,  von  der  er  erst  am  27,  zu- 
rückkehrte. Natürlich  stand  er  auch  auf  hoher  See  in  steter  Ver- 
bindung mit  Berlin,  Das  Bestreben,  Europa  einzuschläfern, 
zeitigte  da  manche  eigenartigen  Blüten,  So  telegraphiert  am 
11.  Juli  der  Graf  Wedel  im  Gefolge  des  Kaisers  von  Bergen  aus: 

„Bei  Vorlage  des  vom  Auswäriigen  Amt  redigierten  üblichen 
GlückwuTJschtelegrammentwmfs  für  morgigen  Gebvristag  des 
Königs  von  Serbien  haben  S.  M.  mir  befohlen,  bei  Ew.  Exz.  an- 
zufragen, ob  ein  solches  Telegramm  im  gegenwärtigen  Augenblicfi 
notwendig   und   unbedenklich   erscheint." 

Worauf   Jagow  antwortet: 

„Da  Wien  noch  keinerlei  Schritte  in  Belgrad  unternommen  ha!, 
würde  Unterlassung  des  gewohnten  Telegramms  zu  sehr  auffallen 
und  eventuell  zu  frühzeitige  Beunruhigung  herbeiführen.  Befür- 
worte  dalter  Absendung." 

So  v/urde  auf  den  lieben  Vetter,  den  man  für  einen  blut- 
triefenden Mörder  erklärte,  rasch  noch  auf  zärtlichste  Weise  vom 
Himmel  aller  Segen  herabgefleht,  bevor  man  ihm  den  Dolch  in 
den  Rücken  stieß. 

So  vergnüglich  die  Lustfahrt  vor  dem  Beginn  des  großen 
Mordens  sein  mochte,  sie  machte  Wilhelm  schließlich  nervös, 
als  die  Entscheidung  nahte.  Der  Reichskanzler  wollte  ihn  solange 
als  möglich  fort  haben,  damit  Europa  ruhig  bleibe,  nicht  Lunte 
rieche.  Wilhelm  dagegen  begann  zu  fürchten,  die  brennende 
Lunte  könne  eine  vorzeitige  Explosion  hervorrufen  und  er  sei 
dann  mit  seiner  Flotte  an  der  norwegischen  Küste  den  Engländern 
preisgegeben  oder  Rußland  bekomme  bei  Kriegsbeginn  freie  Hand 
in  der  Ostsee.     Er  drängte  heim. 

Am  18,  Juli  bat  Jagow  den  Grafen  Wedel  um  genaue  Angabc 
der  Reiseroute  der  „Hobenzollern"  und  fügte  hinzu: 

.,Da  wir  eventuellen  Konflikt  zwischen  Österreich  und  Serbisn 
zu  lokalisieren  wünschen,  dürfen  wir  Welt  durch  verfrühte  Rück- 
kehr S.  M.  nicht  alarmieren,  anderseits  müßte  Allerhöchst  der- 
selbe erreichbar  sein,  falls  nicht  vorherzusehende  Ereignisse  auch 
für  uns  wichtige  Entscheidungen  (Mobilmachungen)  benötigen 
sollten.  Eventuell  wäre  an  Kreuzen  in  der  Ostsee  für  letzte 
Reisetage  zu  denken. 

60 


Am  19.  Juli  befiehlt  V/ilhelm,  die  Flotte  bis  zum  25.  zusammen- 
zuhalten, so  daß  sie  „Befehl  zum  Abbruch  der  Reise  schnell  aus- 
führen kann." 

Bethmann,  der  in  jener  Krisenzeit  statt  in  Berlin  auf  Hohen- 
Cnow  weilt  {auch  zur  Beruhigung  der  Nerven  Europas?)  tele- 
graphiert  daraufhin  am  21.   ans   Auswärtige   Amt: 

„Befehl  S.  M.  wegen  Zusammenhaltens  der  Flotte  bis  25.  läßt 
mich  besorgen,  daß,  wenn  alsdann  Ultimatum  abgelehnt  ist,  auf- 
fällige Flottenbewegungen  von  Balmholm  aus  (wo  der  Kaiser 
weilte)  befohlen  werden  könnten.  Auf  der  andern  Seite  könnte 
im  Falle  einer  Krise  falscher  Standort  der  Flotte  verhängnisvoll 
werden!" 

Daher  bat  Bethmann  um  die  Ansicht  des  Admiralstabs,  Dieser 
antwortete  am  22.  Juli,  im  Falle  einer  Kriegserklärung  Englands 
sei  „mit  Sicherheit  mit  einem  Überfall  unserer  Flotte  durch  die 
englische  zu  rechnen," 

Jagow  telegraphiert  dem  Reichskanzler  beruhigend,  England  sei 
ganz  friedlich,  lasse  seine  Flotte,  die  zu  Manövern  zusammen- 
gezogen  war,    am   27.   auseinandergehn. 

Am  23.  telegraphiert  dann  der  Reichskanzler  an  den  Grafen 
Wedel,  die  österreichische  Note  werde  „heute  nachmittag"  über- 
reicht, das  Ultimatum  laufe  am  25.  ab.  Deutschland  werde  zu- 
nächst sagen,  die  f^anze  Geschichte  gehe  es  nichts  an. 

„Erst  Eingreifen  anderer  Mächte  würde  uns  in  den  Konflikt 
einbeziehen.  Daß  dies  sofort  geschieht,  namentlich  daß  Eng- 
land sich  gleich  zum  Eingreifen  entschließt,  ist  nicht  anzu- 
nehmen: Schon  die  Reise  des  Präsidenten  Polncare,  der  fieute 
abend  Kronstadt  verläßt,  den  25.  Stockholm,  den  27.  Kopenhagen, 
den  29.  Chrisliania  besucht  und  den  31.  Dünkirchen  eintrifft, 
dürfte   alle   Entschlüsse   verzögern. 

Englische  Flotte  soll  nach  Mitteilungen  des  Admiralstabes  den 
27.  auseinandergehn  und  Heimatshäfen  aufsuchen.  Etwaige  vor- 
zeitige Rückberufung  unserer  Flotte  könnte  allgemeine  Beun- 
ruhigung hervorrufen  und  namentlich  in  England  als  verdächtig 
angesehen  werden." 

Doch  Wilhelm  traut  dem  Frieden  nicht,  er  gibt  am  25.  der 
Flotte  den  Befehl,  sich  zu  sofortiger  Heimreise  bereit  zu  halten. 
Bethmann  beschwört  den  Kaiser,  noch  zu  warten.  Darüber  kommt 
es  zu  einem  Zorresausbruch  des  Kaisers.  Das  Telegramm  des 
Reichskanzlers  mit  Wilhelms  Hinzufügungen  lautet:, 

70 


,.D@r  Chef  des  Admirahlabcs  der  Marine  teilt  mir  mit,  daß 
Ew.  M.  mit  Rücksicht  auf  ein  WoUftelegramm  (unerhört!  W.) 
der  Flotte  Befehl  zur  schleunigen  Vorbereitung  der  Heimreise  er- 
teilt haben  (unglaubliche  Zumutung!  Ist  mir  gar 
nicht  eingefallen!!!  Auf  die  M  e  l  d  u.n  g  meines 
Gesandten  von  der  Mobilmachung  in  Belgrad! 
Dieses  kann  Mobilmachung  Rußlands,  wird 
Mobilmachung  Österreichs  nach  sich  ziehen! 
In  diesem  Fall  muß  ich  meine  Streitmacht  zu 
Lande  und  zu  Wasser  beisammen  haben.  In  der 
Ostsee  ist  kein  einziges  Schiff!!  Ich  pflege  im 
Übrigen  militärische  Maßnahmen  nicht  nach 
einem  Wolffte  legramm  zu  treffen,  sondern  nach 
der  allgemeinen  Lage,  und  die  hat  der  Z  iv  il- 
k  anzl  er  (Zivil  vom  Kaiser  unterstrichen.  K.) 
noch   nicht  begriffen.      W.) 

Admiral  von  Pohl  -dürfte  E.  M.  inzwischen  die  Meldungen 
E.  M.  Marineattaches  in  London  und  des  Vertrauensmannes  der 
Marine  in  Portsmoulh  unterbreitet  haben,  wonach  die  englische 
Marine  keinerlei  auffällige  Maßnahmen  trifft  (braucht  sie 
nicht!  Sie  ist  bereits  kriegsbereit,  wie  die  Re- 
vue eben  gezeigt  hat  und  hat  mobilisiert!  W.J,  viel- 
mehr die  früher  vorgesehenen  Dislokationen  planmäßig  aus- 
führt. 

Da  auch  die  bisherigen  Meldungen  E.  M.  Botschafters  in 
London  erkennen  lassen,  daß  Sir  E.  Grey  vorläufig  wenigstens 
an  eine  direkte  Teilnahme  Englands  an  einem  eventuellen  euro- 
päischen Kriege  nicht  denkt  und  auf  tunlichste  Lokalisierung 
des  Österreich-ungarisch-serbischen  Konflikts  lünwirken  will,  wage 
ich  alleruntertänigst  zu  befürworten,  daß  E.  M.  vorläufig  keine 
verfrühte  Heimreise  der  Flotte  befelüen."  (W  e  nn  Rußland 
mobil  macht,  muß  meine  Flotte  schon  in  der 
Ostsee  sein,  also  fährt  sie  nach  Haus.     W.) 

Am  26.  Juli  beschwört  Bethmann  nochmals  seinen  kaiserlichen 
Herrn,  „vorläufig  in  Norwegen  zu  bleiben,  da  dies  England  seine 
geplante  Verrnittlungsaktion  in  Petersburg,  das  ersichtlich 
schwankend  ist,  wesentlich  erleichtern  wird."  Wozu  Wilhelm 
bemerkt: 

,,V/oher  ist  das  (Petersburgs  Schwanken)  zu  entnehmen?  Aus 
dem   mir   vorgelegten   Material   nicht." 

71 


Und  Vvorher  schon  sagt  er  zu  dem  Wunsch,  in  Norwegen 
zu  bleiben: 

„Es  gibt  eine  russische  Flotte!  In  der  Osises  sind  jetzt  auf 
Übungsfchrien  begrifhn  5  russische  Torpedobootsflottillen,  welche 
ganz  oder  teilj^'eise  in  16  Stunden  vor  den  Belten  stehn  und  die- 
selben sperren  können.  Port  Arthur  sollte  eine  Lehre  sein! 
Meine  Flotte  hat  Marschorder  nach  Kiel  und  dahin  fährt  sie!" 

Man  sieht,  Wilhelm  rechnet  nach  der  Übergabe  des  Ultimatums 
an  Serbien  mit  dem  sofortigen  Ausbruch  des  Weltkriegs,  Er 
dampfte  daher  cileads  heim,  Bethmann  Hollweg  zum  Trotz.  Er 
beginnt  sein  aktives  Eingreifen  in  die  Kriegspolitik  damit,  daß 
er  seinen  eigenen  „alleruntertänigst  zu  befürworten  wagenden" 
Kanzler  wie  einen  Stiefelputzer  anschnauzt  als  ein  Subjekt,  das 
die  allgemeine  Lage  noch  nicht  begriffen  hat.  Die  militaristische 
Überhebung  glaubt,  den  Kanzler  besonders  verächtlich  zu  be- 
handeln, wenn  sie  ihn  als  „Zivil  kanzler"  anspricht,  der  auf  die 
militärischen  Maßnahmen  nicht  den  geringsten  Einfluß  hat. 

Auf  der  andern  Seite  bezeugt  das  Telegramm  nicht  nur  die 
Unterwürfigkeit  Bethmanns,  der  sich  weniger  als  Zivil  k  a  n  z  1  e  r  , 
denn  als  Zivilknecht  geberdet,  sondern  auch  die  Kurzsichtig- 
keit und  Dummpfiffigkeit  seiner  Politik,  die  sich  einbildete,  die  Eng- 
länder über  die  Gefährlichkeit  des  österreichischen  Ultimatums 
dadurch  wenigstens  für  einige  Tage  wegzutäuschen,  wenn  er  den 
Kaiser   länger   an   der   norwegischen   Küste  ließ. 

Übrigens  erv/ies  sich  auch  seine  Spekulation  auf  Poincares 
Reise  als  verfehlt.  Er  hatte  gehofft,  sie  werde  alle  Entschlüsse 
der  Entente  verzögern  und  Österreich  bis  über  den  31.  Juli  hinaus 
freie  Hand  gegenüber  Serbien  lassen.  Aber  Poincare  hatte  es 
mit  der  Heimkehr  ebenso  eilig  wie  Wilhelm,  und  angesichts  der 
gefahrdrohenden  Situation  mit  Recht.  Er  sagte  Besuche  ab  und 
traf  schon  am  29-  Juli  in  Frankreich  ein. 

Nicht  minder  eifrig  hatte  gleichzeitig  Österreich  die  Politik  der 
Einschläferung  Europas  betrieben.  Doch  faßten  die  österreichi- 
schen Diplomaten  die  Sache  plumper  an.  Auch  stießen  sie  von 
vornherein  auf  größeres  Mißtrauen.  Seit  der  Aufdeckung  ihrer 
Fälscherkurststücke  gegen  Serbien  stand  der  Ruf  ihrer  Wahr- 
heitsliebe fast  ebenso  niedrig  im  Kurs,  wie  heute  die  österreichi- 
sche Valuta,  Sie  machten  diesem  Rufe  alle  Ehre,  indem  sie  die 
beruliigendsten  Versicherungen  über  ihre  versöhnlichen  Absichten 
abgaben,  unmittelbar  vor  der  Übergabe  ihres  Ultimatums,  das  ab- 
sichtlich   so   brutal   gehalten  war,    daß    es    unannehmbar   (>rs<-}u»n 


Der  französische  Botscliatter  iJumaine  in  Wien  berichtet  an; 
26.  Juli: 

„Herr  Schebeko  (russischer  BolschaJter  in  Wien)  ist  plötzlich 
von  einer  Reise  nach  Rußland  zurückgekehrt.  Er  hatte  sie  erst 
nach  der  vom  Grafen  Berchtold  gegebenen  Versicherung  ange- 
treten, daß  die  an  Serbien  gerichteten  Forderungen  höchst  an- 
nehmbar s  e  i  e  n." 

Am  23,  Juli  berichtet  der  stellvertretende  Minister  des  Äußern 
in  Paris,  Herr  Bienvenu  Martin  an  die  französischen  Bot- 
schafter: 

„Herr  Dirmaine,  den  ich  beauftragt  hatte,  die  Aufmerksamkeit 
der  österreichischen  Regierung  auf  die  in  Europa  entstandene  Un- 
ruhe zu  lenken,  erhielt  auf  seine  Frage  von  dem  Freiherrn  von 
Macchio  die  Versicherung,  der  Ton  der  österreichischen  Note 
und  die  darin  gestellten  Bedingungen  ließen  auf  eine 
friedliche  Lösung  rechnen.  Ich  weiß  nicht,  wie  weit 
man  diesen  Versicherungen  Glaubsn  beimessen  kann,  wenn 
man  die  Ge pflogenheiten  der  kaiserlichen  Kanz- 
lei  in   Betracht   zieh  t." 

Die  Gepflogenheiten  der  Diplomatie  keines  Landes  zeichnen 
sich  durch  übermäßige  Aufrichtigkeit  aus.  Aber  zu  einer  so  kurz- 
sichtigen Perfidie,  die  heute  etwas  behauptet,  dessen  Verlogen- 
heit sie  selbst  morgen  an  den  Tag  bringen  muß,  gehört  nicht  nur 
eine  Schamlosigkeit,  sondern  auch  eine  Dummheit,  die  doch,  trotz 
Oxenstierna,  außergewöhnlich  ist. 

Nach  derartiger  Vorbereitung  der  öffentlichen  Meinung  wurde 
das  Ultimatum  an  Serbien  am  23.  Juli  abends  überreicht. 

12.  Das  Ultimatum  an  Serbien. 

Die  Überreichungder  Note. 
Am  23.  Juli  wurde  die  österreichische  Note  in  Belgrad  über- 
geben. Sie  war  in  Wirklichkeit  ein  Ultimatum,  das  binnen 
48  Stunden  bedingungslose  Annahme  der  von  Österreich  er- 
hobenen Forderungen  verlangte.  Der  österreichische  Gesandte 
in  Belgrad,  Freiherr  von  Giesl,  hatte  die  Note  am  23,  in  einem 
Telegramm  nach  Wien  denn  auch  als  „Ultimatum"  bezeichnet,  er- 
hielt aber  daraufhin  die  Belehrung,  sie  sei  nvr  eine  „befristete 
Demarche",  da  ihre  Ablehnung  nicht  gleich  mit  der  Kriegser- 
klärung, sondern  zunächst  nur  mit  dem  Abbruch  der  diplomati- 
schen Beziehungen  beantwortet  werden  sollte. 

73 


Mit  derartigen  kleinlichen  Haarspaltereien  hofften  die  Staats- 
weisen vom  Ballplatz,  in  Europa  noch  ein  paar  Tage  länger  den 
Schein   ihrer   Friedfertigkeit   aufrecht   erhalten   zu   können. 

Am  24,  Juli  sollte  die  Note  den  Mächten  überreicht  werden, 
am  25,  hatte  Serbien  sie  zu  beantworten.  Diese  unanständige 
Eile  war  nach  so  langem  Zögern  absichtlich  gefordert  worden,  um 
jede  Beratung  Serbiens  mit  den  Mächten  und  der  Mächte  unterein- 
ander unmöglich  zu  machen  und  jede  Intervention  auszuschließen. 

Deutschland  beeilte  sich  sofort*  alle  Welt  un<l  auch  die 
eigenen  Vertreter  im  Ausland  zu  versichern,  daß  es  von  der  Note 
keine  Kenntnis  gehabt  und  auf  sie  nicht  den  mindesten  Einfluß 
genommen  habe,  daß  es  von  ihr  ebenso  überrascht  worden  sei, 
wie  die  übrigen  Mächte. 

So  telegraphierte  Jagow  an  den  deutschen  Gesandten  in  Stock- 
holm am  23,  Juli,  2  Uhr  nachmittags: 

„Allem  Anschein  nach  soll  Österreich-Ungarn,  welches 
sich  durch  die  großserbische  Agitation  in  seiner  Existenz  bedroht 
fühlt,  sehr  ernste  Forderungen  in  Belgrad  stellen.  Dieselben 
sind  uns  nicht  bekannt,  wir  betrachten  sie  als  interne 
Angelegenheit  Österreich-Ungarns,  auf  welche  uns  Einwirfiung 
auch  nicht  zustehen  würde." 

An  die  Botschafter  in  Paris,  London  und  Petersburg  tele- 
graphierte Zimmermann  am  24,   Juli: 

„In  hiesigen  diplomatischen  Kreisen  ist  Ansicht  verbreitet,  daß 
wir  Österreich-Ungarn  zu  scharfer  Note  an  Serbien  veranlaßt  und 
uns  an  deren  Abfassung  beteiligt  haben.  Gerücht  scheint  von 
Cambon  auszugehen.  Bitte  ihm  nötigenfalls  dort  entgegenzu- 
treten. Wir  haben  keinerlei  Einfluß  auf  Inhalt 
der  Note  geübt  und  ebensowenig  w  i  6  andere 
Mächte  Gelegenheit  gehabt,  dazu  vor  Publika- 
tion in  irgend  einer   Weise  Stellung  zu  nehme  n." 

An  dieser  erbaulichen  Instruktion  ist  nur  das  eine  richtig,  daß 
Cambon  in  der  Tat  von  Anfang  an  den  Braten  roch. 

Er  berichtet  am  24,  Juli  über  eine  Unterredung  mit  Jagow: 

„Ich  fragte  ihn,  ob  wirklich  das  Berliner  Kabinett  die  öster- 
reichischen Forderungen  in  keiner  Weise  gekannt  habe,  bevor  sie 
Belgrad  mitgeteilt  wurden.  Als  er  dies  bejahte,  sagte  ich  ihm, 
ich  sei  sehr  überrascht,  ihn  so  eifrig  sich  für  Ansprüche  ins  Zeug 
legen  zu  sehen,  deren  Umfang  und  Tragweite  er  nicht  ge- 
kannt habe. 

74 


„Wohl  beachtet,"  unterbrach  mich  Herr  v.  Jagow,  „nttr  weil 
wir  persönlich  mit  einander  plaudern,  erlaube  ich  Ihnen,  mir  das 
zu  sagen."     (Französ.  Gelbbuch  von  1914,  Nr.  30.) 

Die  gleiche  Versicherung  des  tugendhaft  entrüsteten  Jagow  er- 
hielt der  britische  Geschäftsträger,  Sir  H.  Rumboldt,  der  darüber 
am  25.  Juli  nach  London  berichtete: 

„Der  Staatssekretär  wiederholte  sehr  ernsthaft,  daß,  obwohl  er 
bezichtigt  worden  sei,  den  ganzen  Inhalt  der  Note  gekannt  zu 
haben,  er  tatsächlich  diese  Kenntnis  nicht  gehabt  habe."  (Blau- 
buch,  1914,  Nr.  18.) 

Über  diese  Besprechung  berichtete   Cambon  am   gleichen  Tage: 

„Der  britische  Geschäftsträger  hat  sich  ebenfalls,  wie  ich  es 
gestern  getan  habe,  bei  Herrn  v.  Jagow  erkundigt,  ob  Deutschland 
keine  Kenntnis  von  der  österreichischen  Note  gehabt  habe,  bev-or 
sie  abgeschickt  worden  sei,  und  hat  eine  so  unzweideutig  ver- 
neinende Antwort  erhalten,  daß  er  nicht  weiter  bei  dem  Thema 
bleiben  konnte.  Aber  er  konnte  nicht  umhin,  seine  Verwunde- 
rung über  die  Blankovollmacht  auszusprechen,  die  Deutschland 
Österreich  gegeben  habe."     (Gelbbuch,  Nr.  41.) 

Sir  Horace  Rumboldt,  der  damals  jene  Versicherungen  bekam, 
war  derselbe,  dessen  Äußerungen  über  „Deutschlands  gewohn- 
heitsmäßige Verlogenheit"  das  Weißbuch  vom  Juni  1919  zitiert, 
wie  wir  schon  gesehen  haben.  Vielleicht  kam  er  Ende  Juli 
1914  zuerst  zu  dieser  Auffassung. 

Wenn  das  Berliner  Auswärtige  Amt  behauptete,  es  habe 
„keinerlei  Einfluß  auf  den  Inhalt  der  österreichischen  Note  ge- 
übt und  ebensowenig  wie  andere  Mächte  Gelegenheit  gehabt,  da- 
zu vor  der  Publikation",  also  vor  dem  24.  Juli,  in  irgend  einer 
Weise  Stellung  zu  nehmen",  so  ist  nach  dem  bisher  schon  Mitge- 
teilten klar,  daß  es  damit  eine  bewußte  Unwahrheit  sagte.  Die 
deutsche  Regierung  hat  genau  gewußt,  die  Note  werde  so  gefaßt 
sein,  daß  kein  Staat,  der  seinö  Selbstbestimmung  achtete,  sie  an- 
nehmen konnte.  Die  deutsche  Regierung  hat  diese  Absicht  Öster- 
reichs nicht  nur  gewußt,  sondern  gebilligt  und  ermutigt. 

Später  hat  ja  das  Auswärtige  Amt  sich  über  seine  Kenntnis 
c'-»r  Note  vorsichtiger  ausgedrückt-  Es  leugnete  bloß  die  Kenntnis 
ihres  Wortlauts.  Den  habe  man  nicht  früher  kennengelernt 
als  die  übrigen  Mächte,  also  erst,  nachdem  die  Note  bereits  in 
Belgrad   überreicht  war. 

75 


Nicht  einmal   diese  Ausflucht  ist  stichhaltig. 

Bereits  am  21.  Juli  erhielt  Tschirschky  ein  Exemplar  der 
Note.  Er  telegraphierte  sie  nicht  nach  Berlin.  Vielleicht  um  das 
Geheimnis  des   Chiffrenschlüssels  nicht  zu  gefährden. 

Er  übersandte  die  Note  brieflich.  Sie  langte  daher  erst  am 
22.  Juli  nachmittags  im  Auswärtigen  Amte  an.  Die  anderen 
Mächte  erhielten  die  Note  aber  erst  am  24.;  es  ist  also,  selbst 
wenn  man  nicht  den  Inhalt  der  Note,  sondern  nur  ihre  Schluß- 
fassung in  Betracht  zieht,  falsch,  daß  Deutschland  die  Note  nicht 
früher  kannte,   als   die  andern   Großmächte. 

Herr  Dr.  Gooß  muß  diese  unbequeme  Tatsache  zugebe»,  er 
sucht  sich  oder  vielmehr  die  Bethmannsche  Regierung  damit  zu 
retten,  daß  er  behauptet,  der  Text  der  Note  konnte  dem  Aus- 
wärtigen Amt  in   Berlin 

„doch  erst  in  einem  Zeitpunkt  zukommen,  in  dem  eine  Be- 
einflussung des  Wiener  Kabinetts  durch  eingehende  Beratung  und 
Antragstellung  nicht  mehr  möglich  war." 

Herr  v.  Jagow  berichtet  in  seinem  Buch  über  den  Ausbruch 
des  Weltkriegs,  daß  Graf  Szögycny  in  den  Abendstunden  des 
22.  Juli  zwischen  7  und  8  Uhr  zu  ihm  kam  und  ihm  das  Ulti- 
matum brachte. 

„Nach  dem  Besuche  des  Grafen  Szögyeny  wurde  mir  dann  auch 
eine  inzwischen  eingegangene  Mitteilung  des  Ultimatums  seitens 
unseres  Botschafters  in   Wien  vorgelegt."     fS.   110.) 

Diese  Verspätung  ist  sicher  auffallend.  Über  24  Stunden 
brauchte  das  Ultimatum,  um  von  Wien  nach  Berlin  zu  kommen! 
Aber  auch  da  wäre  es  noch  früh  genug  angekommen,  daß  man 
seine  Übergabe  in  Belgrad  zu  verhindern  vermochte,  wenn  man 
wollte.  Jagow  behauptet,  er  habe  sofort  gesagt,  die  Note  sei 
„reichlich  scharf  und  über  den  Zweck  hinausgehend".  Der  Reichs- 
kanzler sei  derselben  Ansicht  gewesen. 

„Graf  Szögyeny  erwiderte,  da  sei  nun  nichts  mehr  zu  machen, 
denn  das  Ultimatum  sei  schon  nach  Belgrad  gesandt  und  solle 
dort  am  nächsten  Morgen  übergeben  werden." 

Und   dabei  beruhigten  sich  Reichskanzler  und   Staatssekretär. 

In  einer  Fußnote  bemerkte  Jagow  nach  den  Ausführungen  im 
Text  seines  Buches  nur  beiläufig: 

„Der  Botschafter  muß  sich,  falls  nicht  in  Wien  Schwankungen 
betr.  des  Moments  der  Übergabe  stattgefunden  haben,  hier  geirrt 
haben,  denn  in  Wirklichkeit  ist  das  Ultimatum  erst  abends  um 
6  Uhr  überreicht." 

76 


Das  soll  wohl  heißen,  daß  Jagow  durch  Szögyeny  über  den 
Zeitpunkt  der  Überreichung  des  Ultimatums  getäuscht  wurde! 
Er  hätte  gegen  diese  Überreichung  sicher  protestiert,  wenn  er  ge- 
wußt hätte,  daß  diese  erst  um  6  Uhr  abends  und  nioht  morgens 
stattfinden  werde. 

Wußte  er  das  aber  nicht?  Wir  haben  doch  eben  gesehen  (S.  64), 
wie  eifrig  Jagow  sich  bemühte,  herauszufinden,  zu  welcher  Abend- 
stunde am  23.  Poincare  Petersburg  verlasse.  Und  der  Staats- 
sekretär hatte  noch  am  Abend  des  22.  eine  Mitteilung  darüber 
nach  Wien  telegraphiert,  die  bewirkte,  (daß  die  Zeit  der  Über- 
reichung von  5  auf  6  Uhr  abends  verschoben  wurde.  Und  jetzt 
will  er  uns  glauben  machen,  er  habe  gar  nichts  davon  gewußt, 
und  gemeint,  die  Note  an  Serbien  werde  schon  am  Morgen 
übergeben! 

Am  11.  August  1917  schrieb  der  Staatssekretär  Zimmermann  an 
den  Unterstaatssekretär  v.  d,  Bussche: 
„Lieber  Bussche. 

Sachlich  stimmte  die  Angabe  der  Evening  News  insofern,  als  wir 
allerdings  das  serbische  Ultimatum  etwa  zwölf  Stunden  vor  Über- 
gabe erhielten.  Dagegen  ist  mir  durchaus  nicht  erinnerlich,  daß 
ich  dies  einem  amerikanischen  Diplomaten  auf  die  Nase  gebunden 
habe.  Ein  Dementi  kann  danach  erfolgen.  Ob  es  in- 
des mit  Rücksicht  auf  die  schließlich  doch  nicht  ewig  zu  verhei- 
melnde  Tatsache  unserer  Kenntnis  zweckmäßig  erscheint,  lasse  ich 
dahingestellt.     Besten  Gruß  Ihr  Zimmermann." 

Aber  warum  jener  Eifer,  alle  Kenntnis  von  der  Note  zu  leugnen, 
deren  Inhalt  und  Text  man  später  doch  mit  aller  Macht  ver- 
teidigte? 

Hier  wurde  absichtlich  ein  falsches  Spiel  mit  verteilten  Rollen 
gespielt.  Am  20,  Juli  war  den  österreichischen  Botschaftern  die 
Note  zugegangen  mit  dem  Auftrage,  sie  am  24,  Juli  bei  den  Regie- 
rungen, bei  denen  sie  akkreditiert  waren,  zu  überreichen, 

Graf  Szögyeny  erlaubte  sich  daraufhin  zu  bemerken,  mit 
Deutschland  solle  doch  eine  Ausnahme  gemacht  werden.  Darauf 
erwiderte  ihm  Berchtold  am  22,   Juli: 

„Der  bewußte  Erlaß  hatte  Deutschland  gegenüber  lediglich  for- 
male Bedeutung.  Die  offizielle  Übergabe  unserer  Note  sollte 
in  Berlin  unter  denselben  Modalitäten  erfolgen,  wie  bei  den  ande- 
ren Signatarmächten.  Streng  vertraulich  haben  wir  Herrn 
von  Tschirschky  die  erwähnte  Note  schon  gestern  mitgeteilt.     Sie 

77 


isi  durch  den  Herrn  Botsekafter  jedenfalls  bereits  nach  Berlin  vor- 
gelegt  worden." 

Also  auch  in  bezug  auf  die  Note  sollte  Europa  absichtlich  be- 
logen werden. 

Die  Lokalisierung  des  Krieges. 

Die  deutsche  Regierung  hatte  sehr  gute  Gründe,  nicht  merken  xu 
lassen,  daß  sie  vom  österreichischen  Ultimatum  gewußt  hatte  oder 
gar,  daß  sie  mit  Österreich  verschworen  war. 

Sie  hatte,  wie  wir  gesehen,  zum  Krieg  gegen  Serbien  am  5.  Juli^ 
ihren  Segen  gegeben.  Sie  war  auch  bereit,  den  Krieg  gegen  Ruß- 
lan-d  und  Frankreich  zu  „riskieren"  —  aber  mehr  v/ollte  sie  nicht. 
Sie  rechnete  auf  Italiens  Mitwirkung  und  Englands  Neutralität. 
Sie  bedurfte  auch,  um  in  den  Krieg  eintreten  zu  können,  der  Be- 
geisterung des  eigenen  Volkes.  Nun  wußte  sie  ganz  genau,  daB 
dieses  in  seiner  großen  Mehrheit  höchst  friedliebend  sei  und  ihr 
die  schärfste  Opposition  erwachsen  würde,  wenn  es  erführe,  daß 
das  österreichische  Verfahren  gegen  Serbien  vom  Kaiser  und  seinen 
Ministern  nicht  nur  gekannt,  sondern  auch  gebilligt  und  gefördert 
Wurde.  Die  ganze  Aktion  wäre  damit  von  vornherein  aufs 
schwerste  bedroht  gewesen. 

Unmittelbar  nach  dem  Bekanntwerden  des  österreichischen  Ulti- 
matums an  Serbien  erließ  der  Vorstand  der  deutschen  Sozialdemo- 
kratie einen  Aufruf  (25.  Juli),  in  dem  es  hieß: 

„Die  vom  österreichischen  Imperialismus  entfesselte  Kriegsfurie 
schickt  sich  an,  Tod  und  Verderben  über  ganz  Europa  zu  bringen. 
Verurteilen  wir  auch  das  Treiben  der  großserbischen  Nationalisten, 
so  fordert  doch  die  frivole  Kriegsprovofiation  der 
österreichisch-ungarischen  Regierung  den  schärfsten  Protest  her- 
aus. Sind  doch  die  Forderungen  dieser  Regierung  so  brutal,  wie 
sie  in  der  Weltgeschichte  noch  nie  an  einen  selbständigen  Staat 
gestellt  sind,  und  können  sie  doch  nur  darauf  berechnet  sein,  den 
Krieg  geradezu  zu  provozieren. 

Das  klassenbewußte  Proletariat  Deutschlands  erhebt  im  Namen 
der  Menschlichkeit  und  der  Kultur  flammenden  Protest  gegen  dies 
verbrecherische  Treiben  der  Kriegshetzer.  Es 
fordert  gebieterisch  von  der  deutschen  Regierung,  daß  sie  ihren 
Einfluß  auf  die  österreichische  Regierung  zur  Aufrechterhaltung 
des  Friedens  ausübt." 

Hätte  das  deutsche  Proletariat  vom  wirklichen  Stande  der  Dinge 
eine  Ahnung  gehabt,  hätte  es  gewußt,  daß  das  , .verbrecherische 
Treiben   der  Kriegshetzer"   ein   abgekartetes   Spiel  zwischen  Wien 

78 


und,  Jserlin  war,  dann  wäre  es  nicht  so  naiv  gewesen,  die  deutsche 
Regierung  aufzufordern,  auf  die  österreichische  im  Sinne  des  Frie- 
dens zu  wirken,  dann  hätte  es  sich  einmütig  ebenso  gegen  die 
deutsche  wie  gegen  die  österreichische  Regierung  gewendet  und 
große  Massen  auch  der  nichtproletarische,n  arbeitenden  Schichten 
des  deutschen  Volkes  hätten  sich  ihm  angeschlossen.  Bei  einer 
solchen  Stimmung  hätte  die  deutsche  Regierung  unmöglich  einen 
großen  Krieg  entfesseln  können.  Die  deutsche  Sozialdemokratie 
konnte  den  Weltfrieden  retten.  Ihr  Ansehen  und  damit  das  des 
deutschen  Volkes  in  der  Welt  wäre  unendlich  gewachsen  durch  die 
Niederlage,  die  sie  der  kriegerischen  deutschen  Regierung  be- 
reitete. 

Das  zu  vermeiden,  gab  es  nur  ein  Mittel:  Die  Mitwisserschafi 
und  Mitschuld  der  deutschen  Regierung  mußte  sorgfältig  ver- 
schwiegen werden. 

Nicht  minder  war  das  notwendig,  wollte  man  Italiens  Hilfe  und 
Englands  Neutralität  gewinnen. 

Beide  wandten  sich,  wie  übrigens  alle  Welt,  sofort  gegen  Öster- 
reich. Da  galt  es  für  Deutschland,  den  überraschten  friedlichen 
Nachbarn  zu  spielen,  den  wohl  die  Bundestreue  an  die  Seite  der 
befreundeten  Macht  rufe,  deren  grenzenlose  Bedrängnis  die 
schnöde  Bluttat  von  Serajewo  enthüllt  habe,  der  aber  bereit  sei, 
zu  vermitteln  und  den  Frieden  zu  erhalten.  Wenn  er  dabei  mit 
dem  nimmersatten  Rußland  in  Konflikt  kam  —  ei  nun,  es  kann  der 
Beste  bekanntlich  nicht  in  Frieden  leben,  wenn  es  dem  bösen 
Nachbar  nicht  gefällt. 

Ein  Unglück  nur,  daß  Deutschland  sich  darauf  versteifte,  den 
Frieden  in  eigenartiger  Form  zu  retten.  Es  verlangte  nämlich  die 
L  o  k  a  li  s  i  e  r  u  n  g  des  Streitfalles.  Konnte  es  etwas  Vernünfti- 
geres geben?  Man  mußte  trachten,  daß  der  Konflikt  örtlich  be- 
grenzt bleibe,  nicht  weitere  Dimensionen  annehme. 

In  dem  von  Eisner  veröffentlichten  Bericht  der  Berliner  baye- 
rischen Gesandtschaft  vom  18.  Juli  hieß  es: 

(„Im  Interesse  der  Lokalisierung  des  Krieges  wird  die 
Reichsleitung  sofort  nack  Übergabe  der  österreichischen  Note  in 
Belgrad  eine  diplomatische  Aktion  bei  den  Großmächten  einleiten.) 

Sie  wird  mit  dem  Hinweis  darauf,  daß  der  Kaiser  auf  der  Nord- 
landsreise und  der  Chef  des  großen  Generalstabs  sowie  der  preu- 
ßische Kriegsminister  in  Urlaub  seien,  vorgeben,  durch  die  Aktion 
Österreichs  genau  so  überrascht  worden  zu  sein,  wie  die  andern 
Mächte. 

79 


(Sie  wird  darauf  hinarbeiten,  daß  die  Mächte  sich  auf  den  Stand' 
punkt  stellen,  daß  die  Auseinandersetzung  zwischen  österreich- 
und  Serbien  eine  Angelegenheit  dieser  beiden  S!::aten  sei.)" 

Die  in  Klammern  gesetzten  Stellen  fehlen  in  der  Eisnerschen 
Publikation.  Sie  gehören  zu  denjenigen,  durch  deren  Weglassung 
Eisner  den  Sinn  des  Berichtes  in  einer  für  Deutschland  ungünstigen 
Weise  entstellt  haben  soll.  Das  kann  nur  jemand  sagen,  der  sich 
einbildet,  das  Streben  nach  Lokalisierung  des  Krieges  sei  eine 
ernsthafte  Friedensaktion  gewesen.  In  Wirklichkeit  bedeutete  es 
eine  Störung  und  Sabotierung  jeder  Friedensaktion.  Die  Behaup- 
tung, daß  die  Niederwerfung  Serbiens  durch  Österreich  bloß  diese 
beiden  Staaten  angehe,  hieß  nichts  anderes,  als  daß  Österreich  allein 
künftighin  auf  dem  Balkan  etwas  zu  sagen  habe,  hieß  verlangen, 
daß  Rußland  seine  Ausschaltung  dort  freiwillig  zugebe,  daß  es  sich 
für  geschlagen  erkläre,  ehe  es  einen  Kanonenschuß  abgefeuert.  Dies 
Streben  nach  Lokalisierung  des  Konfliktes  stellte  Rußland  vor  die 
Alternative:  entweder  sich  unterwerfen  oder  Österreich  den  Krieg 
erklären. 

Die  Forderung  der  Lokalisierung  war  also  das  richtige  Mittel, 
Rußland  geradezu  zum  Krieg  zu  zwingen. 

Die  Alternative  der  , .Lokalisierung"  des  Konfliktes  war  seine 
Lösung  durch  die  Intervention  Europas,  das  heißt,  entweder  durch 
ein  Schiedsgericht  oder  durch  die  Vermittlung  der  nicht  direkt  be- 
teiligten Großmächte.  Nur  diese  Europäisierung  des  Problems  bot 
die  Aussicht,  daß  der  lokale  Krieg  nicht  ein  europäischer  wurde. 
Aber  freilich,  sie  bot  Österreich  nicht  die  Aussicht,  daß  ihm  freie 
Hand  bei  der  militärischen  Zerschmetterung  Serbiens  gelassen 
werde.  Und  deshalb  mußte  auf  der  feuergefährlichen  Methode 
der  Lokalisierung  mit  aller  Zähigkeit  bestanden  werden.  Sie  Be- 
deutete wieder,  v/ie  in  der  Annexionskrise  von  1909,  eine  Speku- 
lation auf  Rußlands  Schwäche  und  daneben  auf  Englands  und 
Frankreft;hs  Friedfertigkeit.  In  der  Tat  heißt  es  in  dem  bayerischen 
Bericht  weiter: 

„Herr  Zimmermann  nimmt  an,  daß  sowohl  England  wie  Frank» 
reich,  denen  ein  Krieg  zurzeit  kaum  erwünscht  wäre,  auf  Rußland 
in  friedlichem  Sinne  einwirken  werde;  außerdem  baut  er  darauf, 
daß  das  Bluffen  eines  der  beliebtesten  Requisite  der  russischen 
Politik  sei  und  daß  der  Russe  zwar  gern  mit  dem  Schwerte  droht, 
es  im  entscheidenden  Moment  aber  doch  nicht  gern  für  andere 
zieht." 

SO 


Wenn  es  aber  anders  kam,  bot  die  Forderung  der  „Lokalisie- 
rung" des  Krieges  immer  noch  ihre  großen  Vorteile,  Sic  konnte 
nur  scheitern  an  den  Ansprüchen  Rußlands:  so  stand  man  vor  der 
Welt  oder  wenigstens  vor  dem  eigenen  Volke  als  die  Macht  da, 
die  den  Frieden  gewollt  hatte  —  und  dabei  auf  Rußlands  Wider- 
sland gestoßen  war.  Nun  versuchte  man,  diese  Macht  als  den 
Friedensbrecher  zu  denunzieren. 

Die  Forderung  der  Lokalisierung  des  Krieges  wurde  wieder  ein 
neues  Moment,  das  die  strengste  Geheimhaltung  des  Einverneh- 
mens zwischen  Deutschland  und  Österreich  erheischte.  Denn  es 
ist  klar,  daß  Deutschland  nicht  erklären  konnte,  der  ganze  Kon- 
flikt gehe  nur  Österreich  und  Serbien  unter  Ausschluß  jeder  an- 
deren Macht  an,  wenn  es  selbst  an  der  Vorbereitung  dieses  Kon- 
fliktes  ganz   energisch  mitgewirkt  hatte. 

Wir  sehen,  Deutschland  wie  Österreich  hatten  allen  Grund,  ihr 
Zusammenwirken  von  den  Potsdamer  Entschlüssen  am  5.  Juli  an 
bis  zur  Überreichung  des  Ultimatums  in  Belgrad  am  23.  Juli  vor 
aller  Welt  zu  verheimlichen. 

Die  Sabotierung  der  Friedensbemühungen. 

Es  war  nicht  leicht,  gleichzeitig  um  den  Frieden  ernstlich  be- 
sorgt aU  erscheinen  und  Österreich  „seinen"  Krieg  mit  Serbien 
zu  sichern,  sowie  diesen  zu  „lokalisieren",  das  heißt,  Rußland  vor 
die  Alternative  zu  stellen,  entweder  Österreich  den  Krieg  zu  er- 
klären oder  sich  ihm  kampflos  zu  unterwerfen- 

Vor  allem  galt  es,  die  Mächte  nicht  zur  Besinnung  und  Verstän- 
digung kommen  zu  lassen,  immer  wieder  neue  vollzogene  Tatsachen 
zu  schaffen,  ehe  eine  Intervention  Platz  zu  greifen  vermochte. 

Am  23.  Juli,  abends,  überreichte  der  österreichische  Gesandte 
die  Note  seiner  Regierung  in  Belgrad.  Erst  am  Tage  darauf  wiu-de 
sie  den  Regierungen  Frankreichs,  Englands,  Italiens,  Rußlands 
übermittelt.  Am  25.  aber  v/urde  schon  die  Antwort  Serbiens  ver- 
langt! Paschitsch  erteilte  diese  Antv/ort  trotzdem  znm  gewünsch- 
tem Zeitpunkte.  Es  war  ein  ausführliches  Schriftstück,  das  wider 
Erwarten  im  Wesentlichen  allen  Forderungen  der  österreichischen 
Regierung  zustimmte,  trotz  ihrer  unerhörten  Härte, 

Und  Östereich?     Amtlich  wurde  aus  Wien  gemeldet: 

„Ministerpräsident  Paschitsch  erschien  wenige  Minuten  vor 
sechs  Uhr  in  der  k.  u.  k.  Gesandtschaft  in  Belgrad  und  erteilte 
eine  unger.ügende  Antwort  auf  die  österreichisch-ungarische  Note. 
Baron  Giesl  notihzierte  ihm  hierauf  den  Abbruch  der  diplomati- 

81 


sehen  Beziehungen  und  verließ  mit  dem  Gesandtschaftspersonal 
um  sechs  Uhr  dreißig  Minuten  Belgrad." 

Also  ganze  dreißig  Minuten  nach  Übergabe  der  Note  war  die 
österreichische  Gesandtschaft  schon  unterwegs  nach  Wien,  Baron 
Giesl  hatte  den  Abbruch  der  diplomatischen  Beziehungen  ver- 
kündigt, ehe  er  "die  serbische  Antwort  nur  recht  gelesen,  ge- 
schweige denn  geprüft  zu  haben  vermochte. 

Während  Wien  sich  dieser  Eile  befleißigte,  um  zum  ersehnten 
Kriege  mit  Serbien  zu  kommen,  ehe  Europa  recht  wußte,  was  vor- 
ging, zeigte  Berlin  nicht  die  mindeste  Eile,  Europa  erkennen  zu 
lassen,  wie  es  über  diese  Vorkommnisse  dachte, 

A-m  27,  Juli  fand  Kcrr  von  Jagow  den  Mut,  dem  franzosischen 
Botschafter  in  Berlin  zu  sagen,  er  habe  noch  nicht  Zeit 
gefunden,  die  serbische  Antwort  zu  lesen. 

Es  war  für  die  Großmächte  nicht  leicht,  sich  bei  diesem  Vor- 
gehen zurechtzufinden.  Aber  so  wenig  Zeit  sie  hatten,  sich  unter- 
einander zu  verständigen,  eins  wurde  ohne  weiteres  klar:  Der 
Weltfriede  war  aufs  äußerste  bedroht,  v/enn  es  zum  Krieg  zwischen 
Österreich  und  Serbien  kam.  Ebenso  sehr  wie  Österreich  zu  die- 
sem Kriege  drängte  (und  mit  ihm  Deutschland,  was  damals  frei- 
lich noch  niemand  wußte),  ebenso  sehr  suchten  Rußland,  Frank- 
reich, England  ihn  zu  verhindern.  Nicht  weil  ihre  Regenten  die 
reinen  Friedenssngel  waren,  sondern  weil  Rußland  und  Frankreich 
für  den  Waffengang  unzureichend  gerüstet  waren.  Und  auch  Eng- 
land wurde  durch  seine  irisclien  Verlegenheiten  gehemmt.  Inso- 
fern hatten  also  die  Zentralmächte  richtig  gerechnet.  Die  Mächte 
kamen  daher  alle  von  selbst  übereinstimmend  dahin,  auf  der  einen 
Seite  eine  Verlängerung  der  für  die  Antwort  gestellten  Frist  von 
öserreich  anzustreben,  um  Zeit  zu  Verhandlungen  zu  finden  und 
anderseits  Serbien  zur  Nachgiebigkeit  zu  raten.  Sowohl  Frank- 
reich wie  Italien  und  England,  ja  selbst  Rußland  bemühten  sich 
in  diesem  Sinne,  so  weit  es  bei  der  Kürze  der  Zeit  möglich  war, 

Österreich  lehnte  jede  Fristverlängerung  ab  unter  stiller  Mit- 
hilfe Deutschlands,  Die  Antwort  Serbiens  aber  fiel,  wie  schon  be- 
merkt, äußerst  entgegenkommend  aus.  Nichtsdestoweniger  brach 
Österreich  am  25,  die  diplomatischen  Beziehungen  ab,  begann  so- 
fort tu  mobilisieren  und  erklärte  am  28.  Juli  den  Krieg,  Am 
29,  bombardierte  es  Belgrad.  Jeder  dieser  Schritte  war  eine  neue 
Provokation,  brachte  eine  neue  Steigerung  der  allgemeinen  Er- 
regung, eine  neue  Erschwerung  jeder  friedlichen  Losung.  Trotz- 
dem schritt  Österreich  unbeirrt  auf  der  eingeschlagenen  Bahn  wei- 


ter  vorwärts  und  wurde  dabei  von  Deutschland  gestützt,  das  gleich- 
zeilig  von  Friedensbeteuerungen  überfloß. 

Österreich  lehnte  alle  Vermittlungsvorschläge  ab,  die  gemacht 
wurden,  und  von  denen  keiner  von  Deutschland  ausging.  Dieses 
begnügte  sich  damit,  die  Vorschläge  anderer  entweder  einfach 
weiterzugeben  oder  sie  gleich  von  vornherein  als  unvereinbar  mit 
Österreichs  Selbständigkeit  zurückzuweisen.  Auch  das  dringendste 
Befragen  konnte  ihm  keinen  eigenen  Vorschlag  entlocken,  während 
England  wie  Rußland  sich  in  Versuchen  überboten,  einen  Ausweg 
aas   der  verfahrenen  Situation  zu  finden. 

Sehr  gut  hat  schon  Fürst  Lichnowsky  diese  Situation  gekenn- 
zeichnet: 

,,Es  hätte  natürlich  nur  eines  Winkes  von  Berlin  bedurft,  um 
den  Grafen  Berchtold  zu  bestimmen,  sich  mit  einem  diplomatischen 
Erfolg  tu  begnügen  und  sich  bei  der  serbischen  Antwort  zu  be- 
ruhigen. Dieser  Wink  ist  aber  nicht  ergangen.  Im  Gegenteil,  es 
wurde  zum  Krieg  gedrängt.  Es  wäre  ein  zu  schöner  Erfolg  ge- 
wesen! ... 

Dgr  Eindruck  befestigte  sich  immer  mehr,  daß  wir  den  Krieg 
unter  allen  Umständen  wollten.  Anders  war  unsere  Haltung  in 
einer  Frage,  die  uns  doch  direkt  gar  nichts  anging,  nicht  zu  ver- 
stehen. Die  inständigen  Bitten  und  bestimmten  Erklärungen  des 
Herrn  Sasonow,  später  die  geradezu  demütigen  Telegramme  des 
Zaren,  die  wiederholten  Vorschläge  Sir  Edwards,  die  Warnungen 
des  Marquis  San  Giuliano  und  des  Herrn  Bollati,  meine  drän- 
genden Ratschläge,  alles  nützte  nichts,  in  Berlin  blieb  man  dabei: 
Serbien  muß  massakriert  werden."  fS.  29,  30.) 

Die  Telegramme  des  Zaren  durfte  man  in  der  Tat  „demütige" 
nennen.  Er  flehte  darin  förmlich  darum,  daß  man  ihm  die  furcht- 
bare Alternative  erspare  zwischen  dem  Krieg  oder  der  bedingungs- 
losen Unterwerfung,  die  er  beide  gleich  fürchtete,  weil  die  eine 
wie  die  andere  ihn  mit  einer  Katastrophe,  mit  dem  Untergang  be- 
drohte. 

Aber  ließen  gerade  diese  demütigen  Telegramme  nicht  erwarten, 
man  würde  wieder,  wie  1909,  Rußland  auf  die  Knie  zwingen,  dies- 
mal aber  noch  gründlicher,  wenn  man  nur  fest  blieb? 

So  schien  alles  nach  Wunsch  für  die  Mittelmächte  zu  gehen, 

Wilhelm  zeigte  sich  in  jenen  Tagen  noch  sehr  übermütig  und 
ag(!ressiv. 

Wie  er  über  die  österreichische  Note  dachte,  ehe  er  die  ser- 
bische Antwort  gelesen,  zeigen  seine  Bemerkungen  zu  einem  Tele- 

83 


gramm  aus  Belgrad  vom  24,  Juli,  von  ihm  gelesen  am  25,  —  Es 
teilt  mit: 

„Der  energische  Ton  und  die  präzisen  Forderungen  der  öster' 
reichischen  Note  sind  dar  serbischen  Regierung  vollständig  un- 
erwartet gekommen." 

Wilhelm: 

„Bravo!     Man  hatte  es  den  Wienern  nicht  mehr  zugetraut!" 

Das   Telegramm   fährt   fort: 

„Seit  heute  früh  tagt  der  Ministerrat  unter  dem  Vorsitz  des 
Kronprinzen-Regenten." 

Wilhelm: 

„Es  scheint.  Seine  Majestät  haben  sich  gedrückt!" 

Der  hohe  deutsche  Herr  ahnte  nicht,  wie  noch  manche  Majestät 
sich  „drücken"  sollte,  und  zwar  noch  in  gan^  anderer  Weise! 

Telegramm: 

„Der  Ministerrat  kann  aber  zu  keinem  Entschluß  kommen." 

Wilhelm: 

„Die  stolzen  Slawen!" 

Zum  Schluß  des  Telegramms  bemerkt  er: 

„Wie  hohl  zeigt  sich  der  ganze  sogenannte  serbische  Croßstaat. 
So  ist  es  mit  allen  slawischen  Staaten  bescharfen.  Nur  feste 
auf  die  Füße  des  Gesindels  getreten!" 

Das  war  die  Sprache  des  Friedenskaisers  unmittelbar  vor  Aus- 
bruch des  Krieges I  Weit  entfernt,  das  österreichische  brüske  Vor- 
gehen unangenehm  zu  empfinden,  tadelte  er  jedes  auch  nur  schein- 
bare Einlenken,  ja  jede  Geste  der  Höflichkeit  des  Bundesgenossen. 

Am  24,  Juli  telegraphierte  Tschirscliky  aus  Wien: 

„Um  Rußland  seine  guten  Dispositionen  zu  zeigen,  hat  Graf 
Berchtold  heute  vormittag  den  russischen  Geschäftsträger  zu  sich 
gebeten." 

Dazu  bemerkte  Wilhelm  am  26,  Juli; 

„Gänzlich  überflüssig.  Wird  den  Eindruck  der  Schwäche  er- 
wecken und  den  Eindruck  der  Entschuldigung  hervorrufen,  ivas 
Rußland  gegenüber  unbedingt  falsch  ist  und  vermieden  werden 
muß.  Österreich  hat  seine  guten  Gründe,  hat  daraufhin  den 
Schritt  getan,  nun  kann  er  nicht  hinterher  quasi  zur  Diskussion 
gestellt  werden." 

Tschirschky  läßt  Berchtold  weiter  sagen: 

„Österreich    werde    kein    serbisches    Territorium    beanspruchen." 

Das  veranlaßt  Wilhelm  zu   dem  Ausruf: 
84 


„Esel!  Den  Snnd.'<rhak  m  u  P»  es  wieder  nehmen,  sons/  kornnren 
die  Serben  an  die  Adria," 

Berchtold: 

..Österreich  wolle  keine  Verschiebung  der  Machtverhältnisse  auf 
dem  Balkan  herbeiführen." 

Wilhelm: 

„Die  kommt  ganz  von  selbst  und  muß  kommen.  Österreich 
muß  auf  dem  Balkan  präponderant  werden  den 
anderen  kleineren  gegenüber  auf  Kosten  Rußlands,  sonst 
gibt's  keine  Ruhe." 

Zum  Schluß  des  Berichts  bemerkt  er: 

„Schwächlich!" 

Mit  Ungeduld  empfand  er  die  Notwendigkeit,  sich  selbst  wenig- 
stens äußerlich  zurückzuhalten,  wie  das  die  Deutschland  zugeteilte 
Rolle  verlangte. 

Am  26.  Juli,  als  Wilhelm  sich  anschickte,  wieder  deutschen 
Boden  zu  betreten,  telegraphierte  ihm  Bethmann: 

„Sollte  Rußland  sich  zum  Konflikt  mit  Österreich  anschicken, 
beabsichtigt  England  Vermittlung  zu  versuchen  und  erhofft  dabei 
französische  Unterstützung.  Solange  Rußland  keinen  feindlichen 
Akt  vornimmt,  glaube  ich,  daß  unsere  auf  eine  Lokalisierung 
gerichtete  Haltung  auch  eine  ruhige  bleiben  muß.  General 
von  Moltke  ist  heute  aus  Karlsbad  zurückgekehrt  und  teilt  diese 
Ansicht." 

Hinter  dem  Wort  .Lokalisierimg'  macht  Wilhelm  ein  AusrufüngS" 
zeichen  und  zu  den  Worten  ,eine  ruhige  bleiben  muß'  bemerkt  er 
sarkastisch: 

„Ruhe  ist  die  erste  Bürgerpflicht!  Nur  Ruhe,  immer  nur  Ruhe!! 
Eine  ruhige  Mobilmachung  ist  eben  auch  was  Neues." 

Als  es  wirklich  zur  Mobilmachung  kam,  verging  Wilhelm  aller- 
dings der  Sarkasrnus. 

Zu  alledem  stimmt  sehr  gut  eine  Depesche,  die  Graf  Szögyeny 
am  25.  Juli  von  Berlin  nach  Wien  richtete.     Sie  lautet: 

„Hier  wird  allgemein  vorausgesetzt,  daß  auf  eventuelle  abwei- 
sende Antwort  Serbiens  sofort  unsere  Kriegserklä- 
rung verbunden  mit  kriegerischen  Operationen  erfolgen  werde. 
Man  sieht  hier  in  jeder  Verzögerung  des  Beginns  der  kriegerischen 
Operationen  große  Gefahr  betreffs  Einmischung  anderer  Mächte. 
Man  rät  uns  dringendst,  sofort  vorzugehen  und  die 
Welt  vor  ein  fait  cccompli  zu  stellen,' 

85 


Das  bedeutet  doch  das  energischste  Drängen  zu  raschestem  Los- 
schlagen. 

Die  Herren  Prof.  Hans  Delbrück,  Max  Weber  und  Menidelssohn- 
Bartholdy  sowie  der  Herr  Graf  Montgelas  fassen  in  ihren  Dar- 
legungen über  den  Ursprung  des  Krieges  (Weißbuch  vom  Juni 
1919)    das  Telegramm  viel  gemütlicher  auf.     Sie  sagen: 

,Das  Telegramm  des  österreichisch-ungarischen  Botschafters  des 
Grafen  Szögyeny  vom  25.  Juli  1914,  das  für  den  Fall  einer 
Kriegserklärung  auf  raschen  Beginn  der  militärischen 
Operationen  drängt,  hält  sich  in  dem  Rahmen  der  schon  erörter- 
ten Auffassung,  daß  eine  örtliche  Begrenzung  des  Streits,  so- 
mit auch  eine  rasche  Erledigung  dieses  Streites  das 
beste  Mittel  zur  Vermeidung  einer  Ausdehnung  des  Brandes  sei." 
(S.  39.) 

Das  Telegramm  verlangt  klipp  und  klar  sofortige  Kriegs- 
erklärung, verbunden  mit  kriegerischen  Operationen.  Der 
Kommentar  der  vier  Herren  verv^randelt  das  unvermerkt  in  die 
Forderung  sofortiger  kriegerischer  Operationen  für  den  Fall 
einer  Kriegserklärung!  Und  aus  der  Forderung,  die 
Welt  vor  ein  fait  accompli  zu  stellen,  wird  ein  Wunsch  nach  einer 
,raschen  Erledigung  dieses  Streits". 

Das  Telegramm  so  zu  deuten,  dazu  gehört  unglaublich  viel 
guter  Wille.  Außerhalb  Deutschlands  wird  der  schwer  zu  finden 
sein.  Dem  Telegramm  des  Grafen  Szögyeny  vom  25.  Juli  sollte 
durch  eine  sehr  freie  Umdeutung  sein  unbequemer  Inhalt  ge- 
nommen werden.  Dieses  Auskunftsmittel  versagt  bei  einer 
anderen  Depesche  desselben  Diplomaten  vom  27,  Juli. 

Beide  Telegramme  waren  der  im  Januar  1919  gebildeten  „Kom- 
mission der  alliierten  und  assoziierten  Regierungen  für  die  Fest- 
stellung der  Verantwortlichkeit  der  Urheber  des  Krieges  und  die 
aufzuerlegenden  Strafen"  in  die  Hände  gefallen  und  ^^rurden  in 
ihrem  Berichte  veröffentlicht,  der  eine  ebenso  kurze  wie  im  wesent- 
lichen zutreffende  Skizze  der  Entstehung  des  Krieges  gibt. 

Die  deutsche  Regierung  konnte  darauf  mit  einer  Veröffentlichung 
der  Akten  des  Auswärtigen  Amtes  über  die  Urheberschaft  am 
Kriege  antworten  oder  schweigen.  Sie  tat  weder  das  eine  noch 
das  andere,  sondern  beauftragte  die  bereits  genannten  vier  Herren, 
als  „unabhängige  Deutsche",  dem  Bericht  der  Kommission  eine 
Kritik  entgegenzusetzen.  Nach  v/elchen  Methoden  diese  arbeiteten, 
haben  wir  eben  an  der  Behandlung  gesehen,  die  sie  dem  einen 
Telegramm   Szögyenys   zuteil   werden   ließen.     Vielleicht  wäre   es 

S6 


Zweckmäöiijer  gewesen,  wenn  man  nicht  „unabhängige  Deutsche", 
sondern   „deutsche  Unabhängige"   mit   dem   £>cricht   betraut   hätte. 

Nicht  besser  machten  sie  es  mit  dem  andern  Telegramm  vom 
27.  Juli,     Es  ist  an  Berchtold  gerichtet  und  lautet: 

„Staatssekretär  erklärte  mir  in  streng  vertraulicher  Form  sehr 
entschieden,  daß  in  der  nächsten  Zeit  eventuell  Vermittelungsvor- 
schläge  Englands  durch  die  deutsche  Regierung  zur  Kenntnis  Ew. 
Exz.  gebracht  würden. 

Die  deutsche  Regierung  versichert  auh  bündigste,  daß  sie  sich 
in  keiner  Weise  mit  den  Vorschlägen  identifiziere,  sogar  entschie- 
den gegen  deren  Berücksichtigung  sei  und  dieselben  nur,  uM  der 
englischen  Bitte  Rechnung  zu  tragen,  weitergibt." 

Diese  Depesche  ist  sicher  eine  sehr  ernsthafte  Sache.  Sie  er- 
heischte von  Seiten  der  vier  unabhängigen  Deutschen  vor  allem,  daß 
sie  prüften,  ob  sie  im  Einklang  stehe  zu  der  Politik,  die  Deutsch- 
land bis  zum  27.  getrieben.  Sie  erinnert  an  Jajjows  Telegramm 
vom  18.  Juli,  in  dem  er  mitteilt,  die  milde  Sprache  der  Nord- 
deutschen Allgemeinen  Zeitung  sei  nur  zur  Irreführung  der  „euro- 
päischen Diplomatie"  bestimmt  und  dürfe  BerchtoW  nicht  beein- 
flußen.  Die  vier  Historiker  haben  es  vorgezogen,  anders  zu  ver- 
fahren: 

„Die  Kommission  hat  sich  sowohl  an  den  ehemaligen  Reichs- 
kanzler von  Bethmann  Hollweg  sowie  an  den  Staatssekretär  von 
Jagow  gewendet  und  von  beiden  übereinstimmend  die  AuskurJi 
erhalten,  daß  der  Bericht  unmöglich  zutreffend  sein  könne.  Wir 
halten   die   Mitteilungen   dieser   beiden   Männer   für  glaubwürdig." 

Es  fragt  sich  bloß,  ob  diese  Versicherung  der  Angeklagten  allein 
schon  genügt,  der  übrigen  Menschheit  das  gleiche  Zutrauen  zu  ihrer 
Unschuld  beizubringen.  Die  Glaubwürdigkeit  der  beiden  Männer 
ist  ja  gerade  das,  was  in  Frage  gestellt  ist  durch  das  Zeugnis 
eines  ihnen  durchaus  nicht  feindseligen  Mannes,  der  alles  Interesse 
hatte,  die  Wahrheit  über  sie  zu  berichten,  und  der  unmittelbar  nach 
der  Unterredung  mit  Jagow  seine  Angaben  über  sie  niederschrieb, 
in  der  bestimmtesten  Form.  Und  zwar  wiederholt.  Die  oben  an- 
geführte Stelle  steht  am  Anfang  des  Berichts,  An  dessen  Ende 
heißt  es: 

„Zum  Schlüsse  wiederholte  mir  Staatssekretär  seine  Stellung- 
nahme und  bat  mich,  um  jedwedem  Mißverständnis  vorzubeugen, 
Ew.  Exzellenz  zu  versichern,  daß  er  auch  in  diesem  eben  ange- 
führten Fall    dadurch,  daß  er  ah  Vermittler  ausgetreten  sei,  ab- 

87 


soliit  nicht  für  eine  Berücksichtigung  des  englischen  Wunsches  sei." 

Ein  so  bestimmtes  Zeugnis  kann  doch  nicht  auf  die  vage  Aus- 
kunft der  Angeschuldigten  „es  könne  unmöglich  zutreffend  sein" 
ohne  weiteres  von  der  Hand  gevi'icsen  werden. 

Doch  der  Rettungskommission  kommt  Hilfe.  Zur  rechten  Zeit 
reicht  ihr  Dr.  Gcoß  die  rettende  Planke,  und  durch  ihn  fühlt  sie 
sich  berechtigt,  das  so  bestimmte  Zeugnis  Szögyenys  für  imglaub- 
\\ ürdig  zu  erklären,  weil  er  —  „über  seine  Jahre  geal- 
tert war".    (S.  39.) 

Eine  besondere  Ehrenrettung  des  damaligen  Regimes  ist  darin 
gerade  nicht  zu  finden.  Man  bedenke  die  damalige  Situation,  Die 
deutsche  und  die  österreichische  Regierung  bereiteten  einen  Krieg 
vor,  bei  dem  es  auf  Leben  und  Ted  der  Staaten  gehen  konnte. 
Da  hieß  es,  die  besten  Kräfte  auf  die  entscheidenden  Posten  stel- 
len. Das  dringendste  Eriordernis  war,  daß  zwischen  den  beiden 
verbündeten  Regierungen  nicht  das  geringste  Mißverständnis  auf- 
kam, jeder  genau  über  die  Absichten  des  andern  unterrichtet  war. 
Der  österreichische  Botschafter  in  Berlin  bildete  das  verbindende 
Mittelglied  zwischen  den  beiden  Staaten;  von  seiner  Klugheit, 
Klarheit  und  Korrektheit  hing  das  Leben  von  Völkern  und  Regie- 
rungen ab.  Nur  zweierlei  ist  möglich:  Entweder  Graf  Szögyeny 
war  wirklich  der  senile  Trottel,  als  den  ihn  die  Weißwäscher  Wil- 
helms und  seiner  „Handlanger"  jetzt  hinstellen,  dann  handelte  die 
österreichische  Regierung  unglaublich  leichtfertig  und  gewissenlos, 
daß  sie  an  diesem  wichtigsten  Posten  einen  verblödeten  Faselhans 
ließ,  und  nicht  minder  leichtfertig  und  gewissenlos  die  deutsche 
Regierung,  daß  sie  ihre  schwierigsten  und  wichtigsten  Aufträge  in 
solcher  Situation  einem  Idioten  anvertraute,  der  nicht  recht  wußte, 
v.orüber  man  mit  ihm  sprach.  Eine  schwerere  Anklage  gegen  beide 
Regierungen  ist  nicht  denkbar.  Die  Entschuldigung  ist  in  diesem 
Falle  schlimmer  als  das  Verbrechen  selbst.  Denn  es  ist  für  eine 
Nation  immer  noch  besser,  von  klugen  imd  kenntnisreichen  Hal- 
lunken geführt  zu  werden,  als  von  ehrlichen  Trotteln,  Jene  werden 
das  Volk  nicht  leichtfertig  in  Situationen  hineinführen,  die  den 
ganzen  Staat  und  damit  auch  seine  Leiter  gefährden.  Das  kann  nur 
ein  Dummkopf,  Am  schlimmsten  natürlich  ist  es,  wenn  Unehr- 
lichkeit, Leichtsinn  und  Dummheit  sich  vereinigen.  Die  eine  Alter- 
native, die  wirkliche  Senilität  Szögyenys,  exkulpiert  also  die 
deutsche  Regierung  nicht,  sie  verlegt  nur  ihre  Schuld  auf  ein 
anderes  Gebiet,   als  das   angegebene. 

Szögyeny  v/ar  sicherlich  1914  schon  ein  alter  Herr,  73  Jahre  alt, 

88 


dem  milunter  ein  Lapsus  in  der  Beilchterslattung  passierte.  Doch 
erweist  sich  auch  vieles  von  dem,  was  er  vorbringt,  als  vollständig 
richtig  und  in  dem  vorliegenden  Fall  ist  seine  Aussage,  wie  schon 
bemerkt,  sehr  bestimmt.     Sie  ist  daher  sicher  zu  prüfen. 

Bei  näherem  Zusehen  finden  wir  tatsächlich,  daß  sehr  wichtige 
Punkte  des  Berichts  ihre  Bestätigung  in  den  deutschen  Akten 
finden. 

Auch  die  Wiedergabe  der  Motivierung,  mit  der  Jagow  seine 
bedenkliche  Äußerung  vom  27.  begründete,  entspricht  vollständig 
den  damaligen  Gedankengängen  der  deutschen  Regierung.  Szö- 
gyeny  gibt  sie  mit  den  Worten  wieder: 

„Die  deutsche  Regierung  gehe  von  dem  Gesichtspunkte  aus, 
daß  es  von  der  größten  Bedeutung  sei,  daß  England  im  jetzigen 
Moment  nickt  gemeinsame  Sache  mit  Rußland  und  Frankreich 
mache.  Daher  müsse  alles  vermieden  werden,  daß  der  bisher 
gut  funktionierende  Draht  zwischen  Deutschland  und  England  ab- 
gehrochen werde.  Würde  nun  Deutschland  Sir  Edward  Grey  glatt 
erklären,  daß  es  seine  Wünsche  an  Österreich-Ungarn,  von  denen 
England  glaubt,  daß  sie  durch  Vermittlung  Deutschlands  eher  Be- 
rücksichtigung bei  uns  finden,  nicht  weitergeben  will,  so  würde 
eben  dieser  vorerivähnte,  unbedingt  zu  vermeidende  Zustand  ein- 
treten." 

Man  sieht,  der  Herr  Graf  war  sicher  kein  glänzender  Stilkünstler; 
jedoch  inhaltlich,  wenn  auch  nicht  formell  in  dem  gleichen  Sinne, 
■wie  es  hier  Szögyeny  darstellt,  äußert  sich  am  selben  Tage  Beth- 
mann  in  einem  Telegramm  an  Tschirschky,  in  dem  er  Greys  Vor- 
schlag mitteilt  und  dann  fortfährt: 

„Nachdem  wir  bereits  einen  englischen  Konferenzvorschlag  ab- 
gelehnt haben,  ist  es  uns  unmöglicfi,  auch  diese  englische  An- 
regung a  limine  abzuweisen.  Durch  eine  Ablehnung  jeder  Ver- 
mittlüngsakiion  würden  wir  von  der  ganzen  Welt  für  die  Kon- 
flagration verantiv ortlich  gemacht  und  als  die  eigentlichen  Treiber 
zum  Kriege  hingestellt  werden.  Das  würde  auch  unsere  eigene 
Stellung  im  Lande  unmöglicfi  machen,  wo  wir  als  die  zum 
Kriege  Gezwungenen  dastehen  müssen.  Unsere 
Situation  ist  um  so  schwieriger,  als  Serbien  scheinbar  sehr  weit 
nachgegeben  hat.  Wir  honnnen  daher  die  Rolle  des  Vermittlers 
nicht  abweisen  und  müssen  den  englischen  Vorschlag  dem  Wiener 
Kabinett  zur  Erwägung  unterbreiten,  zumal  London  und  Paris 
fortgesetzt    auf    Petersburg    einwirken.      Erbitte    Graf    Berchtolds 

89 


Ansicht  über  die  englische  Anregung  ebenso  wie  über  Wunsch 
Herrn  Sasonows  mit   Wien   direkt  zu   verhandeln." 

Dieser  sonderbare  Vermittler  sah  eine  Schwierigkeit  der 
Situation  darin,  daß  -die  Serben  nachgaben,  was  eine 
Schwierigkeit  nur  für  den  war,  der  den  Krieg  suchte,  gleiciizeitig 
aber  als  der  zum  Krieg  gezv/ungcne  dastehen  wollte.  Er  emp- 
fiehlt auch  nicht  den  englischen  Vorschlag,  sondern  gibt  ihn  bloß 
weiter  uad  entschuldigt  sich,  daß  die  Verhältnisse  ihn  dazu 
nötigten. 

Nach  London  aber  telegraphiert  er: 

„In  dem  von  Sir  Edward  Grey  gewünschten  Sinne  haben  wir 
Vermittlungsaktion   in    Wien   sofort   aufgenommen." 

Der  Erfolg  dieser  „Vermittlungsaktion"  war  am  28,  Juli  die 
Kriegserklärung    Österreichs   an   Serbien. 

Trotzdem  machte  England  noch  einen  Versuch  zur  Rettung 
des  Weltfriedens.  Am  29,  berichte f,e  Lichnowsky  in  einem  Tele- 
gramm, das  uns  in  einem  anderen  Zusammenhang  noch  eingehend 
beschäftigen   wird: 

„Sir  E.  Grey  wiederholte  seine  bereits  gemeldete  Anregung, 
daß  wir  uns  an  einer  solchen  Vermittlung  zu  vieren,  die  wir 
grundsätzlich  bereits  angenommen  hätten,  be- 
teiligen sollten  .  .  .  Sollten  Ew.  Exzellenz  jedoch  die  Vermittlung 
übernehmen,  die  ich  heute  früh  in  A.ussicht  stellen 
konnte,  so  wäre  ihm  das  natürlich  ebenso  recht." 

Die  beiden  gesperrt  gedruckten  Sätze  fehlen  in  der  für  Wilhelm 
angefertigten  Abschrift  des  Telegramms,  Sollte  das  Zufall  sein? 
Es  läßt  annehmen,  man  habe  dem  Kaiser  verheimlichen  wollen, 
daß  man  jene  Art  der  Vermittlung  „grundsätzlich  angenommen 
hätte".  Das  würde  sehr  gut  zu  der  Politik  Jagows  passen,  über 
die  Szögyeny  berichtete. 

Wie  es  sich  mit  dessen  Bericht  auch  verhalten  möge,  auf  jeden 
Fall  war  die  deutsche  Politik  in  den  ersten  Tagen  nach  der 
Überreichung  des  Ultimatums  der  Art,  daß  sie  mit  Recht 
steigendes  Mißtrauen  auch  der  Neutralen  zu  ihrer  Ehrlichkeit  und 
Friedensliebe   hervorrief. 

Ein  Wechsel  in  ihrer  hartnäckiffen  Sabotierung  jeglicher 
Friedensarbeit  bereitet  sich   vor   am  28,   Juli, 

Beginnende    Unsicherheit    in    Deutschland, 

V't'ir  wissen  bereits,  daß  die  deutsche  Regierung  v/ohl  den  Krieg 
Österreichs   mit   Serbien   wollte,   auch   vor   dem   mit   Rußland   und 

90 


y 

cvenluel!  mit  Frankreich  nicht  zuruckscheutc,  aber  dabei  das  drin- 
gende Bedürfnis  hatte,  ihr  ei;^enes  Volk  hinter  sich  und  Italien 
neben  sich,  sowie  England  nicht  gegen  sich  zu  haben. 

Dies  wurde  ihr  ungemein  erschv/crt  durch  Österreichs  Tolpat- 
schigkeit  und  Verbohrtheit  auf  der  einen  Seite  und  auf  der  anderen 
durch  Serbiens  Klugheit, 

Als  Wilhelm  die  Antwort  las,  die  Serbien  auf  das  österreichische 
Ultimatum  vom  25,  erteilte,  mußte  er  sich  gestehen,  daß  seine 
eigene  Sache  dadurch  sehr  ins  Unrecht  gesetzt  war.  Das  wurde 
ihm  sichtlich  unangenehm. 

Er  las  am  28,  Juli  die  Antwort  der  serbischen  Regierung  und 
machte   dazu   die   Bemerkung: 

„Eine  brillante  Leistung  für  eine  Frist  von  bloß  48  Stunden! 
Das  ist  mehr  als  man  erwarten  konnte!  Ein  großer  moralischer 
Erfolg  für  Wien,  aber  damit  füllt  jeder  Kriegsgrund  fort  und  Giesl 
liäite  ruliig  in  Belgrad  bleiben  sollen!  Daraufhin  hätte  i  c  h  nie- 
mals MobilmacJnmg  empfohlen." 

Das  hinderte  ihn  freilich  nicht,  am  4,  August  in  seiner  Thron- 
rede emphatisch  zu  erklären: 

„Mein  hoher  Verbündeter,  der  Kaiser  und  König  Franz  Josef, 
war   gezwungen,    zu   den    Waffen    zu   greife  n." 

Am  28,  Juli  las  man's  anders,  und  nicht  bloß  in  einer  flüchtigen 
Bemerkung,  Am  gleichen  Tage  schrieb  Wilhelm  einen  Brief  an 
Bcthmann  Hollweg,  den  die  „Deutsche  Politik"  vom  18,  Juli  d,  J. 
bereits  abgedruckt  hat.  Wir  teilen  ihn  nochmals  mit,  weil  er  wich- 
tig ist.  Die  beiden  in  Klammem  befindlichen,  sehr  bemerkens- 
werten Äußerungen  sind  in  der  Wiedergabe  der  , .Deutschen  Poli- 
tik" fortgefaBen, 

Der  Brief  lautet: 

Ew.  Exzellenz, 

Nach  Durchlesung  der  serbischen  Antwort,  die  ich  heute  morgen 
erhielt,  bin  ich  der  Überzeugung,  daß  im  großen  und  ganzen  die 
Wünsche  der  Donaumonarchie  erfüllt  sind.  Die  paar  Reserven, 
welche  Serbien  zu  einzelnen  Punkten  macht,  können  m.  E.  durch 
Verhandlungen  wohl  geklärt  werden.  Aber  die  Kapitulation  (de- 
mütigster Art)  liegt  darin  orbi  et  urbi  verkündet  und  durch  sie 
entfällt  jeder  Grund  zum  Kriege. 

Dennoch  ist  dem  Stück  Papier  wie  seinem  Inhalt  nur  beschränk- 
ter Wert  beizumessen,  so  lange  er  nicht  in  die  Tat  umgesetzt  wird. 
Die  Serben  sind  Orientalen,  daher  verlogen,  falsch  und  Meister 
im  Verschleppen.     Damit  diese  schönen  Versprechungen   Wahrheit 

91 


und  Taisacke  werden,  muß  eine  douce  viclence  geübt  werden. 
Das  würde  dergestalt  zu  machen  sein,  daß  Österreich  ein  Faust- 
pfand (Belgrad)  für  die  Erzwingung  und  Durchführung  der  Ver- 
sprechungen besetzte  und  so  lange  behielte,  bis  tatsächlich  die  petita 
durchgeführt  sind.  Das  ist  auch  notwendig,  um  der  zum  dritten 
Male  umsonst  mobilisierten  Armee  eine  äußere  satisfaction 
d^honneur  zu  geben,  den  Schein  eines  Erfolges  dem  Ausland  gegen- 
über, und  das  Bewußtsein,  wenigstens  auf  fremdem  Boden  ge- 
standen zu  haben,  ihr  zu  ermöglichen.  Ohnedem  dürfte  hei  Unter- 
bhiben  eines  Feldzugs  eine  sehr  üble  Stimmung  gegen  die  Dyna- 
stie aufkommen,  die  höcfist  bedenklich  wäre.  Falls  Ew.  Exz.  diese 
meine  Auffassung  teilen,  so  würde  ich  vorschlagen,  Österreich  zu 
sagen:  der  Rückzug  Serbiens  (in  sehr  demütigender  Form)  sei 
erzwungen  und  man  gratuliere  dazu.  Natürlich  sei  damit  ein 
Kriegs grund  nicht  mehr  vorhanden.  Wohl  aber  eine 
Garantie  nötig,  daß  die  Versprechungen  aus- 
geführt würden.  Das  würde  durch  die  vorübergehende 
militärische  Besetzung  eines  Teiles  von  Serbien  wohl  erreichbar 
sein.  Ähnlich  wie  wir  1871  in  Frankreich  Truppen  stehen  ließen, 
bis  die  Milliarden  gezahlt  waren.  Auf  dieser  Basis  bin  ich  be- 
reit, den  Frieden  in  Österreich  zu  vermitteln.  Dagegen- 
laufende  Vorschläge  oder  Proteste  anderer  Staaten  würde  ich  un- 
bedingt abweisen,  um  so  mehr  als  alle  mehr  oder  weniger  offen  an 
mich  appellieren,  den  Frieden  erhalten  zu  helfen.  Das  werde  icfi 
tun  auf  meine  Manier  und  so  schonend  für  das  österreichische 
Nationalgefühl  und  für  die  V/  a  f  f  e  n  e  hr  e  seiner  Armee  als 
möglich.  Denn  an  letztere  ist  bereits  seitens  des  obersten  Kriegs- 
herrn appelliert  worden,  und  sie  ist  dabei,  dem  Appell  zu  folgen. 
Also  muß  sie  unbedingt  eine  sichtbare  satisfaction  d'honneur  haben, 
das  ist  Vorbedingung  für  meine  Vermittlung.  Daher  wollen 
Ew.  Exz.  in  dem  skizzierten  Sinne  einen  Vorschlag  mir  unter- 
breiten, der  nach  Wien  mitgeteilt  werden  soll.  Ich  habe  in  obigem 
Sinne  an  Chef  des  Generalstabs  durch  Plessen  schreiben  lassen,  der 
ganz  meine  Ansicht  teilt.  Wilhelm  1.  R. 

Die  „Deutsche  Politik"  bemerkt  dazu; 

„All  das  zeigt  einwandfrei,  daß  auch  der  Kaiser  nicht  einmal 

den  österreichisch-serbischen  Krieg  gewollt  hat." 

•,  !n  Wirklichkeit  könnte  man  höchstens  sagen;  in  jenem  Mo- 
ment nicht  gewollt  hat.  Daß  er  früher  mit  dem  Kriege  einver- 
standen war,   ja   zu   ihm   drängte,   haben  v/ir  gesehen.     Noch  am 

92 


25.  Juli  hatte  er  gefunden,  man  müsse  „dem  Gesindel  auf  die 
Füße  treten". 

Auch  am  28.  Juli  ist  sich  Wilhelm  des  Ernstes  der  Situation 
nicht  völlig  bewußt.  Er  spielt  immer  noch  mit  dem  Feuer,  wenn 
er  eine  ,,douce  violence",  einen  sanften  Zwang,  gegenüber  den  Serben 
verlangt,  die  in  so  auffallendem  Gegensatz  zu  den  Wahrheitsfana- 
tikern unter  den  Österreichern  und  Deutschen  , .verlogen  und 
falsch"  sind.  Und  es  ist  sehr  charakteristisch  für  sein  militärischr^s 
Denken,  aber  auch  für  sein  Komödiantentum,  daß  er  sagt,  der 
,,zum  drittenmal  umsonst  mobilisierten  Armee"  müsse  jetzt  end- 
lich einmal  eine  „äußere  satisfaction  d'honneur",  „der  Schein 
eines  Erfolges"  gegeben  werden  —  das  ist  „Vorbedingung  für 
meine  Vermittlung",  von  der  der  Frieden  der  Welt  abhängt!  Die 
Befriedigung  der  Offizierseitelkeit  steht  ihm  noch  über  dem 
Weltfrieden! 

Die  Erkenntnis  vom  28.  verdichtete  sich  auch  noch  nicht  zu 
einem  ernstlichen  Druck  auf  Österreich,  das  just  an  diesem  Tage 
den  Krieg  erklärte  und  am  nächsten  Belgrad  bombardierte,  um 
doch  nicht  zum  drittenmal  umsonst  mobilisiert  zu  haben. 

Wilhelm  lehnt  nach  wie  vor  die  besten  Vorschläge  ab,  aus  der 
gespannten  Situation  herauszukommen.  Das  bezeugen  seine  Be- 
merkungen zu  einem  Bericht  des  deutschen  Militärbevollmäch- 
tigten in  Petersburg,  Chelius  vom  28.  Juli,  den  Wilhelm  am 
29.  Juli  las.     Er  lautet: 

„Für  S.  M.  Fürst  Trubetzkoi  aus  der  Umgebung  des  Kaisers 
äußerte  sich  heute  zu  mir  wie  folgt:  Nachdem  nunmehr  die  Ant- 
wort Serbiens  veröHentlicht  ist,  muß  man  seinen  guten  Willen 
anerkennen  (d  a  s  w  ar  z  u  e  r  tu  a  r  t  e  n.  W.j,  den  Wünschen  Öster- 
reichs voll  und  ganz  nachzukommen,  sonst  hätte  Serbien  nicht  in 
so  heundnachbarlichem  Ton  die  unerhört  scharfe  Note  Österreichs 
beantwortet,  sondern  sie  einfach  —  (ein  Wort  unverständlich). 
Die  beiden  cirittigen  Punkte  konnte  Serbien  nicht  einfach  an- 
nehmen, ohne  Gefahr  einer  Revolution  und  will  sie  einem  Schieds- 
spruch unterbreiten  (Kann  sich  Österreich  nicht  dar- 
auf einlassen.  W.J.  Dies  ist  durchaus  loyal  und  Österreich 
ivürde  eine  schwere  Verantwortung  auf  sich  nehmen,  durch  Nicht- 
anerkennung dieser  Haltung  Serbiens  einen  europäischen  Konflikt 
heraufzubeschwören.  (Das  ist  die  Sorge,  die  mich  er- 
füllt nach  Durchlesung  der  Serbenantwort.      W.) 

Als  ich  erwiderte,  die  Verantwortung  fiele  auf  Rußland,  welches 
doch  außerhalb  des  Konfliktes  stände  (richtig!  W.j,  sagte  Fürst 

93 


Trubetzkoi:  .  .  .  Wir  können  unsere  Brüder  nicht  im  Stiche  lassen 
(Königs-  und  Fürstenmörder.  W.).  Österreich  kann  sie 
vernichten  (will  es  nicht.  V/.J  und  das  kennen  wir  nicht  zu- 
gehen .  .  .  Wir  glauben,  daß  der  Deutsche  Kaiser  dem  verbün- 
deten Österreich  einen  wohlmeinenden  Rat  geben  wird,  den  Bogen 
nicht  zu  überspannen  (das  sind  vage  Phrasen,  um  die 
Verantwortung  auf  mich  abzuschieben.  Das 
lehne  ich  ab.  W.J,  den  guten  Willen  Serbiens  mit  den  ge- 
gebenen Versprechungen  anzuerkennen  und  die  Mächte  oder  den 
Haager  Schiedsspruch  die  strittigen  Punkte  entscheiden  zu  lassen 
(Blödsinn.  W.j  . . .  Die  Rückkehr  Ihres  Kaisers  hat  uns  alle  sehr 
beruhigt,  denn  wir  vertrauen  S.  M.  ur.d  wollen  keinen  Krieg,  auch 
Kaiser  Nikolaus  nicht.  Es  wäre  gut,  wenn  sich  die  beiden  Mon- 
archen einmal  telegraphisch  verständigen.  (Ist  erfolgt.  Ob 
eine  Verständigung  erfolgt,  ist  mir  zweifelhaft. 
W.)  Dies  ist  die  Ansicht  eines  der  einflußreichsten  Männer  des 
Hauptquartiers  und  wohl  die  Ansicht  der  ganzen  Umgabung." 

Man  sieht,  auch  am  29,  besieht  noch  Wilhelm  darauf,  einen 
Appell  an  das  Haager  Schiedsgericht  oder  an  eine  Konferenz  der 
Mächte  als  „Blödsinn"  zu  erklären.  Anderseits  zweifeit  er  selbst 
daran,  daß  eine  direkte  Verständigung  Deutschlands  mit  Rußland 
Erfolg  verspricht.  Danach  scheint  er  doch  mit  der  Unvermeidlichlteit 
des  allgemeinen  Krieges  zu  rechnen,  und  die  Sorge,  die  ihn  er- 
füllt, und  der  er  in  einer  seiner  Glossen  Ausdruck  gibt,  scheint 
nicht  die  Sorge  vor  dem  europäischen  Konflikt  zu  sein,  sondern 
die  Sorge,  daß  man  durch  Österreichs  Dummheit  mit  dem  Odium 
belastet  wird,  den  Krieg  selbst  heraufbeschworen  zu  haben.  Auch 
aus  manchen  Äußerungen  Bcihnianns  geht  nicht  immer  klar  her- 
vor, ob  ihm  die  Erhaltung  des  Friedens  am  Herzen  liegt,  oder  ob 
er  nur  nach  dem  Muster  Bismarcks  von  1871  dafür  besorgt  ist, 
daß  die  andern  als  das  Karnickel  erscheinen,  das  angefangen  hat. 
Man  erinnere  sich  der  Depesche  vom  27,  Juli  an  Tschirschky,  in 
der  er  sagt,  daß  wir  als  „die  zum  Kriege  Gezwungenen  dastehen 
müssen". 

Auf  den  gleichen  Ton  ist  die  Depesche  gestimmt,  die  der  Reichs- 
kanr.ler  an  den  Botschafter  in  Wien  am  28,  Juli  sandte.  Er  be- 
schwerte sich,  daß  Österreich  Deutschland  trotz  wiederholter  An- 
fragen im  Unklaren  über  seine  Absichten  gelassen  habe. 

„Die  nunmehr  vorliegende  Antwort  der  serbischen  Regierung  auf 
des    österreichische    Ultimatum    läßt    erkennen,    daß    Serbien    den 

<54 


österreichischen  Forderungen  doch  in  so  weitgehendem  Maße  ent- 
gegengekommen ist,  daß  bei  einer  völlig  intransigenten  Haltung  der 
österreichisch-ungarischen  Regierung  mit  einer  allmählichen  Ab- 
kehr der  ötfcntlichen  Meinung  von  ihr  in  ganz  Europa  gerechnet 
werden   muß. 

Nach  Angaben  des  österreichischen  Generalstabcs  wird  ein  akti- 
ves militärisches  Vorgehen  gegen  Serbien  erst  am  12.  August 
möglich  sein.  Die  kaiserliche  Regierung  kommt  infolgedessen  in 
die  außerordentlich  schwierige  Lage,  daß  sie  in  der  Zwischenzeit 
den  Vermiitiungs-  und  Konferenzvorscklägen  der  anderen  Kabi- 
nette ausgesetzt  bleibt,  und  wenn  sie  weiter  an  ihrer  bisherigen  Zu- 
rückhaltung solchen  Vorschlägen  gegenüber  festhält,  das  Odium, 
einen  V/  e  1 1  k  r  i  e  g  verschuldet  zu  haben,  schließ- 
lich auch  in  den  Augen  des  deutschen  Volkes  auf 
sie  zurückfällt.  Auf  einer  solchen  Basis  aber 
läßt  sich  ein  erfolgreicher  Krieg  nach  drei  F  r  o  n- 
ten  nicht  einleiten.  Es  ist  eine  gebieterische 
Pflicht,  daß  die  Verantwortung  für  das  eventuella 
Übergreifen  des  Konfliktes  auf  die  nicJit  unmittelbar 
Beteiligten  unter  allen  Umständen  Rußland  triff  t." 

Bethmann  Hollweg  rät  daher  Wien,  seine  bestimmte  Erklärung 
zu  wiederholen,  daß  es  territoriale  Erwerbungen  in  Serbien  nicht 
suche  un<]  nur  vorübergehend  Belgrad  und  mehrere  Punkte  in 
Serbien  besetzen  wolle,  als  Garantie  für  die  Erfüllung  der  öster- 
reichischen  Forderungen, 

„Erkennt  die  russische  Regierung  die  Berechtigung  dieses 
Standpunkts  nicht  an,  so  wird  sie  die  öffentliche  Meinung  ganz 
Europas  gegen  sich  haben,  die  im  Begriffe  steht,  sich  von  Öster- 
reich abzuwenden.  Ah  eine  weitere  Folge  wird  sich  die  allge- 
meine diplomatische  und  wahrscheinlich  auch  die  militärische 
Lage  sehr  wesentlich  zugunsten  Österreich-Ungarns  und  seiner 
Verbündeten   verschieben. 

Ew.  Exz.  wollen  sich  umgehend  in  diesem  Sinne  dem  Grafen 
Berchfold  gegenüber  nachdrücklich  aussprechen  und  eine  ent- 
sprechende Demarche  in  Petersburg  anregen,  Sie  werden  es  dabei 
so-gfäliig  zu  vermeiden  haben,  daß  der  Eindruck  ent- 
steht,  als  wünschten  wir  Österreich  zurück- 
zuhalten. Es  handelt  sich  lediglich  darum,  einen  Modus  zu 
finden,  der  die  Verwirklichung  des  von  Österreich-Ungarn  ange- 
strebten Ziels,  der  groß  serbischen  Propaganda  den  Lebensnerv  zu 
tmierhinden,  ermöglicht,  ohne  gleichzeitig  einen  Weltkrieg  zu  enl- 

95 


fesseln,  und  wenn  dieser  schließlich  nicht  zu  ver- 
meiden ist,  die  Bedingungen,  unter  denen  er  zu 
führen  ist ,  für  uns  nach  T  unlichlzeit  zu  v  er  - 
besser  n." 

Man  wird  zugeben,  daß  es  schwer  ist,  zu  entscheiden,  was  dem 
Reichskanzler  noch  am  28.  Juli  mehr  am  Herzen  lag:  den  Welt- 
krieg zu  vermeiden  oder  „die  Bedingungen,  unter  denen  er  zu 
führen  ist,  für  uns  nach  Tunlichkeit  zu  verbeserrn," 

Wilhelm  selbst  äußerte  sich  durchaus  nicht  sehr  entgegen- 
kommend gegenüber  dem  Hilferuf,  den  der  Zar  an  ihn  richtete,  in 
seinem  ersten  Telegramm  vom  29,  Juli.  Es  lautete  in  deutscher 
Übersetzung: 

„An  S.  M.  den  Kaiser, 

Neues  Palais. 

ich  bin  froh,  daß  Du  zurücfi  bist.  In  diesem  so  ernsten  Augcn- 
blicfi  b'tte  ich  Dich  inständig,  mir  zu  helfen.  Ein  unwürdiger 
Krieg  (! !  W.)  ist  an  ein  schwaches  Land  erklärt  worden.  Die 
Entrüstung  darüber,  die  ich  völlig  teile,  ist  in  Rußland  ungeheuer. 
Ich  sehe  voraus,  daß  sehr  bald  der  über  mich  gebrachte  Druck 
mich  überwältigen  wird,  und  ich  gezwungen  sein  werde,  weit- 
gehende Maßregeln  zu  treffen,  die  zum  Kriege  fähren  werden. 
Um  zu  versuchen,  ein  solches  Unheil,  wie  ein  europäischer  Krieg, 
abzuwenden,  bitte  ich  Dich  im  Namen  unserer  alten  Freundschaft, 
zu  tun,  was  Du  fzannsi,  um  Deinen  Bundesgenossen  zu  hindern,  zu 
weit  zu  gehen?     fW  or  in  besteht  das?     W.)  Nifty." 

Angesichts  dessen,  daß  Wilhelm  selbst  eben  erklärt  hatte,  zum 
Kriege  gegen  Serbien  liege  gar  keine  Veranlassung  vor,  sollte  man 
annehmen,  dieser  Hinweis  auf  die  furchtbaren  Folgen  des  kriegeri- 
schen Vorgehens  Österreichs  gegen  Serbien  müßte  Wilhelm  zu 
raschem  Eingreifen  veranlassen.  Nichts  von  alledem.  Nikolaus 
bittet  ihn,  alles  aufzubieten,  um  Österreich  zu  hindern,  daß  es 
nicht  zu  weit  geht,  Wilhelm  fragt:  Worin  besteht  das? 

Wilhelm  hält  den  Krieg  gegen  Serbien  für  völlig  unbegründet, 
und  protestiert  doch  durch  zwei  Ausrufungszeichen  dagegen,  daß 
dieser  Krieg  ein  „unv/ürdiger"  (ignoble,  im  deutschen  Weißbuch 
übersetzt  mit   „schmählich",  was  zu  stark  ist)   genannt  wird. 

Doch  Wilhelm  begnügt  sich  damit  nicht  Er  hängt  dem  Tele- 
gramm noch  folgende  Reflexionen  an: 

„Eingeständnis  der  Schwäche  seiner  selbst  und  Versuch,  die 
Verantwortung  mir  zuzuschieben.  Das  Telegramm  enthält  eine 
versteckte  Drohung  und  einem  Befehl  ähnliche  Aufforderung,  den 

9ö 


Allierten  in  den  Arm  zu  fallen.  Falls  Ew.  Ex.  mein  Telegramm 
gestern  Abend  abgesandt  haben,  muß  es  sich  mit  diesem  ge- 
kreuzt haben.^) 

Wir  werden  min  sehen,  wie  das  meine  wirkt.  Der  Ausdruck, 
„ignoble  war"  (unwürdiger  Krieg.  K.)  läßt  nicht  auf  monarchi- 
sches Solidaritätsgefühl  des  Zaren  scfdießen,  sondern  auf  eine 
panslavistische  Auffassung,  das  heißt,  die  Sorge  vor  einer  capitis 
diminutio  auf  dem  Balkan  im  Fall  österreichischer  Erfolge.  Diese 
konnten  ruhig  in  ihrer  Gesamtwirkung  erst  abgewartet  werden. 
Es  ist  später  immer  noch  Zeit  zum  Verhandeln  und  eventuell 
zum  Mobilmachen,  wozu  jetzt  gar  kein  Grund  für  Rußland  ist. 
Statt  uns  die  Sommation  zu  stellen,  den  Allierten  zu  stoppen, 
sollte  S.  M.  sich  an  den  Kaiser  Franz  losef  wenden  und  mit  ihm 
verhandeln,  um  die  Absichten  S.  M.  kennen  zu  lernen. 

Sollten  nicht  Kopien  der  beiden  Telegramme  an  S.  M.  den 
König   nach  London   zur  Information  gesandt  werden? 

Die  Sozi  machen  antimilitaristische  Umtriebe  in  den  Straßen; 
das  darf  nicht  geduldet  werden,  jetzt  auf  keinen  Fall. 

Im  Wiederholungsfall  loerde  ich  Belagerungszustand  prokla- 
mieren und  die  Führer  samt  und  sonders  tutti  qucnfi  einsperren 
lassen.  Loebell  und  Jagow  dahin  instruieren.  Wir  können  jetzt 
keine  Soz.  Propaganda  mehr  dulden!" 

Diese  Propaganda  richtete  sich  gegen  den  Krieg  Österreichs  mit 
Serbien,  den  Wilhelm  selbst  als  völlig  ungerechtfertigt  be- 
zeichnete. Statt  dem  den  Weltfrieden  gefährdenden  Verbündeten  in 
den  Arm  zu  fallen,  will  der  Kaiser  Jene  „ttitti  quanti  einsperren 
lassen",  die  gegen  den  Krieg  protestieren  und  er  verlangt,  daß 
man  Österreichs  Kriegführung  gewähren  lasse  und  die  „Gesamt- 
wirkung"  ihrer   Erfolge   erst   abwarte. 

13.  Italien. 

Zur  Zeit  der  Absendung  des  Ultimatums  an  Serbien  hatte  bei 
den  regierenden  Herren  in  Berlin  und  Wien  noch  unbekümmerte 
Selbstzuversioht  geherrscht,  die  glaubte,  den  Sieg  schon  in  der 
Tasche  zu  haben,  sei   es   den   diplomatischen,   wenn  Ruß- 


^)  Da»  war  in  der  Tat  der  Fall.  Das  Telegrainm  des  Zaren  traf  am  29.  J'ili  1  Uhr 
morgen*  In  Berlin  ein,  da»  Telegramm  des  Kaisers  an  den  Zaren  war  am  28.  10^^  abends 
räch  einem  Ko:izept  Stumms  {ertiggestelh  und  am  29.  um  1'*'^  morgens  zum  Berliner  Haupt- 
telegraphenaint  gegeben.  Ea  ging  also  erst  ab,  nachdem  das  Telegramm  des  Zaren  bereits 
in  Bcriln  war,  dieses  bildet  nicht  eine  Beantwortung  des  Kaisertelegramms,  wie  man 
vn'h  dem  deutschen  WeiSbuch  annehmen  mnS,  wo  das  Telegramm  Wilhelms  vom  28.  um 
10^^  nachmittags,  und  das  des  Zaren  vom  29.  nm  1  Uhr  nachmittags  datiert  ist.  K. 

97 


land  sich  kampflos  der  ihm  zugedachten  capitis  diminutio  untcr- 
Tvarf,  wie  Wilhelm  sich  ausdrückte,  das  heißt,  seiner  schimpflichen 
Degradierung,  Oder  den  m.  ilitärischen,  wenn  Rußland 
sich  dazu  verführen  ließ,  zum  Schwerte  zu  greifen. 

Doch  diese  Zuversicht  war  auf  die  Erwartung  aufgebaut,  daß 
es  gelingen  werde,  im  deutschen  Volke  für  den  Konflikt  den 
nötigen  Resonanzboden  zu  finden,  Italien  als  Bundesgenossen  zur 
Seite  zu  erhalten  und  England  zu  veranlassen,  neutral  zu  bleiben. 

Da  kam  die  Antwort  Serbiens,  Je  mehr  sie  wirkte,  desto  be- 
denklicher wurde  die  allgemeine  Stimmung  gegen  Österreich  und 
seine  Förderer,  So  entstand  jene  Unsicherheit,  deren  Anzeichen 
wir  eben  kennengelernt  hatten. 

Wir  haben  Wilhelms  Entrüstung  über  die  „Sozi"  gesehen. 
Nicht  v/eniger  Kopfschmerzen  bereitete  ihm  sein  italienischer 
Bundesgenosse, 

Hätten  die  Versdiworenen  von  Potsdam  die  Wirklichkeit  so  ge- 
sehen, wie  sie  war,  und  nicht,  wie  sie  nach  ihren  Wünschen  sein 
sollte,  dann  durften  sie  von  vornherein  nicht  auf  Italiens  Unter- 
stützung rechnen,  mußten"  sie  eher  auf  seine  Gegnerschaft  ge- 
faßt sein. 

Denn  auf  dem  Balkan  war  Italien  ebensosehr  Österreichs 
Rivale  wie  Rußland.  Ja,  die  österreichischen  Wege  kreuzten  v/eit 
mehr  als  die  russischen  die  Straße,  die  Italien  zu  gehen  gedachte, 
da  dieses  ebenso  wie  Österreich  Ausdehnungsgelüste  auf  der  west- 
lichen Seite  des  Balkans  hatte.  Zwischen  Rußland  und  Italien 
war  daher  nach  der  Annexion  Bosniens  durch  Österreich  1909 
eine   starke   Annäherung   in   der   Balkanpolitik   eingetreten. 

W^ohl  konnte  auch  Serbien  ein  Konkurrent  des  italienischen 
Imperialismus  auf  dem  Balkan  werden.  Aber  es  war  damals  noch 
klein,  ein  Ländchen  mit  3  Millionen  Einwohnern,  also  ganz  un- 
gefährlich im  Gegensatz  zur  großen  Habsburger  Monarchie  mit 
ihren  50  Millicaen. 

Und  nicht  nur  der  Imperialismus,  auch  die  Demokratie  Italiens 
stand  im  Gegensatz  zu  Österreich,  das  1  Million  Italicner  in 
seinen   Gebieten   unterdrückte   und   verfolgte, 

Italien  war  in  Wirklichkeit  bloß  der  Bundesgenosse  Deutsch- 
lands, nicht  Österreichs,  Zwischen  Italienern  und  Österreichern 
bestand  bittere  Feindschaft,  die  so  groß  war,  daß  schon  1909  der 
Chef  des  österreichischen  Generalstabs,  Conrad  v,  Hötzendorf, 
ziim  Krieg  gegen  Italien  gedrängt  hatte.  Die  Stimmung  der 
schwarzgelben    Generalstäbler    und    Diplomaten    war    nicht    ver- 

98 


bessert  worden  dadurch,  daß  1913  Italien  Österreichs  Pläne  eines 
Krieges   gegen    Serbien   vereitelte. 

So  v/enig  trauten  die  Verschworenen  dem  „Btmdesgenossen", 
daß  sie  es  für  notwendig  hielten,  vor  ihm  ebenso  wie  vor  der 
übrigen  Welt  das  Unternehmen  gegen  Serbien  auf  das  sorg- 
fältigste geheim  zu  halten.  Er  wurde  nicht  bloß  scheinbar,  wie 
die  deutsche  Regierung,  sondern  tatsächlich  durch  das  österreichi- 
sche Ultimatum  überrascht. 

Daß  die  italienische  Regierung  darob  sehr  erbittert  wurde, 
mußte  man  voraussehen.  Und  selbst  wenn  sie  sich  an  Öster- 
reichs Seite  hätte  stellen  wollen,  wäre  es  ihr  schwer  gefallen. 
Dena  die  öffentliche  Meinung  nahm  in  Italien  sofort  gegen  Öster- 
reich und  für  Serbien  Partei,  Eine  italienische  Regierung  war 
aber  weit  weniger  selbstherrlich  als  eine  deutsche  oder  öster- 
reichische. Sie  durfte  nicht  wagen,  sich  einer  stark  ausge- 
sprochenen  Volksstiramung   entgegenzustemmen. 

Das  einzige  Mittel,  Italien  zu  gewinnen,  hätte  unter  diesen 
Umständen  darin  bestehen  können,  daß  Österreich  Italien  aus- 
giebige Kompensationen  gewährt,  die  auch  vom  Volke  akzeptiert 
wurden,   z,   B.   die  Abtretung   des  Trentino, 

Eine  vorausschauende  Politik  hätte  sich  darüber  vergewissern 
müssen,  ehe  sie  sich  auf  das  Kriegsabenteuer  einließ  —  wenn  sie 
dieses  schon  einmal  für  geboten  hielt.  Von  ihrem  eigenen,  im- 
perialistischen Standpunkt  aus  hätten  Wilhelm  und  Bethmann, 
ehe  sie  in  Potsdam  Österreich  unbedingte  Unterstützung  beim 
Kriege  gegen  Serbien  versprachen,  von  Österreich  die  Zusicherung 
erlangen  müssen,  daß  es  zu  bestimmten  Konzessionen  an  Italien 
bereit  sei. 

Aber  dazu  hatte  man  damals  zu  große  Eile,  Das  Unternehmen, 
das  den  furchtbaren  Weltkrieg  heraufbeschwor,  wurde,  ganz  ab- 
gesehen von  allen  moralischen  Bedenken,  mit  solcher  Kopflosig- 
keit und  Leichtfertigkeit  in  Gang  gebracht,  daß  man  in  Berlin 
zunächst  gar  nicht  daran  dachte,  Wien  auf  Kompensationen  für 
Italien  festzulegen.  Hatte  man  ja  nicht  einmal  gefragt,  welches 
die  Ziele  des  Krieges  gegen  Serbien  waren!  Wie  über  diese 
Kriegsziele  Eng  man  auch  über  Italien  erst  hinterdrein  an  nach- 
zudenken. Zehn  Tage  nach  der  Potsdamer  Zusammenkunft,  am 
15,   Juli,  telegraphierte  Jagow  an  Tschirschky  in  Wien: 

„So  austrophob  im  allgemeinen  die  italienische  öffentliche 
Meimwsf  ist,  so  serbophil  hat  sie  sich  bisher  immer  gezeigt.  Es 
ist  aacfi  für  mich  kein  Zweifel,  daß  sie  bei  einem  österreichisch-' 

99 


serbischen  Koniukt  sich  prononzieri  auf  Seite  Serbiens  stellen 
wird.  Eine  territoriale  Ausbreitung  der  Österreich-ungarischen 
Monarchie,  selbst  eine  Ausdehnung  ihres  Einflusses  im  Balkan 
wird  in  Italien  perhorresziert  und  als  eine  Schädigung  der 
Position  Italiens  daselbst  angesehen.  Infolge  einer  optischen 
Täuschung  wird  angesichts  der  unvermeidlichen  Bedrohung  durch 
das  benachbarte  Österreich  die  in  Wirklichkeit  viel  größere  slavi- 
sche  Gefahr  verkannt.  Ganz  abgesehen  davon,  daß  die  Politik 
der  Regierung  in  Italien  nicht  unwesentlich  von  den  Stimmungen 
der  öffentlichen  Meinung  abhängt,  so  beherrscht  die  obige  Auf- 
fassung doch  auch  die  Köpfe  der  Mehrzahl  der  italienischen 
Staatsmänner.  Ich  habe  bei  ihnen  jedesmal,  wenn  eine  Be- 
drohung Serbiens  durch  Österreich  in  Frage  kam,  eine  außer- 
ordentliche Nervosität  konstatieren  können.  Durch  eine  Partei- 
nahme Italiens  für  Serbien  würde  fraglos  die  russische  Aktions- 
lust wesentlich  ermutigt.  In  Petersburg  würde  man  damit 
rechnen,  daß  Italien  nicht  nur  seinen  Bundespflichten  nicht  nach- 
kommt, sondern  sich  womöglich  direkt  gegen  Österreich-Ungarn 
wendet.  Ein  Zusammenbruch  der  Monarchie  würde  für  Italien 
ja  aucli  die  Aussicht  auf  Gewinnung  einiger  langbegehrter  Landes- 
teile eröffnen. 

Es  ist  daher  meiner  Ansicht  nach  von  größter  Bedeutung, 
daß  Wien  sich  mit  dem  Kabinett  von  Rom  über  seine  im  Kon- 
fliktsfalle zu  verfolgenden  Ziele  in  Serbien  auseinandersetzt  und 
es  auf  seiner  Seite  oder  —  da  ein  Konflikt  mit  Serbien  allein 
keinen  casus  foederis  bedeutet  —  strikte  neutral  hält.  Italien  hat 
nach  seinen  Abmachungen  mit  Österreich  bei  jeder  Veränderung 
im  Balkan  zugunsten  der  Donaumonarchie  ein  Recht  auf  Kom- 
pensationen, Diese  würden  also  das  Objekt  und  den  Köder  für 
die  Verhandlungen  mit  Italien  bilden.  Nach  unseren  Nachrichten 
würde  z,  B.  die  Überlassung  von  Valona  in  Rom  nicht  als  an- 
nehmbare Kompensation  angesehen  werden.  Italien  scheint  über- 
haupt von  dem  Wunsche,  sich  auf  der  altera  sponda  der  Adria 
festzusetzen,  zurzeit  abgekommen  zu  sein. 

Wie  ich  streng  vertraulich  bemerke,  dürfte  als  einzige  voll- 
wertige Kompensation  in  Italien  die  Gewinnung  des  Trento  er- 
achtet werden.  Dieser  Bissen  wäre  allerdings  so  fett,  daß  damit 
auch  der  austrophoben  öffentlichen  Meinung  der  Mund  gestopft 
werden  körMte.  Daß  die  Hergabe  eines  alten  Landesteils  der 
Monarchie  mit  den  Gefühlen  des  Herrschers  wie  des  Volkes  in 
Österreich  sehr  schwer  vereinbar  wäre,  läßt  sich  nicht  verkennen. 

100 


Es  fragt  sich  aber  anderseits,  welchen  Wert  die  Haltung  Italiens 
für  die  österreichische  Politik  hat,  welchen  Preis  man  dafür 
zahlen  will  and  ob  der  Preis  im  Verhältnis  zu  dem  anderwärts 
erstrebten  Gewinne  sieht. 

Eure  Exzellenz  bitte  ich,  die  Haltung  Italiens  zum  Gegenstand 
einer  eingehenden  vertraulichen  Rücksprache  mit  dem  Grafen 
Borchtold  zu  machen  und  dabei  eventuell  auch  die  Frage  der 
Kompensationen  zu  berühren.  Ob  bei  diesem  Gespräch  die  Frage 
des  Trento  erwähnt  werden  kann,  muß  ich  Ihrer  Beurteilung  und 
Kenntnis  der  dortigen  Dispositionen  anheimstellen. 

Die  Stellungnahme  Italiens  wird  jedenfalls  für  Rußlands  Hal- 
tung bei  dem  serbischen  Konflikt  von  Bedeutung  sein;  sollte  sich 
aas  letzterem  eine  allgemeine  Konflagration  ergeben, 
so  würde  sie  auch  für  uns  von  größter  militärischer  Wichtig- 
keit sein. 

Zur  Vermeidung  von  Mißverständnissen  bemerke  icfi  noch,  daß 
wir  dem  römischen  Kabinett  keinerlei  Mitteilung  über  die  Ver- 
handlungen zwischen  Wien  und  Berlin  gemacht  haben  und  daß 
folglich  auch  die  Kompensaiionsfrage  von  uns  nicht  erörtert 
worden  ist." 

Jagow  hatte  gut  reden.  Er  hätte  die  Beschränktheit  und  Ver- 
stocktheit seiner  österreichischen  Freunde  besser  kennen  sollen. 
Von  Kompensationen  wollte  man  in  Wien  nichts  wissen. 

So  berichtet  Tschirschky  am  20.  Juli  über  eine  Besprechung 
mit  Berchtold: 

„Graf  Berchtold  sagte,  seiner  Ansicht  nach  würde,  wie  die 
Dinge  liegen,  die  Kompensationsfrage  jetzt  überhaupt  nicht  aktuell 
werden;  in  der  gestrigen  Besprechung  sei,  besonders  auf  Drängen 
des  Grafen  Tisza,  der  hervorgehoben  habe,  weder  ihm  noch 
irgend  einer  ungarischen  Regierung  könne  eine  Stärkung  des 
slavischen  Elements  in  der  Monarchie  durch  Angliederung  serbi- 
scher Gebietsteile  zugemutet  werden,  beschlossen  worden,  von 
jeder  dauernden  Einverleibung  fremden  Gebiets  abzusehen. 
Hiermit  wird  dann  jeder  irgendwie  stichhaltige  Grund  für  Italien, 
Kompen.^afionen  zu  fordern,  wegfallen.  Auf  meine  Bemerkung, 
daß  seitens  Italien  selbst  schon  die  Niederwerfung  Serbiens  und 
die  damit  verbundene  Ausdehnung  des  Einflusses  der  Monarchie 
cm  Balkan  als  eine  Schädigung  seiner  Position  angesehen  werden 
und  möglicherweise  zu  Reklamationen  führen  würde,  meinte  der 
Minister,     dieser    Standpunkt    stehe    im     Widerspruch    mit    den 

101 


wiederholten    Erklärungen    des    Marquis    von    San    Giuliano,    daß 
Italien   ein   starkes   Österreich    brauche." 

Nachdem  der  österreichische  Graf  diese  tiefe  Weisheit  zum 
besten  gegeben,  sprach  er  weiter  über  das  Nationalitätenprinzip, 
das  von  Italien  selbst  durch  die  Besetzung  Libyens  durchbrochen 
worden  sei,  und  fuhr  fort: 

„Wenn  man  sich  übrigens  in  Rom  augenblicklich  eine  weit- 
gehende österreichisch  -  italienische  Kooperation  praktisch  nicht 
vorstellen  kann,  so  läge  durchaus  kein  Anlaß  zu  einer  solchen 
vor.  Österreich  verlange  weder  eine  Kooperation  noch  eine 
Unterstützung,  sondern  lediglich  Enthaltung  feindlichen  Vor- 
gehens gegen  den  Bundesgenossen." 

Im  Übrigen  machten  dem  tatenlustigen  Minister  die  Italiener 
keine  Sorgen: 

„Er  gebe  sich  über  die  antiösterreichische  und  proserbische 
Stimmung  San  Giulianos  und  der  Italiener  keinen  Illusionen  hin, 
sei  aber  fest  davon  überzeugt,  daß  Italien  mili- 
tärisch und  innerpolitisch  kaum  daran  denken 
könne,  aktiv  einzugreifen.  Herr  v.  Merey  (der  öster- 
reichische Botschafter  in  Rom)  glaube  und  er,  der  Minister,  hielte 
diese  Ansicht  für  begründet,  daß  es  San  Giuliano  hauptsächlich 
darauf  ankomme,  Österreich  zu  bluffen  und  für  sich  Schutz  vor 
der  öffentlichen  Meinung  Italiens  zu  suchen." 

Schon  nach  diesen  Proben  von  Leichtfertigkeit  und  Beschränkt- 
heit hätte  der  deutschen  Regierung  vor  dem  Bundesgenossen  bange 
werden  müssen,  mit  dem  sie  sich  in  ein  Abenteuer  einließ,  das  zu 
einer  .allgemeinen  Konflagration'  zu  führen  drohte, 

Wilhelm  selbst  blieb  jedoch  zunächst  noch  hoffnungsfroh.  Ja- 
gow  telegraphierte  ihm  am  25.  Juli  einen  Bericht  Flotows  aus 
Rom,  der  am  24,  abends  von  dort  abgegangen  war.    Es  heißt  dort: 

„In  mehrstündiger,  ziemlich  erregter  Konferenz  mit  Minister- 
präsident Salandra  und  Marquis  di  San  Giuliano  führte  letzterer 
aus,  daß  der  Geist  des  Dreibundvertrages  bei  einem  so  folgen- 
reichen aggressiven  Schritt  Österreichs  verlangt  hätte,  sich  vorher 
mit  den  Bundesgenossen  ins  Einvernehmen  zu  setzen.  Da  dies 
bei  Italien  nicht  geschehen  sei,  so  kann  sich  Italien  bei  weiteren 
Folgen  aus  diesem  Schritt  nicht  für  engagiert  halten. 

Außerdem  verlange  Artikel  7  des  Dreibundvertrages  (den  ich 
hier  nicht  habe),  daß  bei  Veränderungen  auf  dem  Balkan  die 
Kontrahenten  sich  vorher  verständigten  und  daß,  wenn  einer  der 

102 


Kontrahenten  territoriale  Veränderung  herbeüühre,  der  andere 
entschädigt  würde. 

Auf  meine  Bemerkung,  daß,  soviel  ich  wisse,  Österreich  erklärt 
hebe,  territoriale  Erwerbungen  nicht  zu  beabsichtigen,  sagte  der 
Minister,  daß  eine  solche  Erklärung  nur  sehr  bedingt  abgegeben 
worden  sei.  Österreich  habe  vielmehr  erklärt,  territoriale  Er- 
werbungen jetzt  nicht  zu  beabsichtigen,  vorbehaltlich  späterer 
etwa  notwendig  werdender  anderer  Entschlüsse.  Der  Minister 
meinte,  man  werde  es  ihm  daher  nicht  verdenken,  wenn  er 
rechtzeitig    V orsichtsmaßregeln    ergreife. 

Der  Text  der  österreichischen  Note  sei  so  unerhört  aggressiv 
und  ungeschickt  abgefaßt,  daß  die  gesamte  öflcntliche  Meinung 
Europas  und  mit  ihr  Italiens  (es  hatinAlbanien  still  mau- 
sen wollen  und  das  hat  Österreich  verpurrt.  W.J 
gegen  Österreich  sein  würden.  Dagegen  könne  keine  italienische 
Regierung  ankämpfen.  (Blech.  W.J 

Nach  meinem  Eindruck  ist  die  einzige  Möglichkeit,  Italien  fest- 
zuhalten, die,  ihm  zu  rechter  Zeit  Kompensationen  zu  versprechen 
(der  kleine  Dieb  muß  eben  immer  was  m  i  t  - 
schlucken.  W.),  wenn  Österreich  territoriale  Besitznahme  oder 
Besetzung  des  Lovcen  vornimmt." 

Jagow  bemerkt  zu  diesem  Telegramm,  der  italienische  Gesandte 
in  Berlin,  Bollati,  habe  Kompensationen  verlangt,  andernfalls 
müsse  die  Politik  Italiens  darauf  gerichtet  sein,  eine  österreichische 
Gebietserweiterung  zu  verhindern.  Wilhelm  unterstreicht  das 
Wort  „Kompensationen"  und  fügt  hinzu;  „Albanien",  An  den 
Schluß  des  Telegramms  aber  setzt  er  die  klassische  Bemerkung: 

„Das  ist  lauter  Quatsch  und  wird  sich  schon  von  selbst  geben  im 
Laufe  der  Ereignisse." 

Im  Auswärtigen  Amt  und  selbst  im  Generalstab  sah  man  indes 
Italiens  Haltung  weniger  hoffnungsfreudig  an,  und  Wilhelm  selbst 
begann,  nachdem  er  wieder  festes  Land  betreten,  die  Dinge  etwas 
nüchterner  zu  betrachten,  namentlich  als  er  sah,  wie  die  serbische 
Antwort  wirkte. 

Die  deutsche  Regierung  fuhr  fort,  Österreich  zu  drängen,  daß  es 
Italien  Kompensationen  gewähre. 

Flotow  berichtete  am  25.  Juli  aus  Rom: 

„Bei  gestriger  Diskussion  mit  Herrn  Salandra  und  Marquis  di 
San  Ciuliano,  die  wiederholt  zu  scharfen  Zusammenstößen  zwischen 
dem  Marquis  di  San  Giuliano  und  mir  führte,  schienen  sich  auf 
italienischer  Seite  drei  Funkte  abzuzeichnen:  Erstens  Furcht   vor 

103 


der  öffentlichen  Meinung  Italiens,  zweitens  das  Bewußtsein  mili-. 
tärischer  Schwäche  und  drittens,  der  Wunsch,  bei  dieser  Gelegen- 
heit etwas  für  Italien  herauszuschlagen,  wenn  möglich  das  Tren- 
tino." 

Dazu  bemerkt   Bethmann   Holl\t'eg: 

„S.  M.  hält  es  für  unbedingt  erforderlich,  daß  sich  Österreich 
mit  Italien  rechtzeitig  wegen  der  Kompensationsfrage  ver- 
ständigt. Das  soll  Herrn  von  Tschirschky  zur  Weitergabe  an 
Graf  Berchtold  im  ausdrücklichen  Auftrage  S.  M.  rf.itgeteiU 
werden." 

Flotow  fährt  in  seinem  Bericht  fort: 

„Die  Möglichkeit,  daß  Italien  sich  eventuell  auch  gegen  Öster- 
reich wenden  könnte,  sprach  Marquis  di  San  Giuliano  nicht  direkt 
aus,  sie  klang  nur  in  leisen  Andeutungen  durch  .  .  .  Wie  schon 
gemeldet,  vertrat  Marquis  di  San  Giuliano  auf  Grund  der  Fassung 
der  österreichischen  Note  mit  Nachdruck  die  These,  daß  das  Vor- 
gehen Österreichs  gegen  Serbien  ein  aggressives  sei,  daß  daher 
auch  alle  sich  etwa  ergebenden  Einmischungen  Rußlands  und 
Frankreichs  den  Krieg  nicht  zu  einem  defensiven  machen  würden, 
und  daß  damit  der  casus  foederis  nicht  gegeben  sei.  Ich  habe 
diesen  Standpunkt  schon  aus  taktischen  Gründen  lebhaft  bekämpft. 
Voraussichtlich  wird  aber  Italien  an  dieser  Möglichkeit  zu  ent- 
schlüpfen   festhalten. 

Das  Gesamlresultat  ist  also:  Auf  eine  aktive  Hilfe  Italiens  in 
einem  etwa  entstehenden  europäischen  Konflikt  wird  man  schwer- 
lich rechnen  können.  Eine  direkte  feindliche  Haltung  Italiens 
gegen  Österreich  dürfte  sich,  soweit  sich  heute  übersehen  läßt, 
durch  ein  kluges  Verhalten  Österreichs  verhindern  lassen." 

Am  26,  berichtet  Flotow  weiter: 

„Marquis  di  San  Giuliano  fährt  fort,  mir  zu  sagen,  daß  das 
Vorgehen  Österreichs  für  Italien  höchst  bedenklich  sei,  da  Öster- 
reich morgen  vjegen  der  Irredenta  dasselbe  Vorgehen  gegen  Italien 
richten  könne.  Zu  solchen  Schritten  könne  daher  Italien  nicht 
seine  Zustimmung  geben.  Nach  vertraulichen  Nachrichten  aus 
Bukerest  sei  S.  M.  der  König  von  Rumänien  der  gleichen  Ansicht 
wegen  der  in  Ungarn  lebenden  Rumänen  .  .  , 

Den  österreichischen  Versicherungen,  kein  serbiscJies  Territo- 
rium zu  beanspruchen,  glaubt  der  Minister  immer  noch  nicht  .  .  . 
Der  Minister  deutete  wieder  an,  ohne  Kompensation  sei  Italien 
gezwungen,  Österreich  in  den  Weg  zu  treten." 

104 


Wer  dem  Weltfrieden  wirklich  dienen  wollte,  mußte  natürlich 
auf  Österreich  vor  allem  dahin  drücken,  daß  es  sich  mit  der  ser- 
bischen Antwort  begnügte.  Statt  dessen  drückte  man  auf  Österreich, 
damit  es  sich  mit  Italien  verständige,  um  stärker  zu  sein,  für  den 
Fall,  daß  der  serbische  Krieg  zu  einem  europäischen  Konflikt 
werde.  Je  mehr  dessen  Wahrscheinliclikeit  wächst,  desto  dringen- 
der die  Mahnungen  an  Wien, 

Am  26,  telegraphiert  Bethmann  Hollweg  an  Tschirschky  in  Wien: 

„Auch  der  Chef  des  Generalstabs  hält  es  für  dringend  erforder- 
lich, daß  Italien  fest  heim  Dreibund  gehalten  wird.  Eine  Ver- 
ständigung Wiens  mit  Rom  ist  daher  nötig.  Wien  darf  derselben 
nicht  mit  fraglichen  Vertragsdeutungen  ausweichen,  sondern  muß 
dem  Ernst  der  Lage  entsprechend  seine  Entschlüsse  fassen." 

Immer  dringlicher  v/erden  die  Aufforderungea.  Am  27.  tele- 
graphiert Jagow  an  den  Botschafter  in  Wien: 

„S.  M.  der  Kaiser  hält  es  für  unbedingt  erforderlich,  daß  Öster- 
reich sich  mit  Italien  rechtzeitig  über  Artikel  7  und  Kom- 
pensationsfragen verständigt.  S.  M.  haben  ausdrücklich  befohlen, 
das  Ew.  Exz.  zur   Weitergabe  an  Graf  Berchtold  mitzuteilen." 

Aber  weder  dem  Chef  des  General stabcs  noch  dem  Kaiser  selbst 
gelang  es,  die  passive  Resistenz  der  Herren  vom  Ballplatz  zu  über- 
winden, die  einmal  entschlossen  waren,  in  den  Italienern  nicht 
den  Bundesgenossen,  sondern  den  Feind  zu  sehen. 

Und  wie  Italien  drohte  bei  dieser  verbissenen  Verbohrtheit  auch 
der  andere  Bundesgenosse  zu  versagen,  den  Deutschland  noch 
hatte,  Rumänien. 

Das  mußte  denn  doch  bedenklich  stimmen.  Noch  mehr  aber  die 
Haltung  Englands- 

14.   Eng'and. 

Bis  zum  29,  Juli. 
Die  deutsche  Regierung  hatte  ei-wartet,  es  werde  ihr  gelingen, 
England  neutral  zu  erhalten,  wenn  es  zum  Konflikt  mit  Rußland 
und  Frankreich  kommen  sollte.  Man  mochte  darauf  rechnen, 
daß  Irland  vor  offener  Rebellion  zu  stehen  schien,  und  daß  der 
pazifistisclie  Gedanke  nirgends  stärker  war  als  gerade  in  England, 
nicht  nur  bei  seine»  Arbeitern,  sondern  auch  bei  einem  großen«  Teil 
seiner  Bourgeoisie,  Selbst  vielen  bürgerlichen  Elementen,  die  an 
einem  Kolonialkrieg  nichts  auszusetzen  hatten,  graute  vor  einem 
europäischen  Kriege  mit  seinen  vernichtenden  ökonomischen 
Folgen. 

105 


Die  deutsche  Regierung  durfte  also  wohl  erwarten,  daß  gegen 
einen  Krieg  mit  Deutschland  sich  starke  Widerstände  im  eng- 
lischen Parlament  regen  würden.  Aber  sie  vergaß,  daß  dies  bloß 
von  einem  durch  nichts  provozierten  Angriffskrieg  galt.  Die 
deutschen  Flottenrüstungen  hatten  die  gesamte  Bevölkerung  Eng- 
lands mit  wachsenden  Besorgnissen  vor  einer  geplanten  deutschen 
Invasion  erfüllt.  Ein  Krieg  zur  Niederwerfung  Frankreichs  oder 
gar  eine  Besetzung  Belgiens  durch  Deutschland  mußte  den  stärk- 
sten Abwehrwillen  des   englischen   Volkes  hervorrufen. 

Damit  scheint  die  deutsche  Regierung  nicht  ernsthaft  gerechnet 
zu  haben,  Ihr  ganzes  Vorgehen  war  auf  die  Voraussetzung  der 
englischen  Neutralität  aufgebaut,  , 

In  einem  von  Pourtales  erstatteten  Bericht  über  ein  Gespräch 
mit  Sasonow   (vom  21,  Juli)  hieß  es: 

„Der  Minister  wies  im  Laufe  des  Gesprächs  wisd'zrkolt  darauf 
hin,  daß  nach  den  ihm  vorliegenden  Nachrichten  die  Lage  auch 
in  Paris  und  London  ernst  angesehen  werde.  Er  war  dabei  sicht- 
lich bestrebt,  bei  mir  den  Eindruck  zu  erwecken,  daß  auch  in  Eng- 
land die  Haltung  Österreich-Ungarns  sehr  mißbilligt  werde." 

Mit  großer  Entschiedenheit  bemerkte  dazu  Wilhelm:  „Er  irrt!" 
Hätte  er  Lichnowskys  Berichte  mit  größerer  Aufmerksamkeit  und 
geringerer  Voreingenonimeniieit  gelesen  —  dann  wäre  er  vorsich- 
tiger  gewesen. 

Aber  richtig  ist  es,  daß  die  englische  Regierung  beim  Ausbruch 
des  serbisch-österreichischen  Konfliktes  zunächst  eine  neutrale 
Haltung  einzunehmen  suchte,  um  zwischen  Österreich  und  Ruß- 
land zu  vermitteln. 

In  gleichem  Sinne  sprach  sich  damals  auch  der  englische  König 
zu  Wilhelms  Bruder,  dem  Prinzen  Heinrich,  aus: 

Dieser  schrieb  am  28.  Juli  von  Kiel  aus: 
„Mein  lieber  Wilhelm. 

Vor  meiner  Abreise  von  London  und  zwar  am  Sonntag  morgin 
(25.  Juli)  hatte  ich  auf  mein  Ansuchen  eine  kurze  Unterredung 
mit  Ccorgie,  welcher  sich  über  den  Ernst  der  augenblicklichen 
Lage  vollkommen  im  Klaren  war  und  versicherte,  er  und  seine 
Regierung  würden  nichts  unversucht  lassen,  um  den  Kampf 
zwischen  Österreich  und  Serbien  zu  lokalisieren.  Deshalb  hat  seine 
Regierung  den  Vorschlag  gemccfit,  Deutschland,  England.  Frank- 
reich und  Italien,  wie  Du  längst  weißt,  möchten  intervenieren,  um 
zu  versuchen,  Rußland  im  Zaume  zu  halten.  Er  hoffe,  daß  Deutsch- 
land in  der  Lage  sein  werde,  trotz  seines  Bündnisverhältnisses  zu 

106 


Österreich,  diesem  Vorschlag  beizutreten,  um.  den  europäisehen 
Krieg  zu  vermeiden,  dem,  wie  er  sagt,  wir  näher  seien  als  je  zu- 
vor. Er  sagte  weiter  wörtlich:  „we  shall  try  all  we  can  to  keep 
out  of  this  and  shall  remain  neutral"  (wir  werden  alles  aufbieten, 
nicht  hineingezogen  zu  werden  und  werden  neutral  bleiben).  Daß 
diese  Äußerung  ernst  gemeint  war,  davon  bin  ich  überzeugt,  ebenso 
wie  davon,  daß  England  auch  neutral  bleiben  wird.  Ob  es  dies 
jedoch  auf  die  Dauer  wird  können,  darüber  kann  ich  nicht  urteilen, 
hege  aber  meine  Bedenken  wegen  des  Verhältnisses  zu  Frankreich. 

Georgie  war  sehr  ernst  gestimmt,  folgerte  logisch  und  hatte  das 
ernsteste  und  aufrichtige  Bestreben,  dem  eventuellen  Weltbrand 
vorzubeugen,  wobei  er  stark  auf  Deine  Mithilfe  rechnete.  —  Den 
Inhalt  der  Unterredung  teilte  ich  Lichnowsky  mit  (schon  am 
26.  Juli,  K.j,  mit  der  Bitte,  diesen  dem  Kanzler  zu  übermitteln . . . 

Dein  treu  gehorsamer  Bruder 
Heinrich." 

Der  Bericht  über  das  Gespräch  zeichnet  sich  nicht  durch  über- 
mäßige Logik  aus.  Er  sagt,  die  englische  Regierung  schlage  vor, 
daß  Deutschland,  England,  Frankreich  und  Italien  zusammen- 
treten, um  R  u  ß  1  a  n  d  im  Zaume  zu  halten,  und  hoffe,  daß  Deutsch- 
land sich  durch  sein  Bündnisverhältnis  zu  Österreich  nicht 
hindern  lasse,  diesem  Vorschlag  beizutreten.  Es  ist  offenbar,  daß 
das  Bundesverhältnis  in  Frage  nur  kommen  konnte,  wenn  es  galt, 
Österreich  im  Zaume  zu  halten.  Wahrscheinlich  hat  ,, Georgie" 
von  Rußland  und  Österreich  gesprochen.  Deshalb  wollen  wir 
doch  nicht  gleich  die  Glaubwürdigkeit  des  ganzen  Briefes  wegen 
Senilität  ä  la  Szögyeny  bestreiten.  Was  die  Neutralität  anbelangt, 
so  war  offenbar  nur  gesagt  worden,  wir  werden  versuchen, 
neutral  zu  bleiben,  so  lange  wir  können.  Heinrich  zv/eifelt  selbst, 
daß  dies  auf  die  Dauer  möglich  sein  werde.  Wilhelm  aber  sah 
hierin  ein  unter  allen  Umständen  bindendes  Versprechen. 

Dabei  hatte  er  schon  vor  dem  Ultimatum  an  Serbien  die  eng- 
lische Neutralität,  die  er  nicht  nur  erwartete,  sondern  gewisser- 
maßen als  se,in  gutes  Recht  forderte,  in  dem  Sinne  aufgefaßt,  daß 
England  sich  jeder  Einwirkung  auf  Österreich  zu  enthalten  habe 
und  diesem  freien  Lauf  lassen  müsse. 

Das  geht  hervor  aus  seinen  Glossen  zu  einem  Bericht  Lichno^v- 
skys  vom  22.  Juli.  Wir  bringen  diesen  vollständig  mit  Wilhelms 
Zusätzen  in  Klammern: 

„Sir  Edward  Grey  wird,  wie  ich  vertraulich  erfahre,  dem  Grafen 
Mensdorff  morgen   erklären,   die   britische  Regierung  werde   ihren 

107 


Einfluß  dahin  zur  Geltung  bringen,  daß  die  österreichisch  unga- 
rischen Forderungen,  falls  sie  gemäßigt  seien  und  sich  mit 
der  Selbständigkeit  des  serbischen  Staates  ver- 
einbaren ließen  (darüber  zu  befinden,  steht  ihm  nicht 
zu,  das  ist  Sache  S.  M.  des  Kaisers  Franz  Josef.  W.), 
von  der  serbischen  Regierung  angenommen  würden.  In  ähnlichem 
Sinne  glaube  er  auch,  daß  Sasonow  seinen  Einfluß  in  Belgrad 
geltend  machen  werde.  Voraussetzung  für  diese  Haltung  sei  aber, 
daß  von  Wien  aus  keine  unbewiesenen  Anklagen  ä  la  Friedjung 
vorgebracht  würden  und  daß  die  österreichisch-ungarische  Regie- 
rung in  der  Lage  sei,  den  Zusammenhang  zwischen  dem  Mord  von 
Serajewo  mit  den  politischen  Kreisen  Belgrads  unzweideutig  fest- 
zustellen. (Ist  ihre  Sache.  W.j  Alles  hängt  von  der  Art  ab, 
wie  man  in  Wien  die  Note  gestalte  und  von  den  Ergebnissen  der 
bisherigen  Untersuchung.  Auf  Grund  leichtfertiger  Behauptungen 
(W  a  s  ist  leichtfertig?  Wie  kann  G  r  e  y  so  ein 
Wort  über  den  alten,  ehrwürdigen  Herrn  ge- 
brauchen! W.)  sei  es  jedoch  unmöglich,  in  Belgrad  Vor- 
stellungen zu  machen. 

Ich  bemühe  mich  unterdessen,  hier  dahin  zu  wirken,  daß  man 
mit  Rücksicht  auf  das  berechtigte  Verlangen  Österreichs  nach  einer 
Genugtuung  und  endlichen  Einstellung  der  dauernden  Beunruhi- 
gungen für  ein2  bedingungslose  Annahme  der  österreichischen 
Forderungen  eintritt,  selbst  wenn  sie  der  nationalen  Würde 
Serbiens  (gibt  es  nicht!  W.)  nicht  vollauf  Rechnung 
tragen  sollten. 

Ich  begegne  hierbei  der  Erwartung,  daß  es  unserem  Einfluß  in 
Wien  gdnngcn  ist,  unerfüllbare  Forderungen  zu  unterdrücken 
(W  i  e  käme  ich  dazu!  Geht  mich  gar  nichts  an! 
Was  heißt  unerfüllbar?  Die  Kerle  haben  Agita- 
tion mit  Mord  getrieben  und  müssen  geduckt 
werden!  Das  ist  eine  ungeheuerliche  britische 
Unverschämtheit.  Ich  bin  nicht  berufen,  ä  l  a 
G  r  e  y ,  S.  M.  dem  Kaiser  Vorschrift  en  über  die 
Wahrung  seiner  Ehre  zu  machen.  W.)  Man  rechnet  mit 
Bestimmtheit  damit,  daß  wir  mit  Forderungen,  die  offenkundig 
den  Zweck  haben,  den  Krieg  herbeizuführen,  uns  nicht  identifi- 
zieren würden,  und  daß  wir  keine  Politik  unterstützen,  die  den 
Serajewoer  Mord  nur  als  Vorwand  benützt  für  österreichische 
Balkanwünschs  und  für  die  Vernichtung  des  Friedens  von  Buka- 
rest.    Im   übrigen  hat    nir  Sir  Edward  Grey  auch  heute  wieder 

108 


sagen  lassen,  daß  er  in  Petersburg  bestrebt  ist,  im  Sinne  des  öster- 
reichischen Standpunktes  zu  wirken.  Es  hat  aber  hier  nicht  an- 
genehm berührt,  daß  Graf  Berchtold  es  bisher  ganz  auffallend 
vermieden  hat,  mit  Sir  Maurice  de  Bansen  über  die  serbische 
Frage  zu  sprechen." 

Jagow  fügt  zu  diesem  Bericht  Lichnowskys  hiiLzu: 

„Eiv.  Majestät  Botschafter  in  London  erhält  Instruktion  zur 
Regelung  seiner  Sprache,  daß  wir  österreichische  Forderungen 
nicht  kannten,  sie  aber  als  interne  Fragen  Österreich-Ungarns  6c- 
trachten,  auf  die  uns  Einwirkung  nicht  zustände." 

Dazu  bemerkt  Wilhelm: 

„Richtig!  Das  soll  Grey  aber  recht  ernst  und  deutlich  gesagt 
werden,  damit  er  sieht,  daß  ich  keinen  Spaß  verstehe.  Grey  be- 
geht den  Fehler,  daß  er  Serbien  mit  Österreich  und  anderen  Groß- 
mächten auf  eine  Stufe  stellt!  Das  ist  unerhört!  Serbien  ist  eine 
Räuberbande,  die  für  Verbrechen  gefaßt  werden  muß!  Ich  werde 
mich  in  nichts  einmischen,  was  der  Kaiser  zu  beurteilen  allein  be- 
fugt ist.  Ich  habe  diese  Depesche  erwartet  und  sie  überrascht 
mich  nicht!  Echt  britische  Denkweise  und  herablassend  befeiilende 
Art,  die  ich  abgewiesen  haben  will!" 

In  dieser  Weise  gedachte  Wilhelm  um  die  englische  Neutralität 
zu  werben.  Natürlich  haben  seine  Diplomaten  Wasser  in  seinen 
jährenden  Wein  gegossen,  aber  die  sachliche  Schwierigkeit  blieb 
bestehen:  der  Gegensatz  zwischen  dem  österreichischen  und  dem 
britischen  Standpunkt  war  zu  groß,  als  daß  England  hätte  fort- 
fahren können,  wie  es  beabsichtigt,  für  jenen  einzutreten  und  aus- 
schließlich Rußland   den  Zaum   aufzulegen. 

Das  zeigt  sich  sofort  nach  dem  Bekanntwerden  des  österreichi- 
schen Ultimatums,     Schon   am  24.   Juli  berichtet  Lichnowsky: 

„Sir  F.  Grey  ließ  mich  soeben  zu  sich  bitten.  Der  Minister  war 
sichtlich  stark  unter  dem  Eindruck  der  österreichischen  Note,  die 
seiner  Ansicht  nach  alles  überträfe,  was  er  bisher  in  dieser  Art 
jemals  gesehen  habe.  Er  sagte,  er  habe  bisher  keine  Nachricht 
aus  Petersburg  und  wisse  daher  nicht,  wie  man  dort  die  Sache 
auffasse.  Er  bezweifele  aber  sehr,  daß  es  der  russischen  Regie- 
rung möglich  sein  v)erde,  der  serbischen  die  bedingungslose  An- 
nahme der  österreichischen  Forderungen  zu  empfehlen.  Ein  Staat, 
der  so  etwas  annehme,  höre  doch  eigentlich  auf,  als  selbständiger 
Staat  zu  zählen.  (Das  wäre  sehr  erwünscht.  Es  ist 
kein  Staat  im  europäischen  Sinn,  sondern  eine 
Räuberbande.    W.)    Es  sei  für  ihn,  Sir  E.  Grey,  auch  schwer, 

109 


in  diesem  Augenblick  in  Petersburg  irgendwelche  Ratsckläge  zu 
geben.  Er  könne  nur  hoffen,  daß  dort  eine  milde  (! !  W.)  und 
rahige  Auffassung  der  Lage  Platz  greife.  So  lange  es  sich  um 
einen  .  .  .  lokalisierten  Streit  zwisclien  Österreich  und  Serbien 
handle,  ginge  ihn,  Sir  E.  Grey,  die  Sache  nichts  an  (rieht  i  g.  W.J, 
anders  würde  die  Sache  aber  sofort,  wenn  die  öffentliche  Meinung 
in  Rußland  die  Regierung  zwinge,  gegen  Österreich  vorzugehen. 

Auf  meine  Bemerkung,  daß  man  die  Balkanuölker  nicht  mit  dem- 
selben Maßstab  messen  dürfe,  wie  europäische  Kulturvölker 
(richtig,  sind  eben  keine!  W.j  und  daß  man  daher  ihnen 
gegenüber,  das  habe  schon  die  barbarische  Art  ihrer  Kriegführung 
gezeigt,  eine  andere  Sprache  führen  müsse,  wie  etwa  gegen  Briten 
und  Deutsche  (richtig!  W.J,  entgegnete  der  Minister,  daß,,  wenn 
auch  er  diese  Auffassung  vielleicht  teilen  könne,  er  doch  nicht 
glaube,  daß  sie  in  Rußland  geteilt  werde.  (Dann  sind  die 
Russen  eben  auch  nicht  besser.   W.) 

Die  Gefahr  eines  europäischen  Krieges  sei,  falls  Österreich  ser- 
bischen Boden  betrete  (das  wird  sicher  kommen.  V7.j,  in 
nächste  Nähe  gerückt.  Die  Folgen  eines  solchen  Krieges  zu 
V  i  e  r,  er  betonte  ausdrücklich  die  Zahl  vier,  und  meinte  damit 
Rußland,  Österreich-Ungarn,  Deutschland  und  Frankreich,  (e  r 
vergißt  Italien.  W.)  seien  vollkommen  unabsehbar.  Wie 
auch  immer  die  Sache  verlaufe,  eines  sei  sicher,  daß  nämlich  eins 
gänzliche  Erschöpfung  und  Verarmung  Platz  greife,  Industrie  und 
Handel  vernichtet  und  die  Kapitaikraft  zerstört  würde.  Revolu- 
tionäre Bewegungen  wie  im  Jahre  1848  infolge  der  darniederlie- 
genden  Erwerbstätigkeit  würden  die  Folge  sein.  (!   W.) 

Was  Sir  E.  Grey  am  meisten  beklagt,  neben  dem  Ton  der  Note, 
ist  die  kurze  Befristung,  die  den  Krieg  beinahe  unvermeidlich 
mache.  Er  sagte  mir,  er  würde  bereit  sein,  mit  uns  zusammen  im 
Sinne  einer  Fristverlängerung  in  Wien  vorstellig  zu  werden,  (n  u  f  z- 
los!  W.J  da  sich  dann  vielleicht  ein  Ausvjeg  (? ! !  W.)  finden 
lasse.     Er  bat  mich,  diesen  Vorschlag  Ew.  Exz.  zu  übermitteln. 

Ferner  regte  er  an,  daß  für  den  Fall  einer  gefährlichen  Span- 
nung die  vier  nicht  unmittelbar  beteiligten  Staaten  England, 
Deutschland,  Frankreich  und  Italien  zwischen  Rußland  und  Öster- 
reich-Ungarn die  Vermittlung  übernehmen  sollten.  (Ist  über- 
flüssig, da  Österreich  schon  Rußland  orientiert 
hat  und  Grey  ja  ni  c  h  l  s  anderes  vorschlagen  kann. 
Ich  tue  nicht  mit,  nur  wenn  Österreich  mich  aus- 
drücklich  darum    bittet,  was  nicht  wahrschein- 

110 


lieh.     In   Ehren-   und   vitalen   Fragen   konsultiert 
man  andere  nicht.   W.) 

Der  Minister  ist  sichtlich  bestrebt,  alles  zu  tun,  um  einer  euro- 
päischen Verwicklung  vorzubeugen  und  konnte  sein  lebhaftes  Be- 
dauern über  den  herausfordernden  Ton  dar  österreichischen  Note 
und  die   kurze   Befristung   nicht  verfiehlen. 

Vor.  anderer  Seite  wird  mir  im  Foreign  Office  gesagt,  daß  man 
Grund  zur  Annahme  habe,  daß  Österreich  die  Widerstandskraft 
Serbiens  sehr  unterschätze.  Es  werde  auf  jeden  Fall  ein  lang- 
wieriger erbitterter  Kampf  werden,  der  Österreich  ungemein 
schwächen  und  an  dem  es  sich  verbluten  werde.  (Unsinn!  Er 
kann  England  F  e  r  si  e  n  bringen  .  .  W.)  Auch  will 
man  wissen,  daß  die  Haliung  Rumäniens  m.ehr  als  ungewiß  sei  und 
daß  man  in  Bukarest  erklärt  hätte,  man  würde  gegen  jeden  sein, 
der  angriffe." 

An  diesem  Dokument  sind  drei  Punkte  besonders  bemerkenswert. 

Einmal  die  Gemütsruhe,  mit  der  Wilhelm  noch  am  26.  Juli  dem 
Krieg  entgegensieht.  Daß  Österreich  sich  an  ihm  verbluten  könne, 
erklärt  er  für  Unsinn.  Die  Befürchtung,  er  werde  allen  Betei- 
ligten ökonomischen  Ruin  und  die  Revolution  bringen,  erscheint 
ihm  so  läolierlich,  daß  er  sie  mit  einem  Ausrufungszeichen  abtut. 

Zum  zweiten  sieht  man,  daß  Wilhelm  am  26.  Juli,  an  dem  er 
den  Lichnov.'skyschen  Bericht  las,  noch  auf  Italiens  Eintritt  in 
den  Krieg,  natürlich  an  Deutschlands  Seite  rechnete. 

Endlich  aber  ist  zu  bemerken,  daß  Grey  den  Krie^,  den  er 
fürchtet,  nur  als  Krieg  von  vieren  bezeichnet,  von  England 
nicht  spricht.  Er  sucht  also  noch  neutral  zu  sein.  Und  er  muJ3te 
es,  wenn  er  als  Vermittler  auftreten  wollte. 

Zum  Gelingen  dieser  Vermittlung  gehörte  aber,  daß  Deiztschland 
ebenfalls  ehrlich  neutral  war.  Das  erschien  von  vornherein  zwei- 
felhaft, imd  im  Verlauf  der  Verhandlungen  verstärkte  sich  immer 
mehr  der  Verdacht,  daß  es  seine  neutrale  Haltung  nur  vorschützte, 
um  Österreich  unauffällig  helfen  zu  können,  das  sich  in  seiner 
Kriegspolitik   durch  nichts  beirren  ließ. 

England  mußte  mit  der  Möglichkeit  rechnen,  daß  Deutschland 
mit  Österreich  zum  Krieg  gegen  Rußland  und  Frankreich  drängte, 
bei  dem  es  im  Bunde  mit  Italien  ja  des  Sieges  sicher  sein  konnte. 
Wenn  diese  Absicht  bestand,  dann  war  zu  befürchten,  daß  Deutsch- 
land durch  die  Aussicht  auf  Englands  Neutralität  in  seinen  kriege- 
rischen Tendenzen  bestärkt  wurde.  Da  galt  es,  Deutschland  zu 
warnen,   daß   es  auf  diese  Neutralität  nicht  zählen  dürfe.     Diese 

111 


Warnung  konnte  noch  den  Frieden  retten,  der  aufs  äußerste  be- 
droht war.     Sie  erfolgte  am  29,  Juli. 

Der  29.  Juli. 

Die  Warnung  fand  einen  vorbereiteten  Boden.  Wir  haben  be- 
reits den  Umschwung  der  Stimmung  in  Berlin  konstatiert,  der  am 
28.  Juli  einsetzt,  wohl  hervorgerufen  durch  die  sozialistischen 
Demonstrationen  gegen  den  Krieg  in  Berlin,  dann  durch  Lichnow- 
skys  Vorstellungen  und  Italiens  Widcrhaarigkeit,  was  die  Mög- 
lichkeit aufdämmern  ließ,  daß  aus  dem  fröhlichen  Krieg  von  zwei 
zu  zwei  ein  sehr  ekliger  von  zwei  zu  vier  werden  konnte. 

Bethmann  versuchte  nun,  England  durch  Versprechungen  zu  ge- 
winnen, 

!n  einem  Gespräch  mit  Sir  Ed.  Goschen  bemerkt  er  am  29.  Juli: 

„Wir  können  dem  englischen  Kabinett  —  voraussichtlich  dessen 
neutraler  Haltung  —  versichern,  daß  wir  selbst  im  Falle  eines 
Krieges  keine  territoriale  Bereicherung  auf  Kosten  Frankreichs  in 
Europa  anstreben.  Wir  können  ihm  ferner  zusichern,  daß  wir  die 
Neutralität  und  Integrität  Hollands  solange  respektieren  werden, 
eis  diese  von  unseren  Gegnern  respektiert  wird." 

Gleichzeitig  präludiert  er  damals  schon  den  Einbruch  in 
Belgien: 

„Was  Belgien  betrifft,  so  wissen  wir  nicht,  zu  welchen  Gegen- 
operationen uns  die  Aktion  Frankreichs  in  einem  etwaigen  Kriege 
nötigen  könnte.  Aber  vorausgesetzt,  daß  Belgien  nicht  gegen  uns 
Partei  nimmt,  würden  wir  auch  für  diesen  Fall  uns  zu  einer  Ver- 
sicherung bereit  finden,  wonach  Belgiens  Integrität  nach  Beendi- 
gung des  Krieges  nicht  angetastet  werden  darf. 

Diese  eventuellen  Zusicherungen  erschienen  uns  als  geeignete 
Grundlagen  für  eine  weitere  Verständigung  mit  Ergland,  an  der 
unsere  Politik  bisher  dauernd  gearbeitet  hat.  Die  Zusicherung 
einer  neutralen  Haltung  Englands  im  gegenwärtigen  Konflikt  would 
enakle  me  to  a  general  neutrclity  agreement  in  the  future  of  which 
ü  would  be  premature  to  discuss  the  details  in  the  present  moment" 
(würde  mich  in  die  Lage  versetzen,  ein  allgemeines  Neutralitäts- 
abkommen in  der  Zukunft  abzuschließen,  dessen  Details  im  gegen- 
wärtigen Augenblick  zu  diskutieren  verfrüht  wäre)." 

Die  Stilisierung  des  englisch  gefaßten  Satzes  hat  Bethmann  große 
Schwierigkeiten   bereitet.     Zuerst   hatte   er   geschrieben: 

„und  die  IrMussichtnahme  eines  allgemeinen  Neutralitätsvertra- 
ges für  die  Zukunft  würden  wir  mit  einer  Flottenverständigang 
beantworten  können." 

112 


Dann  strich  er  den  Satz  und  schrieb: 

„würde  für  uns  die  Möglichkeit  schaffen,  einen  allgemeinen  Neu- 
fralifätsvertrag  für  die  ZvJzunft  in  Aussicht  zu  nehmen.  Ich  fzann 
mich  über  die  Details  und  die  Basis  eines  solchen  Vertrages  heute 
nicht  näher  äußern,  da  ja  England  dabei  sich  über  die  ganze  Frage 
äußern  würde." 

Aber  auch  'diese  Fassung  gefiel  ihm  nicht,  und  so  wählte  er  die 
englisch  niedergeschriebene. 

Dieses  Suchen  ist  sehr  charakteristisch.  Bethmann  Hollweg 
trachtete  unmittelbar  vor  dem  Kriege,  England  zu  veranlassen, 
daß  es  Frankreich  und  Belgien  der  deutschen  Übermacht  preis- 
gab. Eine  Aussicht,  das  zu  erreichen,  hätte  er  nur  dann  gehabt, 
wenn  er  England  die  beruhigendsten  Versicherungen  bezüglich  der 
deutschen  Weit-  und  Flottenpolitik  gab.  Auch  dann  war  die  Aus- 
sicht nicht  groß,  denn  den  Versprechungen  stand  die  Realität  der 
deutschen  Flotte  gegenüber.  Immerhin  wäre  dann  ein  Erlolg  denk- 
bar gewesen.  Doch  selbst  damals,  als  Deutschland  jener  furcht- 
baren Krisis  entgegenging,  konnte  Bethmann  Hollweg  sich  nicht 
entschließen,  eine  Flottenverständigung  als  Lockmittel  auch  nur 
zu  erwähnen,  er  wußte  nichts  als  eine  vage  Phrase  über  einen 
„allgemeinen  Neutralitätsvertrag  für  die  Zukunft"  vorzubringen, 
was  natürlich  nicht  <iie  mindeste  Garantie  daiür  bot,  daß  ein  sieg- 
reiches Deutschland  nicht  seine  dann  unwiderstehliche  Übermacht 
auch  gegen  England  wende. 

Der  Antrag  wurde  denn  auch  von  Grey  abgewiesen.  Sehr  ener- 
gisch, als  eine  schandbare  Zumutung,  einen  Handel  mit  Deutsch- 
land auf  Kosten  Frankreichs  abzuschließen,  dessen  Kolonien 
Deutschland  preisgegeben  würden.  Aber  noch  ehe  die  englische 
Regierung  von  dem  Vorschlag  Kunde  erhielt,  hatte  sie  bereits 
Deutschland  in  ernstlichster  Weise  gewarnt  und  es  wissen  lassen, 
daß  sie  wohl  als  Neutraler  vermitteln  v/ollte  zwischen  Österreich 
und  Serbien  sowie  Rußland,  daß  sie  aber  in  einem  Kriege  zwischen 
Deutschlajid  und  Frankreich  nicht  ihre  Neutralität  zusagen  könne. 

Diese  Mitteilung,  die  eigentlich  selbstverständlich  war,  traf 
Wilhelm  wie  ein  Donnerschlag.  Wut  und  Furcht  stritten  in  ihm 
und  ließen  ihn  völlig  den  Kopf  verlieren,  wie  wir  gleich  sehen 
werden. 

Am  29.  Juli  sandte  Lichnowsky  zwei  Depeschen  nach  Berlin. 
In  der  einen  teilte  er  unter  anderem  mit,  daß  Sir  E.  Grey  die 
Lage  überaus  ernst  beurteile, 

133 


„Den  unangenehmsten  Eindruck  hat  auf  ihn  ein  gestriges  Tele- 
gramm Sir  Maurice  de  Bunsens  fer.^l.  Botschafter  in  Wien,  KJ  gc- 
macht,  wonach  Graf  Berchtold  den  Vorschlag  Sasonows,  den  Gra- 
fen Szapary  (österreichischen  Botschafter  in  Petersburg,  K.J  zu 
ermächtigen,  rait  ihm  in  Besprechung  des  serbisch-österreichischen 
Streits  einzugehen,  unbedingt  abgelehnt  hat. 

Der  Minister  erörterte  dann  weiter  die  MöglioKkeiten  einer  Ver- 
mittlung und  Verständigung,  um  den  Weltkrieg  zu  vermeiden. 

Wichtiger  ist  die  nächste  Depesche: 

„Sir  E.  Grey  ließ  mich  soeben  nochmals  zu  sich  bitten.  Der 
Minister  war  vollkommen  ruhig,  aber  sehr  ernst  und  empfing  mich 
mit  den  Worten,  —  daß  die  Lage  sich  immer  mehr  zuspitze.  (D  a  s 
stärkste  und  unerhörteste  Stück  englischen 
Pharisäertums,  das  ich  je  gesehen!  Mit  solchen 
Hallunken  mache  ick  nie  ein  Flottenabkommen. 
W.)  Sasonow  habe  erklärt,  nach  der  Kriegserklärung  (an  Ser- 
bien. K.J  nicht  mehr  in  der  Lege  zu  sein,  mit  Österreich  direkt  zu 
verhandeln,  und  hier  bitten  lassen,  die  Vermittlung  wieder  aufzu- 
nehmen. (Trotz  Appells  des  Zaren  an  mich:  Damit 
bin  ich  außer  Kurs  gesetzt.  V/.)  Als  V oraucseizung  für 
diese  Vermittlung  betrachtet  die  russische  Regierung  die  vorläufige 
Einstellrwg  der  Feindssligkeiten. 

Sir  E.  Crcy  wiederholt  seir^e  bcreiLs  g^rricldcle  Anregung,  daß 
wir  uns  an  einer  solcher.  Vermittlung  zu  vieren,  die  wir  bereits 
grur.d sätzlich  angenommen  hätten,  beteiligen  sollten.  Ihm  per- 
sörjich  schien  eine  geeignete  Grundlage  für  eine  V  er  mit  Hang,  daß 
Österreich  etwa  nach  Bessfzung  von  Belgrad  oder  anderer  Plätze 
seine  Bedingungen  kundgäbe.  (G  u  t.  Haben  wir  seit  Tagen 
bereits  zu  erreichen  versucht.  Umsonst!  W.) 
Sollten  Ew.  Exzellenz  jedoch  die  Vermittlung  übernehmen,  wie 
ich  heute  früh  in  A.ussicht  stellen  konnte,  so  wäre  ihm  das 
nctiirlich  ebenso  recht.  Aber  eine  Vermittlung  schiene  ihm  nun- 
mehr dringend  geboten,  falls  es  nicht  zu  einer  europäischen  Kata- 
strophe kommen  sollte.  (Anstatt  der  Vermittlung  ein 
ernstes  Wort  in  Petersburg  und  Paris,  daß  Eng- 
land ihnen  nicht  hilft,  würde  die  Situation  sofort 
beruhigen.     W.) 

Sodann  sagte  mir  Sir  E.  Grey,  er  hätte  mir  eine  freundschaftliche 
und  private  Mitteilung  zu  machen,  er  wünsche  nämlich  nicht,  daß 
unsere  so  herzlichen  persönlichen  Beziehungen  und  un^er  intimer 
Gedankenaustausch  über  alle  polnischen  Fragen  mich  irreführten 

114  ^ 


und  er  möchts  sich  für  späicr  den  Vorwurf  (d  s  r  bleibt.  W.) 
der  Unaufrichtigkeit  ersparen.  (Aha!  Der  game  ine  Tau- 
scher!  W.)  ) 

Die  britische  Regierung  wünsche  nach  wie  vor  mit  uns  die  bis- 
herige Freundscficft  zu  pflegen  und  sie  liönne,  so  lange  der  Kon- 
P.ikt  sich  auf  Österreich  und  Rußland  beschränke,  abseits  stehen. 
(Das  heißt,  wir  sollen  Österreich  sitzen  lassen. 
Urgemein  und  mepliistophelisch!  Aber  echt 
e  n  gl  is  c  h.  W.)  Würden  wir  aber  und  Frankreich  hinein- 
gezogen, so  sei  die  Lage  sofort  eine  andere  und  die  britische  Re- 
gierung würde  unter  Umständen  sich  zu  schnellen  Entschlüssen 
gedrängt  sehen,  (sind  seil  on  gefaßt.  WJ  In  diesem  Falle 
würde  es  nicht  angehen,  lange  abseits  zu  stehen 
und  zu  warten,  (d.  h.  sie  werden  uns  anfallen.  W.) 
Wenn  der  Krieg  ausbricht,  wird  es  die  größte  Kclasirophe,  die  die 
Welt  jemals  gesehen.  Es  liege  ihm  fern,  irgendeine  Drohung  aus- 
sprechen zu  wollen,  er  habe  mich  nur  vor  Täuschungen  und  sich 
vor  dem  Vorwurf  der  Unaufrichtigkeit  bewahren  wollen  (gänz- 
lich miß  glückt.  Unaufrichtig  ist  er  alle  die se 
Jahre  trotzdem  gewesen  bis  in  seine  letzte  Rede. 
W.)  und  daher  die  Form  einer  privaten  Verständigung  geivählt. 

Sir  E.  Crey  fügte  noch  hinzu,  die  Regierung  (wir  auch!  W.) 
müsse  auch  mit  der  öffentlichen  (neu  kreierten!  V/.J  Meinung 
rechnen.  (W  e  nn  sie  will,  kann  sie  die  öffentliche 
Meinung  wenden  und  dirigieren,  da  ihr  die  Presse 
unbedingt  gehorcht.  W.)  Bisher  sei  dieselbe  im  all- 
gemeinen für  Österreich  günstig  gewesen,  da  man  die  Berechtigung 
einer  gewissen  Genugtuung  anerkenne,  jetzt  aber  fange  sie  an,  in- 
folge der  österreichischen  Hartnäckigkeit  vollkommen  umzuschla- 
gen.    (M it  Hilfe  der  Jingopresse!  W.j 

Meinem  italienischen  Kollegen,  der  mich  soeben  verläßt,  hat 
Sir  E.  Crey  gesagt,  er  glaube,  falls  die  Vermittlung  angenommen 
werde,  Österreich  jede  mögliche  Genugtuung  verschaffen  zu  kön- 
nen, ein  demütigendes  Zurückweichen  Österreichs  käme  gar  nicht 
in  Frage,  da  die  Serben  auf  alle  Fälle  gezüchtigt  und  unter  der 
Zustimmung  Rußlands  genötigt  werden  würden,  sich  den  öster- 
reichischen Wünschen  unterzuordnen.  Österreich  könne  also  auch 
olme  Krieg,  der  den  europäischen  Frieden  in  Frage  stelle,  Bürg- 
schaften für  die  Zukunft  erlangen.  Lichnowsky." 

115 

r 


Dazu  macht  Wilhelm  noch  folgende  ScMußbemcrkungr 

,, England  decouvriert  sich  im  Moment,  wo  es  dar  Ansicht  ist, 
daß  wir  im  Lcppja^en  eingestellt  sind  und  sozusagen  erledigt! 
Das  gemeine  Krämcrgesindcl  hat  uns  mit  Diners  und  Reden  zu 
täuschen  versucht.  Die  gröbste  Täuschung,  die  Worte  des  Königs 
für  mich  an  Heinrich:  „We  shall  remain  neutral  and  try  to  keep 
out  of  this  as  long  as  possible."  Grey  straft  den  König  Lügen  und 
diese  Worte  an  Lichnowsky  sind  der  Ausfluß  des  bösen  Gewissens, 
daß  er  eben  das  Gefühl  gehabt  hat,  uns  getäuscht  zu  haben.  Zu- 
dem ist  es  tatsächlich  eine  Drohung  mit  Bluff  verbunden,  um  uns 
von  Ö^^terreich  loszulösen  und  an  der  Mobilmachung  zu  hindern 
und  die  Schuld  am  Kriege  zuzuschieben.  Er  weiß  ganz  genau, 
daß  wenn  er  nur  ein  einziges,  ernstes  scharfes  abmahnendes  Wort 
in  Paris  und  Petersburg  spricht  und  sie  zur  Neutralität  ermahnt, 
beide  sofort  stille  bleiben  werden.  Aber  er  hütet  sich,  das  Wort 
auszusprechen,  sondern  droht  uns  statt  dessen!  Gemeiner  Hunds- 
fott! England  allein  trägt  die  Verantwortung  für  Krieg  und 
Frieden,  nicht  wir  mehr!  Das  muß  auch  öffentlich  klargestellt 
werden." 

Die  Maßlosigkeiten  im  Ausdruck  bezeugen  deutlich  die  Hoch- 
gradigkeit der  Enttäuschung,  die  Wilhelm  durch  Greys  V/ink  er- 
fuhr, den  Jeder  einigermaßen  nüchterne  und  geschulte  Politiker 
voraussehen  mußte,  den  auch  Prinz  Heinrich  gleich  erwartet  hatte, 
als  König  Georg  ihm  ankündigte,  er  werde  versuchen,  neutral  zu 
bleiben,  so  lange  es  gehe. 

Schon  in  dem  von  Eisner  veröffentlichten  Bericht  des  bayerischen 
Legationsrats  Schön  vom  18.  Juli  hatte  es  geheißen: 

„Ein  Krieg  zwischen  Zweibund  und  Dreibund  dürfte  England 
im  jetzigen  Zeitpunkt  schon  mit  Rücksicht  auf  die  Lage  in  Ir- 
land wenig  willkomm.en  sein.  Kommt  es  gleichwohl  dazu,  so  wür- 
den ivir  aber  nach  hiesiger  Auffassung  die  englischen  Vettern  auf 
der  Seite  unserer  Gegner  finden,  da  England  befürchtet,  daß 
Frankreich  im  Falle  einer  Niederlage  auf  die  Stufe  einer  Macht 
zweiten  Ranges  herabsinken  und  damit  die  balance  of  power  (das 
europäische  Gleichgewicht)  gestört  würde,  deren  Erhaltung  Eng- 
land im^  eigenen  Interesse  für  geboten  erachtet." 

Das  hatte  Wilhelm  in  seinem  politischen  Kallcül  völlig  vergessen, 
und  er  hatte  das  Trachten  nach  möglichster  Neutralität  im  Stadium 
der  Vermittlung,  das  Grey  in  Aussicht  gestellt,  für  ein  bindendes 
Versprechen  der  Neutralität  unter  allen  Umständen,  auch  für  den 
Fall  eines  Krieges  gegen  Frankreich  gehalten,  ja  überdies  die  Neu- 

116 


tralität  als  Verpflichtung  Englands  aufgefaßt,  die  deutsche  Politik 
blindlings  in  Petersburg  und  Paris  zu  unterstützen. 

Eine  sinnlosere  Politik  ist  kaum  denkbar, 

Tags  darauf  äußert  sich  Wilhelm  noch  auslührllchcr  über  die 
englische  Warnung,  im  Anschluß  an  einen  Bericht  des  Herrn  von 
Pourtales   in  Petersburg  über  eine  Unterredung  mit   Sasonow. 

Der  russische  Minister  suchte  «den  deutschen  Botschafter  zu 
überreden,  bei  der  ^deutschen  Regierung  die  ersehnte  ,.Teilnah:ne 
an  der  Konversation  zu  vieren  zu  beiünvorien,  um  Mittel  aus- 
findig zu  machen,  Österreich  auf  freundschaftlichem  V/cge  (i  s  t 
die  russische  Mobilmachung  ein  freundschaft- 
licher Weg?!  W.J  zu  bewegen,  die  die  Souveränität  Serbiens 
antastenden  Forderungen  fallen  zu  lassen." 

Dieser  vernünftige  Vorschlag,  der  die  Wahrung  des  Friedens 
wahrscheinlich  machte  und  dem  „im  Prinzip"  das  deutsche  Aus- 
wärtige Amt  England  gegenüber  zugestimmt  hatte,  begegnet  dem 
Widerstand  des  deutschen  Gesandten  in  Petersburg,  der  ihn  mit 
der  geistreichen  Bemerkung  abtut: 

„Rußland  verlange  von  uns  Österreich  gegenüber  dasjenige  zu 
tun,  was  Österreich  Serbien  gegenüber  vorgeworfen  werde." 

Zu  dieser  lächerlichen  Auffassung  bemerkt  Wilhelm  promptJ 
„Sehr  gut." 

Herr  Pourtales  redet  dann  Sasonow  zu,  doch  Österreich  in  Serbisn 
gewähren  zu  lassen: 

„Beim  Friedensschluß  werde  im.mer  noch  Zeit  sein,  auf 
Schonung  serbischer  Souveränität  zurückzukommen."  (Gut!  W.) 

Nachdem  der  deutsche  Botschafter  unter  dem  lebhaften  Beifall 
seines  kaiserlichen  Herrn  in  dieser  famosen  Weise  an  der  Ver^ 
ständigung  zwischen  Rußland  und  Österreich  gearbeitet  hat,  kommt 
er  auf  die  russische  Teilmobilisierung  zu  sprechen,  die  der  öster- 
reichischen folgte,  und  spricht  .^keine  Drohung  aus,  sondern  eine 
freundschaftliche  Warnung": 

„Sasonow  erklärte,  daß  Rückgängigmachung  des  Mobilisierungs- 
befehls nicht  mehr  möglich  und  daß  österreichische  Mobilmachung 
daran  schuld  sei." 

Daran  fügt  Wilhelm  eine  lange  Abhandlung: 

„Wenn  Mobilmachung  nicht  mehr  rück  gängig  zu  machpn  ist  — 
was  nicht  wahr  ist  —  warum  hat  dann  der  Zcr  meine  Ver- 

117 


miftiung  drei  Ta^s  nachher  angerufen  ohne  die  Erlassnng  des 
M ohilmachungskefekls  zu  erwähnen?  Das  zeigt  doch  klar,  daß  die 
M ohilmachung  ihm  selbst  übereilt  erschienen  ist  und  er  hinterher 
zur  Beruhigung  seines  erwachten  Gewissens  pro  forma  diesen 
Schritt  bei  uns  tat,  obwohl  er  wußte,  daß  es  zu  nichts  mehr  nütze 
sei,  da  er  sich  nicht  stark  genug  fühlt,  die  Mobilmachung  zu  stop- 
pen. Leichtsinn  und  Schwäche  sollen  die  Welt  in  den  furchtbarsten 
Krieg  stürzen,  der  auf  den  Untergang  Deutschlands  schließlich 
abzielt.  Denn  das  läßt  jetzt  für  mich  keinen  Zweifel  mehr  zu: 
England,  Rußland  und  Frankreich  haben  sich  verabredet  — 
unter  Zugrundelegung  des  casus  foederis  für  uns  Österreich  gegen- 
über —  den  österreichisch-serbischen  Konflikt  zum  V  or  w  and 
nehmend,  gegen  uns  den  Vernichtungskrieg  zu  führen. 
Daher  Greys  zynische  Bemerkung  zu  Lichnowsky:  solange  der 
Krieg  auf  Rußland  und  Österreich  beschränkt  bleibe,  würde 
England  still  siizsn,  erst  wenn  wir  uns  und  Frankreich  hinein- 
mischen, würde  er  gezwungen  sein,  aktiv  gegen  uns  zu  wer- 
den, d.  h.  entweder  wir  sollen  unseren  Bundesgenossen  schnöde 
verraten  und  Rußland  preisgeben  —  damit  den  Dreibund 
sprengen  oder  für  unsere  Bundes  treue  von  der  Tripelentente 
gemeinsam  überfallen  und  bestraft  werden,  wobei  ihrem  Neid  end- 
lich Befriedigung  wird,  uns  gemeinsam  total  zu  ruinieren.  Das  ist 
in  nuce  die  wahre,  neckte  Situation,  die  langsam  und  sicher  durch 
Edward  VII.  eingefädelt,  fortgeführt,  durch  abgeleugnete  Be- 
sprechungen Englands  mit  Paris  und  Petersburg  systematisch  aus- 
gebaut, schließlich  durch  Georg  V.  zum  Abschluß  gebracht  und 
ins  Werk  gesetzt  wird.  Dabei  wird  uns  die  Dummheit  und  Un- 
geschicklichkeit unseres  Verbündeten  zum  Fallstrick  gemacht. 
AJso  die  berühmte  „Einkreisung"  Deutschlands  ist  nun  doch  end- 
lich zur  vollsten  Tafsache  geworden,  trotz  aller  Versuche  unserer 
Politiker  und  Diplomaten  sie  zu  hindern.  Das  Netz  ist  uns  plötz- 
lich über  den  Kopf  gezogen  und  hohnlächelnd  hat  England  den 
glänzendsten  Erfolg  seiner  beharrlich  durchgeführten  pure  anti- 
deutschen Weltpolitik,  gegen  die  wir  uns  machtlos 
erwiesen  haben,  indem  es  uns  isoliert  im  Netz  zappelnd  aus 
unserer  Bundestreue  zu  Österreich  den  Strick  zu  unserer  politi- 
schen und  ökonomischen  Vernichtung  dreht.  Eine  großartige 
Leistung,  die  Bewunderung  verdient,  selbst  bei  dem,  der  durch 
sie  zugrunde  geht!  Edward  VII.  ist  nach  seinem  Tode  noch 
stärker  als  ich,  der  ich  lebe!  Und  da  hat  es  Leute  gegeben,  die 
geglc.ubt    haben,    man    könnte    England   gewinnen    oder    beruhigen 


durch  diese  oder  jene  kleine  Maßregeln!!!  Unablässig,  unnach' 
giebig  hat  es  sein  Ziel  verfolgt  mit  Noten,  Feiertagsvorschlägen, 
scares,  Haldcne  usw.  bis  es  soweit  war.  Und  wir  sind  ins  Gern 
gelaufen  und  haben  sogar  das  Einertempo  im  Schiffbau  eingeführt, 
in  rührender  Hoffnung,  England  damit  zu  berufiigenü!  Alle  War- 
nungen, alle  Bitten  meinerseits  sind  nutzlos  verhallt.  Jetzt  kommt 
der  englische  sogenannte  Dank  dafür!  Aus  dem  Dilemma  der 
Bundestreue  gegen  den  ehrwürdigen  alten  Kaiser  wird  uns  die 
Situation  geschaffen,  die  England  den  erwünscfiten  Vorwand  gibt, 
uns  zu  vernichten,  mit  dem  heuchlerischen  Schein  des  Rechts,  näm- 
lich Frankreich  zu  helfen  wegen  Aufrechterhaliung  der  berüch- 
tigten balance  of  power  in  Europa,  d.  h.  Ausspielung  aller  euro- 
päiscfien  Staaten  zu  Englands  Gunsten  gegen  uns!  Jetzt  muß 
dieses  ganze  Getriebe  schonungslos  aufgedeckt  und  ilim  öffentlich 
die  Maske  christlicfxer  Friedfertigkeit  in  der  Öffentlichkeit  schroff 
abgerissen  werden  und  die  pharisäische  Friedensheuchelei  an  den 
Pranger  gestellt  werden!!  Und  unsere  Konsuln  in  Türkei  und 
Indien,  Agenten  usw.  müssen  die  ganze  mohammedanisclie  Welt 
gegen  dieses  verhaßte,  verlogene,  gewissenlose  Krämervolk  zum 
ivilden  Aufstand  entflammen.  Denn  wenn  wir  uns  verbluten  sollen, 
soll  England  wenigstens  Indien  verlieren." 

Diese  Philippika  kennzeichnet  Wilhelm,  Nachdem  er  durch 
seine  Verschwörung  mit  Österreich  Deutschland  in  eine  so  furcht- 
bare Lage  gebracht,  denkt  er  nicht  daran,  wie  er  es  wieder  aus  ihr 
herausbringt,  sondern  nur  an  den  Theatereffekt,  wie  er  das 
ganze  Getriebe  seiner  Gegner  schonungslos  aufdeckt,  ihm  die  Maske 
christlicher  Friedfertigkeit  schroff  abreißt  und  die  pharisäische 
Friedensheuchelei  an  den  Pranger  stellt. 

Sein  eigenes  ,, Getriebe",  das  die  Aufdeckung  so  gar  nicht  ver- 
trägt, mit  entsprechender  „christlicher  Friedfertigkeit"  und  „phari- 
säischer  Friedensheuchelei"  hat  er  vollständig  vergessen. 

Dabei  aber  scheint  ihm  der  Krieg  bereits  eine  ausgemachte 
Sache.  Die  einzige  Tat,  die  ihm  nach  seinen  pomphaften  Redens- 
arten einfällt,  ist  nicht  ein  Versuch,  den  Frieden  zu  retten,  sondern 
nur  ein  Aufruf  zum  Aufstand  der  ganzen  mohammedanischen  Well. 
Er  findet  sich  bereits  ab  mit  dem  Gedanken,  daß  Deutschland  im 
kommenden  Kriege  verblutet,  wenn  nur  England  auch  eisen  tüch- 
tigen Knacks  davonträgt.  Im  Grunde  bezeugt  aber  dieses  ganze 
wirre  Gerede  nur  völlige  Kopflosigkeit.  Italiens  Absage  und 
Englands  Warnung  schlagen  den  Kaiser  vor  den  Kopf  und  rauben 
ihm  den  Rest  von  Besinnung. 

119 


15.  Letzte  Versuche  zur  Rettung  des  Friedens. 

Anders  ist  die  Wirkung  auf  den  Zivilkanzlcr.  Er  versucht  zu 
retLen,  was  zu  retten  ist.  Dazu  wird  es  aber  dringend  notwendig, 
dem  Bundesgenossen  gegenüber  auch  einmal  etwas  anderes  zu  ent- 
\vickeln  als  .Nibelungentreue',  Dessen  Dummheit  und  Halsstarrig- 
keit haben  bewirkt,  nicht  nur,  daß  der  europäische  Krieg  über 
Nacht  hereinzubrechen  drohte,  damit  hätte  man  sich  abgefunden, 
mit  seiner  Möglichkeit  rechnete  man  von  vornherein.  Aber  diese 
Dummheit  und  Halsstarrigkeit  drohte  zu  bewirken,  daß  die  Zen- 
tralmächte in  den  Krieg  hineingingen  unter  den  ungünstigsten  Um- 
ständen, ohne  Italien,  vielleicht  gegen  Italien,  und  gegen  England, 
und  vor  dem  eigenen  Volke  beladen  mit  dem  furchtbaren  und  läh- 
menden Vorwurf,  leichtfertig  diese  entsetzliche  Katastrophe  her- 
beigeführt zu  haben. 

Der  stärkste  Druck  mußte  auf  Wien  ausgeübt  v/erden,  um  es 
endlich  zu  einer  vernünftigeren  Politik  zu  veranlassen. 

Aber  mit  dieser  Tendenz  kreuzte  sich  eine  andere  militaristische, 
die,  nachdem  die  Mobilisii^rungen  einmal  eingesetzt  hatten,  den 
Krieg  für  unvermeidlich  hielt  und  gerade,  weil  die  Zahl  der  Feinde 
so  groß  wurde,  zu  raschestem  Losschlagen  drängte  als  der  ein- 
zigen Möglichkeit,  sich  zu  behaupten,  indem  man  durch  einige 
überraschende  entscheidende  Schläge  das  militärische  Übergewicht 
gewann,  das  schwankende  Italien  vielleicht  mit  sich  riß  und  Eng- 
land einschüchterte. 

Zwei  entgegengesetzte  Tendenzen  kämpften  so  um  die  Ent- 
scheidung, die  von  dem  haltlosen  Kaiser  abhing.  Daher  die  wider- 
sprechenden Erscheinungen  unmittelbar  vor  dem  Ausbruch  des 
Krieges:  Auf  der  einen  Seite  das  Drängen  auf  Österreich  im 
Sinne  des  Friedens  und  gleichzeitig  die  Überstürzung  der  Mobili- 
sierung und   der  Kriegserklärungen, 

Man  hat  in  diesen  Widersprüchen  eine  berechnete,  abgefeimte 
PerSdic  gesehen.  Ich  sehe  darin  nur  ein  Ergebnis  der  Verwirrung, 
die  seit  Englands  Warnung  in  den  leitenden  Kreisen  Deutschlands 
eintrat,  und  die  durch  Österreichs  Haltung  noch  vermehrt  wurde. 
Die  Einwirkung  dieses  kostbaren  Bundesgenossen  darf  nicht  ver- 
gessen werden.     Einige  Illustrationen  seien  hier  gegeben. 

Je  näher  der  Krieg  drohte,  um  so  wichtiger  wurde  es,  Italien 
zu  gewinnen.  Noch  am  29.  Juli  schrieb  der  Reichskanzler  an 
Jagow: 

1:0 


„Ist  nicht  doch  noch  ein  Telegramm  nach  Wien  nolwsndi^,  in 
dem  wir  scharf  erklären,  daß  wir  die  Art,  wie  Wien  die  Korn- 
pensationsfrage  mit  Rom  behandelt,  für  absolut  ungenügend  an- 
sehen und  die  Verantwortung,  die  sich  daraus  für  die  Haltung 
Italiens  in  einem  etwaigen  Kriege  ergibt,  voll  Wien  zuschieben? 
Wenn  an  dem  Vorabend  einer  möglichen  europäischen  Konflagra- 
tion Wien  in  dieser  Weise  den  Dreibund  zu  sprengen  droht,  gerät 
das  gesamte  Bündnis  ins  Wanken.  Die  Erklärung  Wiens,  daß  es 
sich  im  Falle  dauernder  Besetzung  serbischer  Gebietsteile  mit 
Italien  benehmen  werde,  steht  überdies  im  Gegensatz  zu  seinen 
in  Petersburg  bezüglich  seines  territorialen  Desinteressements  ab- 
gegebenen Versicherungen.  Die  in  Rom  abgegebenen  Erklärungen 
werden  mit  Sicherheit  in  Petersburg  bekannt.  Eine  Politik  mit 
doppeltem  Boden  können  wir  als  Bundesgenossen  nicht  unter- 
stützen. 

Ich  halte  das  für  notwendig.  Sonst  können  wir  in  Petersburg 
nicht  weiter  vermitteln  und  geraten  gänzlich  ins  Schlepptau  Wiens. 
Das  will  ich  nicht,  auch  auf  die  Gelalu-,  des  Flaumachens  be- 
schuldigt zu  werden. 

Falls  keine  Bedenken  Ihrerseits,  bitte  ich  um  schleunige  Vor- 
legung eines  entsprechenden  Telegramms." 

Genützt  haben  die  dringenden  Mahnuisgen  dieser  Art  bei  den  ob- 
stinaten Wiener  Diplomaten  nichts.  Berchtold  beharrte  darauf,  aus- 
weichende Antworten  zu  geben,  und  er  wurde  noch  übertrumpft 
durch  den  fanatischen  Itaiienerfeind  Herrn  von  Merey,  den  die 
österreichische  Slaatsweishcit  zum  Botschafter  in  Rom  gemacht 
hatte.  Am  29,  Juli  schrieb  er  nach  Wien,  je  entgegenkommender 
Österreich  sei,  desto  anmaßender  und  begehrlicher  würde  Itaiien 
werden,  und  am  31,  Juli  beschwerte  er  sich  darüber,  daß  entgegen 
seinen  Ratschlägen  Graf  Berchtold  unter  dem  Druck  der  deutschen 
Regierung  Itaiien  in  der  Kompensaticnsfrage  bereits  zu  Dreivier- 
teln entgegengekommen  sei,  was  natürlich  übertrieben  war,  denn 
mehr  als  unbestimmte  Andeutungen  konnten  Berchtold  nicht  ent- 
lockt v/erden,  Vielmelxr  mußte  Jagow  sich  über  Merey  be- 
schweren, daß  er  die  ihm  zugegangenen  Weisungen  in  der  Kom- 
pensationsfrage  nicht  ausführe, 

Graf  Berchtold  selbst  berichtete  im  Ministerrat  vom  31.  Juli, 
er   habe 

„den  k.  u.  k.  Botschafter  in  Rom  bisher  beauftragt,  mit  vagen 
FliTCisen  auf  die  Kompensationsforderungen  zu  antworten  und 
dabei  immer  wieder  nachdrücklich  zu  betonen,  daß  dem   Wiener 

121 


Kabinett  der  Gedanke  an  territoriale  Erwerbungen  iern  liege. 
Wenn  die  Monarchie  aber  dazu  gezwungen  würde,  eine  nicht  nur 
vorübergehende  Okkupation  vorzunehmen,  so  wäre  noch  immer 
Zeit,  der  Kompensaiionsfrage  näherzutreten."  (Gooß,  S.  305, J 

Bei  dieser  hinhaltenden,  geradezu  äffenden  Politik  ging  natür- 
lich Italien  den  Mittelmächten  verloren. 

Viel  wichtiger,  als  Bundesgenossen  zu  werben,  war  es  indes, 
aus  der  Kriegsgefahr  selbst  herauszukommen. 

Angesichts  der  Mobilisierungen  war  diese  Gefahr  so  groß  ge- 
worden, daß  der  rascheste  Weg,  ihr  zu  entrinnen,  am  ehesten  ge- 
wählt werden  mußte.  Dazu  konnte  sich  der  Reichskanzler  nicht 
entschließen,  wohl  Angesichts  der  Abneigung  seines  Herrn  gegen 
jede  Vermittlung  zu  vieren  und  gegen  das  Haager  Schiedsgericht. 

Noch  am  29,  Juli,  abends,  kam  jenes  bekannte  Telegramm  des 
Zaren  an,  das  später  so  viel  Aufsehen  erregte,  da  in  dem  deutschen 
Weißbuch  bei  Kriegsbeginn,  das  alle  damaligen  Zarentelegramme 
brachte,  gerade  dieses  „vergessen"  wurde.     Es  lautet: 

„Dank  für  Dein  versöhnliches  und  heundliches  Telegramm.  Da- 
gegen war  die  offizielle  Mitteilung,  die  heute  von  Deinem  Bot- 
schafter meinem  Minister  gemacht  wurde,  in  einem  ganz  anderen 
Ton  gehalten.  Ich  bitte  Dich,  diesen  Unterschied  zu  erklären. 
(Nanu!  W.J  Es  wäre  gut,  das  österreichisch-serbische  Problem 
der  Haager  Konferenz  zu  übermitteln.  (!  W.)  Ich  vertraue  auf 
Deine  Weisheit  und  Freundschaft.  Dein  Dich  liebender  Nicky. 
(Danke  gleichfalls.     W.) 

Darauf  telegraphierte  umgehend  Bethmann  Hollweg  an  den  Bot- 
schafter in  Petersburg; 

„Bitte  Ew.  Exz.  durch  sofortige  Aussprache  mit  Herrn  Sasonow 
angeblichen  Widerspruch  zvAschen  Ihrer  Sprache  und  dem  Tele- 
gramm S.  M.  aufzuklären.  Der  Gedanke  der  Haager 
Konferenz  wird  natürlich  in  diesem  Falle  aus- 
geschlossen   sei  n." 

Angesichts  dieser  Abneigung  gegen  den  direkten  Weg  zum  Frie- 
den blieb  nur  der  indirekte  übrig,  der  des  DrucJiJS  auf  das  schwer- 
fällige bornierte  Österreich,  in  dem  der  Krieg  bereits  alle  milita- 
ristischen  Instinkte  entfesselt  hatte. 

In  der  Nacht  vom  29,  zum  30,  Juli  war  man  nicht  mehr  so 
ängstlich  bestrebt,  wie  noch  am  28,,  jeden  Eindruck  zu  ver- 
meiden, „als  wünschten  wir  Österreich  zurückzuhalten".  (Vergi. 
S,  95,) 

122 


Am  30.  Juli,  3  Uhr  morgens,  wurde  dem  Botschafter  in  Wien 
vom  Reichskanzler  das  Telegramm  Lichnowskys  mit  Greys 
V7arnung  mitgeteilt   und   daran   folgende   Ausführungen   geknüpft: 

„Wir  stehen  sojnii,  falls  Österreich  jede  Vermittlung  ablehnt, 
vor  einer  Konflagration,  hei  der  England  gegen  uns,  Italien  und 
Rumänien  nach  allen  Anzeichen  nicht  mit  uns  gehen  würden  und 
wir  zwei  gegen  vier  GrofSmächte  ständen.  Deutschland  fiele  durch 
Gegnerschaft  Englands  das  Hauptgewicht  des  Kampfes  zu.  Öster- 
reichs politisches  Prestige,  die  Waffenehre  seiner  Armeen,  sowie 
seine  berechtigten  Ansprüche  Serbien  gegenüber  könnten  durch 
Besetzung  Belgrads  oder  anderer  Plätze  hinreichend  gewahrt 
werden.  Es  würde  durch  Demütigung  Serbiens  seine  Stellung  im 
Balfian  wie  Rußland  gegenüber  stark  machen.  Unter  diesen  Um- 
ständen müssen  wir  der  Erwägung  des  Wiener  Kabi:t-?tts  dringend 
und  nachdrücklich  anheimstellen,  die  Vermittlung  zu  den  ange- 
gebenen ehrenvollen  Bedingungen  anzunehmen.  Die  Verantwortung 
für  die  sonst  eintretenden  Folgen  wäre  für  Österreich  und  uns  eine 
ungemein  schwere." 

Noch  energischer  klingt  in  seinem  Schlüsse  das  Telegramm,  das 
der  Reichskanzler  dem  Botschafter  in  Wien  zur  selben  Stunde, 
30,  Juli  2,55  morgens,  unter  Mitteilung  eines  Berichts  aus  Peters- 
burg sandte: 

„Wir  können  Österreich-Ungarn  nicht  zumuten,  mit  Serbien  zu 
verhandeln,  mit  dern  es  im  Kriegszustand  begriffen  ist.  Die  Ver- 
weigerung jedes  Meinungsaustcuschs  mit  Petersburg  aber  würde 
schwerer  Fehler  sein,  da  er  kriegerisches  Eingreifen 
Auslands  geradezu  provoziert,  das  zu  vermeiden 
Österreich-Ungarn   in   erster   Linie  interessiert  ist." 

Das  Telegramm   fuhr   fort: 

„Wir  sind  zwar  bereit,  unsere  Bündnispflicht  zu  erfüllen, 
müssen  es  aber  ablehnen,  uns  v  on  Wien  leicht- 
fertig und  ohne  Beachtung  unserer  Ratschläge 
in  einen  Weltbrand  hineinziehen  zu  lassen.  Auch  in  italienischer 
Frage  scheint  Wien  unsere  Ratschläge  zu  mißachten. 

Bitte  sich  gegen  Graf  Berchtold  sofort  mit  allem  Nach- 
druck  und  großem   Ernst  auszusprechen." 

Österreich  setzte  dem  deutschen  Drängen  passive  Resistenz 
entgegen.  Das  brachte  Bethmann  Hollweg  nachgcrada,  zur  Ver- 
zweiflung, Am  30.  Juli  um  9  Uhr  abends  sandte  er  an  Tschirsch- 
ky  in  Wien  ein  Telegramm,  Nr.  200. 

123 


„Wenn  Wien,  wie  nach  dem  telephonischen  Gespräch  Eiv.  Exz. 
mit  Herrn  v.  Stumm  anzunehmen,  jedes  Einlenken  in 
Sonderheit  den  letzten  Grey  sehen  Vorschlag 
ablehnt,  ist  es  kaum  mehr  möglich,  Rußland  die  Schuld  an 
der  ausbrechenden  europäischen  Konflagralion  zuzuschieben^  S.  M. 
hat  auf  Bitten  des  Zaren  die  Intervention  in  Wien  übernommen, 
weil  er  sie  nicht  ablehnen  konnte,  ohne  den 
unwiderleglichen  Verdacht  zu  erzeugen,  daß  wir 
den  Krieg  wollen.  Das  Gelingen  dieser  Intervention  ist 
allerdings  erschwert  dadurch,  daß  Rußland  gegen  Österreich 
mobilisiert  hat.  Dies  heben  wir  heute  England  mit  dem  Hinzu- 
fügen mitgeteilt,  daß  wir  eine  Aufhaltung  der  russischen  und 
französischen  Kriegsniaßr cgeln  in  Petersburg  und  Paris  bereits  in 
freundlicher  Form  angeregt  haben,  einen  neuen  Schritt  in  dieser 
Richtung  also  nur  durch  ein  Ultimatum  tun  könnten,  das  den 
Krieg  bedeuten  würde.  Wir  haben  deshalb  Sir  Eduard  Grey 
nahegelegt,  seinerseits  nachdrücklich  in  diesem  Sinne  in  Paris  und 
Petersburg  zu  wirken  und  erhalten  soeben  seine  entsprechende 
Zusicherung  durch  Lichnowsky.  Glücken  England  diese  Be- 
strebungen, während  V/ien  alles  ablehnt,  sa  dokumentiert  Wien, 
daß  es  unbedingt  einen  Krieg  will,  in  den  wir  hineingezogen  sind, 
xcährend  Rußland  schuldfrei  bleibt.  Das  ergibt  für  uns  der 
eigenen  Nation  gegenüber  eine  ganz  unhaltbare  Situation.  Wir 
können  deshalb  nur  dringend  empfehlen,  daß  Österreich  den  Grey- 
schen  Vorscfilag  annimmt,  der  seine  Position  in  jeder  Beziehung 
wahrt. 

Ew.  Exz.  wollen  sich  sofort  nachdrücklichst  in  diesem  Sinne 
Graf  Berchtold,  eventuell  auch  Graf  Tisza  gegenüber  äußern." 

iMan  kann  auch  bei  diesem  Telegramm  in  Zweifel  sein,  ob  es 
Beilimann  Hollweg  mehr-  dcirum  zu  tun  war,  den  Frieden  zu 
erhalten  oder  die  Verantwortung  für  den  Krieg  Rußland  zuzu- 
schieben.  Aber  der  Druck  auf  Wien  war  da,  und  er  sollte 
schließlich  doch   im   Sinne  des  Friedens  wirken. 

Nun  stieß  dieser  Druck  auf  den  ebenso  hartnäckigen  wie  tücki- 
schen Widerstand  Österreichs,  das  sich  durchaus  nicht  scheute, 
den  deutschen  Bundesgenossen  ebenso  zu  betrügen  wie  die  übrige 
Welt,  indem  es  dessen  Drängen  zum  Schein  nachgab,  in  Wirk- 
lichkeit  aber  nichts  Ernsthaftes  tat. 

In  dem  Wiener  Ministerrat  vom  31,  Juli  berichtete  Graf 
Berchtold: 

124 


..Seine  Majestät  haben  den  Anlrap^  ^eni'hmigf,  daß  das  Wisner 
Kabinett  zwar  sorgsam  vermeide,  den  englischen  Antrag, 
in  meritorischer  Hinsicht  anzunehmen,  daS  es  aber 
in  der  Form  seiner  Antwort  Entgegenkommen  zeige  und  dem 
Wunsche  des  deutschen  Reichskanzlers,  die  (englische)  Regierung 
nicht  vor  den  Kopf  zu  stoßen,  auf  diese  Weise  entgegenkomme." 

Der  Herr   Graf  fügte  hinzu: 

„Wenn  die  Aktion  jetzt  nur  mit  einem  Presiigcgaivinn  endigte, 
so  wäre  sie  nach  der  Ansicht  des  Vorsitzenden  (Berchtoldj  ganz 
umsohst  unternommen  worden.  Die  Monarchie  hätte  von 
einer  einfachen  Besetzung  Belgrads  gar  nichts, 
selbst   wenn    Rußland    hierzu    seine    Einwilligung    geben    würde." 

Berchtold  teilte  seine  Absicht  mit,  auf  den  englischen  Vorschlaj;» 
in  sehr  verbindlicher  Form  zu  antworten,  dabei  aber  Bedingungen 
zu  stellen,  deren  Ablehnimg  er  voraussehen  mußte,  und  zu  ver- 
meiden, auf  den  „meritorischen  Teil",  das  heißt,  aus  dem  Öster- 
reich-parlamentarischen Kauderwelsch  ins  deutsche  übersetzt,  auf 
die  Sache  selbst  einzugehen. 

Tisza  schloß  sich  Berchtold  vollständig  an.  Er  war  ebenfalls 
der  Ansicht, 

„daß  es  verhängnisvoll  wäre,  auf  das  Meritnm,  (das  heißt,  den 
Inhalt)  des  englischen  Vorschlags  einzugehen.  Die  Kriegs- 
operationen gegen  Serbien  müßten  jedenfalls  ihren  Fortgang 
nehmen.  Es  frage  sich  aber,  ob  es  notwendig  sei,  schon  jetzt 
die  neuen  Forderungen  an  Serbien  den  Mächten  überhaupt  be- 
kanntzugeben, und  er  würde  vorschlagen,  die  englische  Anregung 
dahin  zu  beantworten,  daß  die  Monarchie  prinzipiell  bereit  wäre, 
derselben  näher  zu  treten,  jedoch  nur  unter  der  Bedingung,  daß 
die  Operationen  gegen  Serbien  fortgesetzt  würden  und  die  russi- 
sche Mobilisierung  eingestellt  werde." 

Diese  tatsächliche  Verhöhnung  des  Friedensvorschiags  fand  die 
einstimmige  Zustimmung  des  sauberen  Ministerrats. 

Daß  die  deutsche  Regierung  auch  für  diese  perfide  Politik  Öster- 
reichs, jede  Friedensvermittlung  scheitern  zu  lassen,  verantwort- 
lich gemacht  wurde,  darf  nicht  wundernehmen,  angesichts  ihres 
engen  Zusammenarbeitens  mit  dem  Bundesgenossen  und  ihrer  an- 
fänglichen Unterstützung  seiner  Friedenssabotierung,  Aber  an 
dieser  Schlußsünde,  die  den  Krieg  unvermeidlich  machte,  ist  sie 
unschuldig.  Ihr  Schuldkonto  ist  auch  ohnedem  schwer  genug 
belastet. 

125 


Nach  dem  29.  suchte  sie  den  Frieden  zu  retten.  Das  eine 
Hindernis,  t'^s  sie  dabei  fand,  war,  wie  wir  gesehen,  die  öster- 
reichische Regierung. 

Aber  sie  fand  noch  ein  anderes,  mächtigeres  und  ihr  näher 
liegendes. 

Der  letzte  Auftrag  des  Reichskanzlers  an  Tschirschky,  die  Auf- 
forderung, Österreich  zur  Nachgiebigkeit  zu  drängen,  von  dem  wir 
hier  gesprochen,  kam  nicht  zur  Ausführung.  Am  30.  Juli,  9  Uhr 
abends  ging  die  Depesche  ab,  um  11  Uhr  20  Min.  eilte  ihr  bereits 
eine  zweite  nach,   die  sagte: 

„Bitte  Instruktion   Nr.   200  vorläufig   nicht   auszuführen." 

Was  war  inzwischen  geschehen? 

Die  Antwort  gibt  folgendes  Telegramm  des  Reichskanzlers  an 
den  Botschafter  in  "Wien; 

„Ich  habe  Ausführung  der  Instruktion  Nr.  200  sisfiert,  weil  mir 
General  Stab  soeben  mitteilt,  daß  militärische  Vorbereitungen 
unserer  Nachbarn  namentlich  im  Osten  zu  schleuniger 
Entscheidung  drängen,  wenn  wir  uns  nicht  Überraschungen 
aussetzen  wollen.  Generalstab  wünscht  dringend  über  dortige 
Entschließungen  namentlich  über  diejenigen  militärischer  Art  in 
definitiver  Weise  n:  "glichst  unverzüglich  unterrichtet  zu  werden, 
Bitte  dringend  vorstellig  zu  werden,  daß  wir  Antwort  morgen 
erhalten." 

Auch  dieses  Telegramm  wurde  nicht  abgesandt,  sondern  durch 
ein  anderes  ersetzt,  in  dem  das  Sistiercn  der  Instruktion  mit  dem 
Eintreffen  eines  Telegramms  des  FCönigs  von  England  erklärt 
wurde.  Aber  es  ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  daß  die  erste  Erklärung 
die  richtige  v/ar.  Man  scheute  wohl  davor  zurück,  eine  derartige 
Einwirkung  des  Generalstabs  auf  die  äußere  Politik  zuzu- 
geben. In  ihm  tritt  ein  neuer  Faktor  hervor,  der  entscheidend  wird 
für  den  Ausbruch  des  Krieges. 

16.  Die  Mobilisierungen. 

Vom  Beginn  der  Krise  an  hatte  bei  den  meisten  Regierungen  ein 
gewisses  Mißtrauen  nicht  bloß  gegen  Österreich,  sondern  auch  gegen 
Deutschland  bestanden,  trotz  der  lebhaften  Beteuerungen  Berlins, 
man  sei  durch  das  Wiener  Ultimatum  ebenso  überrascht  worden 
wie  die  übrige  Welt. 

Die  Sabotierung  aller  Vermittlungsversuche  durch  Österreich 
und    Deutschland    bis    zum    29.    Juli,    die    dann    durch    Österreich 

126 


fortgesetzt  wurde,  nun  im  Gegensatz  zu  Deutschland,  der  aber 
offen  nicht  zutagetrat  —  alles  dies  lie3  die  Friedensliebe  der 
Mittelmächte  immer  zweifelhafter  erscheinen  und  befestigte  bei 
der  Entente  immer  mehr  die  Befürchtungen,  daß  sie  eine  „allge- 
meine Konflagration"  wollten. 

Nur  wenige  auswärtige  Diplomaten  waren  am  30.  Juli  noch 
des  Glaubens,  Deutschland  sei  ernstlich  bemüht,  zu  vermitteln. 
Zu  diesen  gehörte  der  belgische  Gesandte  in  Petersburg,  Herr  de 
l'Escaille,  der  am  30,   Juli  berichtet: 

„Unbestreitbar  bleibt  nur,  daß  Deutschland  sich  hier  ebenso 
wie  in  Wien  bemüht  hat,  irgend  ein  Mittel  zu  finden,  um  einen 
allgemeinen  Konflikt  zu  vermeiden,  daß  es  dabei  aber  einerseits 
auf  die  feste  Entschlossenheit  des  Wiener  Kabinetts  gestoßen  ist, 
keinen  Schritt  zurückzuweichen  und  anderseits  auf  das  Mißtrauen 
des  Petersburger  Kabinetts  gegenüber  den  Versicherungen  Öster' 
reich-Ungarns,  daß  es  nur  an  eine  Bestrafung,  nicht  an  eine  Be- 
sitzergreifung  Serbiens   denke." 

Die  Depesche  kam  auf  dem  Weg  durch  Deutschland  in  die 
Hände  der  deutschen  Regierung,  die  sich  beeilte,  sie  zu  veröffent- 
lichen, weil  sie  beweise,  daß  Deutschland  mit  größler  Hingebung 
für  den  Frieden  gewirkt  habe.  Die  deutsche  Regierung  hat  später 
noch  zahlreiche  andere  Berichte  belgischer  Diplomaten  aus  dem 
Jahrzehnt  vor  dem  Kriege  veröffentlicht,  die  alle  sehr  günstig 
von  der  Friedensliebe  Deutschlands  sprachen.  Was  sie  bezeugen, 
ist  das  eine,  daß  gerade  unter  den  belgischen  Diplomaten  das 
Zutrauen  zur  deutschen  Politik  sehr  stark  war,  Ürn  so  sonder- 
barer berührt  es,  daß  die  deutsche  Regierung  gleichzeitig  mit 
diesen  belgischen  Zeugnissen  andere  veröffentlichte,  die  beweisen 
sollten,  daß  sich  Belgien  schon  lange  vor  dem  Krieg  mit  England 
und   Frankreich  gegen  Deutschland   verschworen  hatte. 

Was  das  von  de  l'Escaille  berichtete  Mißtrauen  des  Peters- 
burger Kabinetts  gegenüber  den  Versicherungen  Wiens  anbelangt, 
es  wolle  Serbiens  Integrität  nicht  antasten,  so  war  dies  Miß- 
trauen nicht  auf  Petersburg  beschränkt.  Am  29.  Juli  schrieb 
Bethmann  Hollweg  nach  Wien  an  Tschirschky: 

„Diese  Äußerungen  der  csierrcichischen  Diplomaten  tragen  nicfil 
mehr  den  Charakter  privater  Äußerungen,  sondern  müssen  als 
Reflexe  von  Wünschen  und  Aspirationen  erscheinen.  Ich  be- 
trachte die  Haltung  der  dortigen  Regierung  und  ihr  ungleich- 
artiges Vorgehen  bei  den  verschiedenen  Regierungen  mit  wach- 
sendem  Befremden.     In   Petersburg   erklärt   sie    territoriales   Des- 

127 


interessemsnt,  uns  läßt  sie  ganz  im  Unklaren  über  ihr  Programm, 
Rom  speist  sie  mit  nichtssagenden  Redensarten  über  die  Kom- 
pensationstragQ  ab,  in  London  verschenkt  Graf  Mensdorff  Teile 
Serbiens  an  Bulgarien  und  Albanien  und  setzt  sich  in  Gegensatz 
zu  den  feierlichen  Erklärungen  Wiens  in  Petersburg.  Aus  diesen 
Widersprüchen  maß  ich  den  Schluß  ziehen,  daß  die  im  Telegramm 
Nr,  83  mitgeteilte  Desavouierung  des  Grafen  Hoyos  für  die 
Galerie  bestimmt  war  und  daß  die  dortige  Regierung  sich  mit 
Plänen  trägt,  deren  Geheimhaltung  vor  uns  sie  für  angezeigt  hält, 
um  sich  auf  alle  Fälle  der  deutschen  Unterstützung  zu  versichern 
und  nicht  durch  offene  Bekanntgabe  einem  eventuellen  Refus 
auszusetzeru 

Vorstehende  Bemerkungen  sind  zunächst  zu  Ew.  Exz.  per- 
sönlicher Orientierung  bestimmt.  Den  Grafen  Berchtold  bitte  ich 
nur  darauf  hinzuweisen,  einem  Mißtrauen  gegen  seine  über  die 
Integrität  Serbiens  den  Mächten  abgegebenen  Erklärungen  vor- 
zubeugen." 

InTT'A-ischen  hatte  Bethmann  Hollweg  selbst  schon  begonnen, 
lebhaftes  Mißtrjiucn  hervorzurufen.  Immer  allgemeiner  wurde  die 
Ansicht,  Deutschland  wolle  den  Krieg,  und  so  geriet  man  in  das 
verhängnisvolle  Stadiism,  daß  jeder  sich  zum  Kriege  vorbereitete 
—  Vorbereitungen,  die  zunächst  verstohlen  betrieben  werden 
konnten,  in  einem  gev/issen  Stadium  aber  in  offener  Mobilisierung 
münden  mußten. 

Die  Gefahren  dieses  Stadiums  hatten  die  deutschen  Staats- 
männer selbst  vorausgesehen.  In  dem  so  viel  besprochenen  Bericht 
•der  bayerischen  Gesandtschaft  vom  18.  Juli  hieß  es: 

„Von  einer  Mobilmachung  deutscher  Truppen  soll  abgesehen 
werden  und  man  will  auch  durch  unsere  militärischen  Stellen 
dahin  wirken,  daß  Österreich  nicht  die  gesamte  Armee  und  ins- 
besondere die  in  Galizien  stehenden  Truppen  mobilisiert,  um  nicht 
automatisch  eins  Gegenmobilisierung  Rußlands  auszulösen, 
die  dann  auch  uns  und  Frankreich  zu  gleichen  Maßnahmen 
zwingen  und  damit  den  europäischen  Krieg  heraufbeschwören 
würde." 

Diese  Stelle  hat  Eisner  leider  weggelassen.  Sie  soll  die  deut- 
sche Friedeaaliebe  bescheinigen.  Und  sie  sagt  allerdings,  daß 
Deutschland  nicht  den  europaischen  Krieg  um  jeden  Preis 
sondern  nur  den  serbischen  wollte,  sie  sagt  aber  noch  etwas 
anderes,  nämlich,  daß,  wenn  Österreich  mobilisierte,  dies  „a  u  t  o  - 

128 


m  a  t  i  s  c  h"  die  russische  Mobilisierung  nach  sich  ziehen  mußte, 
die  dann  den  europäischen  Krieg  heraufbesciiwören  würde. 

Dies  „automatisch"  mögen  diejenigen  beherzigen,  die  da  be- 
haupten, Rußland  habe  ganz  grundlos  mobilisiert  und  damit  ge- 
zeigt,  daß  es  den  Krieg  wollte. 

Wem  es  um  den  Frieden  unter  allen  Umständen  zu  tun  war, 
der  durfte  natürlich  vor  allem  die  Kriegserklärung  an  Serbien 
nicht  zugeben.  Hatte  man  einmal  diesen  verhängnisvollen  Schritt 
getan,  dann  war  eine  Atmosphäre  der  Beunruhigung  geschaffen, 
die  allgemeines  Mobilisieren  nach  sich  zog.  Wollte  man  das 
vermeiden,  dann  mußte  man  sich  zum  mindesten  in  dem  Rahmen 
des  Programms  halten,  das  der  bayrische  Bericht  entwickelte; 
man  mußte  verhindern,  daß  Österreich  in  einer  Weise  mobilisierte, 
die  Rußland  beunruhigte. 

Das  geschah  nicht. 

Die  österreichische  Mobilisierung  war  ziemlich  undurchsichtig, 
aber  Bethmann  Hollweg  gestand  selbst  in  seinen  Kriegsreden  am 
4.  August,  als  er  von  der  russischen  Mobilisierung  sprach  und 
diese   für  nicht   gerechtfertigt   erklärte: 

„Österreich-Ungarn  hatte  nur  seine  Armeekorps,  die  unmittel- 
bar gegen  Serbien  gerichtet  waren,  mobilisiert  und  im  Norden 
nur  zwei  Armeekorps  und  fern  von  der  russischen  Grenze." 

Schon  am  25,  Juli  hatte  Österreich  die  Mobilisierung  von  acht 
Armeekorps  begonnen,  die  „automatisch"  die  russische  nach  sich 
ziehen  mußte,  wie  der  deutschen  Regierung  selbst  bewußt  war. 

Und  sie  mußte  auch  wissen,  daß  die  Teilmobilisierung,  mit  der 
man  begann,  ebenso  automatisch  die  allgemeine  nach  sich  zog. 
Sie  erfolgte  in  Österreich  und  Rußland  fast  gleichzeitig,  am 
31.  Juli.  Die  Russen  behaupteten,  Österreich  sei  mit  der  Maß- 
regel vorangegangen. 

Der  französische  Gesandte  in  Petersburg,  Paleologue,  berichtete 
am  31.  Juli: 

„Auf  Grund  der  allgemeinen  Mobilmachung  Österreichs  und  der 
von  Deutschland  seit  sechs  Tagen  geheim,  aber  unausgesetzt  be- 
triebenen Mobilisierungsmaßnahmen  ist  der  Befehl  zur  allge- 
meinen   Mobilisierung    des    russischen    Heeres    erlassen    worden." 

Am  1.  August  mobilisierten  dann  England  und  Frankreich, 
genau  so,  wie  es  der  bayerische  Bericht  vorausgesagt. 

In  deutschen  Regierungskreisen  selbst  erklärte  man  die  russische 
Mobilisierung    nicht    aus    kriegerischen    Absichten    der    russischen 

129 


Regierung,  Am  30,  Juli  telegraphierte  der  deutsche  MilitärbevoII- 
mächtige   in   Petersburg: 

„Ich  habe  den  Eindruck,  daß  man  hier  aus  Angst  vor  kommenden 
Ereignissen  mobilisiert  hat,  ohne  aggressive  Ab  sieht  e  n." 

Selbst  nach  der  allgemeinen  russischen  Mobilisierung  vom 
31,  Juli  bemerkte  Bethmann  zu  Lichnowsky  in  London: 

„Ich  halte  es  nicht  für  unmöglich,  daß  die  russische  Mobil- 
machung darauf  zurückzuführen  ist,  daß  gestern  hier  kursierende, 
absolut  falsche  und  sofort  amtlich  dementierte  Gerüchte  über  hier 
erfolgte  Mobilmachung  als  Tatsaclie  nach  Petersburg  gemeldet 
worden  sind." 

Aber  mochten  die  Mobilisierungen  nur  defensiven  Zwecken  ent- 
springen, sie  vermehrten  enorm  die  allgemeine  Spannung. 

Damit  wuchs  gewaltig  die  Gefährlichkeit  der  Lage.  Neben  den 
Diplomaten  bekamen  nun  die  Generalstäbler  das  Wort,  in  der- 
selben Zeit,  in  der  sich  beim  ,,Zivil"kanzler  ein  Umschv^nang  in  der 
Richtung  zum  Frieden  vollzog.  Für  den  Generalstäbler  bestand 
die  Aufgabe  nicht  darin,  den  Krieg  zu  verhüten,  den  er  be- 
reits als  unvermeidlich  betrachtete,  als  vielmehr  darin,  den  Krieg 
zu  gewinnen.  Die  Aussichten  auf  Sieg  waren  aber  um  so 
größer,  je  schneller  man  losschlug,  je  weniger  Zeit  man  dem 
Gegner  ließ,  seine  Kräfte  zu  sammeln.  So  stellten  sich  die  Versuche 
des  Kanzlers,  den  Frieden  zu  retten,  erst  zu  einem  Zeitpunkt  ein, 
als  seine  frühere  Kriegspolitik  bereits  die  stärkste  Triebkraft  zum 
Krieg   in   den   Vordergrund   gebracht   hatte. 

Schon  vom  29,  Juli  liegen  Belege  für  das  Eingreifen  des  deut- 
schen Gcneralstabs  in  die  Politik  vor.  An  diesem  Tage  sandte 
er  dem  Auswärtigen  Amt  ein  Expose,  nicht  über  die  militäri- 
sche, sondern  die  politische  Lage,  die  dem  Reichskanzler 
zu  erläutern  doch  nicht  seines  Amtes  war.  Der  Titel  hieß;  „Zur 
Beurteilung   der   politischen   Lage." 

Es    begann    mit    folgenden    Ausführungen: 

„Es  ist  ohne  Frage,  daß  kein  Staat  Europas  den  Konüiht 
zwischen  Österreich  und  Serbien  mit  einem  andern  als  wie 
menschlichen  Interesse  gegenüberstehen  würde,  wenn  in  ihn  nicht 
die  Gefahr  einer  allgemeinen  politischen  Verwicklung  hinein- 
getragen wäre,  die  heute  bereits  droht,  einen  Weltkrieg  zu  ent- 
fesseln. Seit  mehr  als  fünf  Jahren  ist  Serbien  die  Ursache  einer 
europäischen  Spannung,  die  mit  nachgerade  unerträglich  ward^n- 
dem  Druck  auf  dem  politischen  ur.d  wirtschaftlichen  Leben  der 
Völker    lastet.      Mit    einer    bis    zur    Schwäche   gehe  n- 

130 


den  Langmut  hat  Österreich  bisher  die  dauernden  Provoka- 
tionen und  die  auf  Zersetzung  seines  staatlichen  Bestandes  ge- 
richtete politische  Wühlarbeit  eines  Volkes  ertragen,  das  vom 
Königsmord  im  eigenen  zum  Fürstenmord  im  Nachbarland  ge- 
schritten ist.  Erst  nach  dem  letzten  scheußlichen  Verbrechen  hat 
es  zum  äußersten  Mittel  gegriffen,  um  mit  glühendem 
Eisen  ein  Geschwür  auszubrennen,  das  fortwährend 
den  Körper  Europas  zu  vergiften  drohte.  Man  sollte  meinen, 
daß  ganz  Europa  ihm  hätte  Dank  wissen  müssen.  Ganz  Europa 
würde  aufgeatmet  haben,  wenn  sein  Störenfried  in  gebüfirender 
Weise  gezüchtigt  und  damit  Ruhe  und  Ordnung  auf  dem  Balkan 
hergestellt  worden  wäre.  Aber  Rußland  stellte  sich 
auf  die  Seite  des  verbrecherischen  Landes.  ErcA 
damit  wurde  die  österreichisch-serbische  Angelegenheit  zu  der 
Wetterwolke,  die  sich  jeden  Augenblick  über  Europa  zu  entladen 
drohte." 

Und  so  weiter.  Derart  waren  die  politischen  Lektionen,  die 
der  Generalstab  dem  Reichskanzler  erteilte  und  die  dieser  sub- 
missest  entgegennahm.  Über  die  generalstäbliche  Geschichtsauf- 
fassung braucht  man  kein  V/ort  zu  verlieren.  Nur  darauf  sei 
verwiesen,  daß  die  deutschen  Generalstäbler  den  serbischen 
Königsmord  zu  einer  Tat  des  serbischen  Volkes  machten.  Sie 
hatten  schon  vergessen,  daß  es  ihre  Kollegen  waren,  die 
dieses   Verfahren   anwandten. 

Der  Bericht  weist  dann  darauf  hin,  daß  Rußland  erklärt  habe, 
mobilisieren  zu  Vv'ollen.  Dadurch  werde  Österreich  gezwungen, 
nicht  bloß  gegen  Serbien,  sondern  auch  gegen  Rußland  zu  mobili- 
sieren. Damit  werde  der  Zusammenstoß  beider  unvermeid- 
lich. 

„Das  ist  aber  für  Deutschland  der  casus  foederis.  Nur  ein 
Wunder  konnte   den  Krieg   noch   verhindern." 

„Deutschland  will  diesen  schrecklichen  Krieg  nicht  herbei- 
führen. Die  deutsche  Regierung  weiß  aber,  daß  sie  die  tiefgc- 
wurzeltsn  Gefühle  der  Bundestreue,  eines  der  schönsten 
Züge  des  deutschen  Gemütslebens,  in  verhängnis- 
voller Weise  verletzen  und  sich  in  Widerspruch  mit  allen  Emp- 
findungen ihres  Volkes  setzen  würde,  wenn  sie  ihrem  Bundes- 
genossen in  einem  Augenblick  nicht  zu  Hilfe  kommen  wollte,  der 
über  dessen  Existenz  entscheiden  kann." 

Deutschland  will  also  „diesen  schrecklichen  Krieg  nicht  herbei- 
führen",  aber   „einer   der   schönsten  Züge   des   deutschen   Gemüts- 

131 

0» 


lebens",  das  der  deutsche  Generalstab  so  hervorragend  repräsen- 
tierte, zwingt  es  dazu,  nämlich  die  Treue  gegen  den  Ver- 
schwörungspakt  vom  5.  Juli,  der  auch  zu  den  ,, schönsten  Zügen 
des   deutschen  Gemütslebens"  gehört. 

Nach  diesem  Appell  an  das  deutsche  Gemüt  wird  aber  der  Ge- 
neralstab  recht   ungemütlich: 

„Nach  den  vorliegenden  Nachrichten  scheint  auch  Frankreich 
vorbereitende  Maßnahmen  für  eine  eventuelle  Mobilmachung  zu 
treffen.  Es  ist  augenscheinlich,  daß  Rußland  und  Frankreich  in 
ihren  Maßnahmen  Hand   in  Hand  gehen. 

Deutschland  wird     also,     wenn     der  Zusammenstoß    zwischen 
Österreich  und  Rußland  unvermeidlich  ist,  mobil  machen  und  be- 
reit  sein,   den   Krieg   nach   zwei   Fronten  aufzunehmen. 

Für  die  eintretendenfalls  von  uns  beabsichtigten  militärischen 
Maßnahmen  ist  es  von  größter  Wichtigkeit,  möglichst  bald  Klar- 
heit darüber  zu  erhalten,  ob  Rußland  und  Frankreich  gewillt 
sind,  es  auf  einen  Krieg  mit  Deutschland  ankommen  zu  lassen. 
Je  weiter  die  Vorbereitungen  unserer  Nachbarn  fortschreiten,  um 
so  schneller  werden  sie  ihre  Mobilmachung  beendigen  können. 
Die  militärische  Lage  wird  dadurch  für  uns  von  Tag  zu  Tag  un- 
günstiger und  kann,  wenn  unsere  voraussichtlichen  Gegner  sich 
weiter  in  aller  Ruhe  vorbereiten,  zu  verhängnisvollen  Folgen  für 
uns  führen." 

Man  beachte  diese  Sprache!  Der  Generalstab  teilt  nicht  etwa 
der  Regierung  mit,  daß  er  alle  Vorbereitungen  getroffen  habe,  um 
zu  mobilisieren,  sobald  sie  es  anordnet,  sondern  er  kommandiert 
ohne  weiteres:  Deutschland  wird  mobilmachen,  sobald  der  Zu- 
sammenstoß zwischen  Österreich  und  Rußland  unvermeidlich 
wird.  Dabei  erklärt  er  mit  gleicher  Bestimmtheit,  daß  dieser 
Zusammenstoß    nur    noch    durch    ein    Wunder    zu    verhindern    ist. 

Mobilisierung  bedeutet  aber  nach  den  Grundsätzen  des  deut- 
schen Generalstabs  den  Krieg.  Er  proklamiert  also  schon  den 
Krieg  ,,nach  zwei  Fronten"  und  fordert  raschestes  Losschlagen,  da 
die  „militärische  Lage  für  uns  von  Tag  zu  Tag  ungünstiger  wird". 

Das  ist  der  Sinn  dieser  Proklamation  des  Generalstabs  an  den 
Reichskanzler.  Damit  erhebt  die  Zentralorganisation  des  Militärs 
den  Anspruch,  die  Entscheidung  über  die  auswärtige  Politik  in 
ihre  Hand  zu  nehmen  und  eine  kriegerische  Lösung  zu  be- 
schleunigen, eben  in  dem  Moment,  wo  diese  Zivilgewalt  sich  an- 
schickt, nachzugeben,  einen,  wenn  auch  kleinen  Schritt  zum 
Frieden  zu  machen. 

132 


Ganz  ohne  Kampf  dankte  der  Reichskanzler  freilich  nicht  ab. 
Unter  anderem  hat  uns  darüber  noch  während  des  Krieges  ein 
Schriftchen  unterrichtet,  dessen  Verfasser  sich  hinter  dem  Pseudo- 
nym „Junius  alter"  verbarg  und  der  den  Stan'dpunkt  der  Kriegs- 
partei vertrat.     Es  heißt  da: 

„Über  die  amtliche  Tätigkeit  des  Kanzlers  unmittelbar  vor 
Kriegsausbruch  .  .  .  ergibt  sich  als  Gesamteindruck  die  Tatsache, 
daß  sein  Streben^  bis  zur  letzten  Stunde  —  unbekümmert  um  die 
militärischen  Folgen  —  darauf  gerichtet  ist,  den  Ausbruch  des 
längst  unvermeidlich  gewordenen  Krieges  um  jeden  Preis  zu  ver- 
hindern. Umsonst  drängten  Generalstabschef,  Kriegsminister  und 
die  maßgebenden  Marinestellen  auf  den  Befehl  zur  Mobil- 
machung; es  gelang  ihnen  zwar,  den  Kaiser  am  Donnerstag 
(30.  Juli)  von  der  unabweisbaren  Notwendigkeit  dieser  Maß- 
nahme halb  und  halb  .zu  überzeugen,  so  daß  am  Nachmittage 
Berliner  Polizeiorgane  und  der  „Lokalanzeiger"  die  Mobilmachung 
bereits  bekanntgaben.  Aber  dem  Eingreifen  Herrn  v.  Bethmanns 
gelang  es,  den  entscheidenden  und  erlösenden  (!  K.)  Befehl  zu 
vereiteln.  Nach  wie  vor  und  unerschütterlich  hielt  er  an  seiner 
Hoffnung  fest,  daß  es  ihm  mit  englischer  Hilfe  gelingen  müsse, 
eine  Einigung  zwischen  Wien  und  Petersburg  herbeizuführen,  und 
wiederum  gingen  zwei  kostbare  Tage  verloren,  die  uns  nicht  nur 
einen  Teil  des  Elsaß,  sondern  auch  Ströme  von  Blut  gekostet 
haben.  In  gleicher  Weise  wäre  auch  der  1.  August  ungenützt 
vorübergegangen,  wenn  an  ihm  nicht  schließlich  die  leitenden 
militärischen  Stellen  am  Schlüsse  erklärt  hätten,  daß  sie  bei 
längerer  Hinauszögerung  des  Mobilmachungsbefehls  nicht  mehr  im- 
stande seien,  die  auf  ihnen  ruhende  schwere  Verantwortung  zu 
tragen.  .  .  .  Auch  nach  erfolgter  Mobilmachung  hat  Herr 
V.  Bethmann  Hollweg  einen  letzten  Versuch  unternommen,  die 
Zurücknahme  des  Befehls  zu  erwirken,  aber  es  war  glück- 
licherweise zu  spät:  die  im  kleinen  Finger  politisch  ein- 
sichtsvolleren militärischen  Stellen  waren  in  zwölfter  Stunde 
durchgedrungen."     (S.  19,  20.) 

Die  Anklagen  (!)  des  Herrn  Junius  alter  bestätigen  den  Be- 
richt des  französischen  Botschafters  in  Berlin  vom  30,  Juli.  Herr 
Cambon  teilt  mit: 

„Einer  der  Botschafter,  mit  dem  ich  die  engsten  Beziehungen 
habe,  hat  um  zwei  Uhr  Herrn  Zimmermann  gesehen.  Nach  Aus- 
sage des  Unterstaatssekretärs  drängen  die  militärischen  Behörden 
sehr  darauf  an,  daß  die  Mobilmachung  angeordnet  werde,  da  jede 

133 


Verspätung  Deutschland  um  einige  seiner  Vorteile  bringe.  Doch 
bis  fetzt  sei  es  gelungen,  dem  Drängen  des  Generalstabs,  der  in 
der  Mobilisierung  den  Krieg  erblickt,  zu  widerstehen.  .  .  .  Ich 
habe  übrigens  die  triftigsten  Gründe  zu  der  Annahme,  daß  alle 
M obilmachungsmaßregeln,  die  vor  der  Veröffentlichung  des  all- 
gemeinen Mobilmachungsbefehls  durchgeführt  werden  können,  hier 
getroffen  worden  sind,  wo  man  möchte,  daß  wir  unsere  Mobili- 
sierung   zuerst    bekanntgeben,    um    uns    die    Verantwortung    dafür 

zuzuschieben." 

i> 

Bethmann  Hollweg  kämpfte  nicht  allein  gegen  die  vorzeitige 
Proklamation  der  Mobilisierung,  das  heißt,  nach  deutschen  Be- 
griffen, des  Krieges,  Mit  ihm  kämpften  auch  andere  Mitglieder 
des  Auswärtigen  Amtes,  die  sehr  wohl  ■wußten,  unter  welchen 
ungünstigen  internationalen  Bedingungen  Deutschland  in  den  Krieg 
ging  und  die  den  dünnen  Friedensfaden',  der  in  letzter  Minute 
endlich  gesponnen  worden  war,  nicht  vorzeitig  zerreißen  wollten. 

So  berichtet  der  belgische  Baron  Beyens  am  1,  August  aus  Berlin 
nach  Brüssel: 

„Um  sechs  Uhr  abends  (soll  wohl  heißen  fünf  Uhr.  K.),  da  noch 
keine  Antwort  von  Petersburg  auf  das  Ultimatum  der  kaiser- 
lichen Regierung  eingelangt  war,  begaben  sich  die  Herren  v.  Jagow 
und  Zimmermann  zum  Kanzler  und  zum  Kaiser,  um  zu  erlangen, 
daß  die  Ordre  zu  allgemeiner  Mobilisierung  heute  noch  nicht 
ausgegeben  würde.  Aber  sie  stießen  auf  den  unerschütterlichen 
V/iderstcnd  des  Kriegsministers  und  der  Häupter  der  Armee, 
die  dem  Kaiser  die  verderblichen  Folgen  einer  Verzögerung  von 
24  Stunden  darlegten.     Die  Ordre  wurde  sofort  erteilt." 

In  auffallendem  Gegensatz  zu  diesen  Berichten  steht  die  Dar- 
stellung, die  Tirpitz  in  seinen  Erinnerungen  gibt.  Danach  hätte 
Bethmann  am  letzten  Tage  selbst  aufs  äußerste  zur  Mobilmachung 
gedrängt  und  hätte,  im  Gegensatz  zu  Moltke  darauf  bestanden,  daß 
mit  der  Mobilmachung  auch  sofort  die  Kriegserklärung  erfolgte. 
(S.  239—241.) 

Diese  Widersprüche  bedürfen  noch  der  Aufklärung.  Doch  eines 
steht  fest:  Die  Ratlosigkeit  in  den  regierenden  Stellen,  die  seit 
dem  29.  Juli  begonnen,  hatte  sich  von  Tag  zu  Tag  rapid  gesteigert. 
Und  ebenso  die  Gegensätze  unter  ihnen,  Bethmann  wurde  der 
Geister  nicht  mehr  Herr,  die  er  gerufen.  Er  wußte  selbst  nicht, 
wie  recht  er  hatte,  als  er  am  30.  Juli  im  preußischen  Ministerrat 
erklärte:  Die  Direktion  sei  verloren  und  der  Stein  ins  Rollen  geraten. 

134 


17.  Die  Kriegserklärung  an  Rußland. 

Die    Vorbereitung    der    Kriegserklärung, 

Die  allgemeine  Kopflosigkeit  irai  deutlich  zutage  bei  der  Jvriegs- 
erklärung  an  Rußland-  Dieses  hatte  gleichzeitig  mit  Österreich 
am  Morgen  des  31,  Juli  die  allgemeine  Mobilisierung  angeordnet. 
Beide  hatten  erklärt,  sie  sei  nur  eine  Vorsichtsmaßregel,  bedeute 
noch  nicht  den  Krieg.  Die  Verhandlungen  sollten  dadurch  nicht 
unterbrochen  werden. 

So  berichtete  der  russische  Botschafter  in  V^-ien  am  31,  Juli 
nach  Petersburg: 

„Ungeachtet  der  allgemeinen  Mobilmachung  setze  ich  den  Ge- 
dankenaustausch mit  dem  Grafen  Berchtold  und  seinen  Mit- 
arbeitern rort." 

Daß  Deutschland  seinerseits  auf  die  russische  Mobilmachung 
hin  ebenfalls  mobilisierte,  war  wohl  begreiflich.  Alles  mobili- 
sierte damals,  selbst  Flolland,  Hätte  Deutschland  wie  alle  andern 
Nationen,  wie  auch  Frankreich,  die  Mobilisierung  als  bloße  Vor- 
sichtsmaßregel betrachtet,  so  ließ  sich  gegen  diesen  Schritt  nichts 
eirAvenden, 

Der  deutsche  Botschafter  in  Paris,  Schön,  berichtet  am 
1.  August  nach  Berlin: 

„Ministerpräsident  erklärte  mir  gegfinüber,  die  soeben  hier  an- 
geordnete Mobilmachung  bedeute  keineswegs  aggressive  Ab- 
sichten, was  auch  in  Proklamation  betont  werde.  Es  sei  noch 
immer  Raum  für  Fortsetzung  der  Verhandlungen  auf  Basis  des 
Vorschlags  Sir  E.  Greys,  dem  Frankreich  zugestimmt  habe  und 
den  es  warm  befürworte. 

Gegen  Zusammenstöße  an  der  Grenze  sei  französischerseits 
durch   Zehnkilomeierzone   Vorsorge   getroffen. 

Er  könne  Hoffnung  auf  Frieden  nicht  aufgeben." 
•  Wenn  Deutschland  seine  Mobilisierung  mit  den  gleichen  Ver- 
sicherungen begleitete,  dann  konnten  die  Verhandlungen  tatsäch- 
lich noch  weitergehen  und  schließlich  friedlich  enden.  Hatten 
doch  1913  Riißland  und  Österreich  mobilisiert,  ohne  daß  es  zum 
Krieg  gekommen  war.  Wir  haben  gesehen,  daß  einer  der  Gründe 
für  Wilhelm,  warum  er  den  Krieg  gegen  Serbien  für  notwendig 
hielt,  obwohl  die  serbische  Antwort  jeden  Grund  dazu  beseitigt 
hatte,  in  der  Tatsache  lag,  daß  Österreich  jetzt  zum  drittenmal 
mobilisierte.      Geschähe   das  wieder,   ohne   daß   die   „Armee",   das 

135 


heißt  die  Herren  Offiziere,  ihre  , .Waffenehre"  befriedigt  sähen,  so 
würde  das  üble  Folgen  zeitigen. 

Tirpitz  hielt  am  1.  August  die  Kriegserklärung  für  einen  Fehler. 
Moltke  legt  auf  sie  an  jenem  Tage  ,, keinen  Wert",  wie  Tirpitz  bemerkt. 

Also  Mobilisierung  brauchte  nicht  Krieg  zu  bedeuten.  Ihr 
konnte  im  letzten  Moment  noch  ohne  diesen  blutigen  Ausgang  die 
Demobilisierung  folgen,  wenn  man  sich  inzwischen  verständigte. 

In  der  Depesche  nach  Petersburg  vom  31.  Juli,  in  der  Beth- 
niann  Deutschlands  Mobilisierung  in  Aussicht  stellte,  beschwerte 
er  sich  darüber,  daß  Rußland  trotz  der  schwebenden  Verhand- 
lungen mobilisierte.  Indes  Österreich  hatte  trotz  der  schwebenden 
Verhandlungen  nicht  bloß  mobilisiert,  sondern  Serbien  den  Krieg 
erklärt  und  Belgrad  bombardiert.  Wenn  das  die  Verhandlungen 
nicht  unmöglich  machte,  brauchte  die  bloße  Mobilisierung  Ruß- 
lands nicht  so  peinlich  genommen  werden. 

Doch  nicht  allein  in  diesem  Punkte  sah  der  Reichskanzler  nur 
den  Splitter  im  Aiige  Rußlands  und  nicht  den  Balken  im  Auge 
Österreichs.  Er  forderte,  daß  Rußland  sofort  jede  Kriegsmaß- 
nahme nicht  bloß  gegen  Deutschland,  sondern  auch  gegen  Öster- 
reich einstelle,  ohne  das  gleiche  für  Österreich  in  Aussicht  zu 
stellen.  Wenn  er  wollte,  daß  Rußland  seine  Forderung  ablehne, 
mußte   er   sie  in   dieser  Weise   formulieren. 

Nicht  minder  sonderbar  aber  erscheint  die  Depesche  des  Reichs- 
kanzlers, wenn  man  sie  mit  der  zusammenhält,  die  er  gleichzeitig 
für  die  französische  Regierung  an  Schön  schickte.  Wir  stellen 
beide  nebeneinander, 

Note  an  Rußland  Note  für  Frankreich 

„Trotz  noch  schwebender  Ver-  „Rußland  hat  trotz  unserer 
mitthingsverhandlungen  und  ob-  noch  schwebenden  Vermittlungs- 
wohl wir  selbst  bis  zur  Stunde  aktion  und  obwohl  wir  selbst 
keinerlei  Mobilmachungsmaß-  keinerlei  Mobilmachungsmcß- 
nahmen  getroffen  haben,  hat  nahmen  getroffen  haben,  Mobil- 
Rußland  ganze  Armee  und  machung  seiner  gesamten  Ar- 
Flotte,  also  auch  gegen  uns  mee  und  Flotte,  also  auch 
mobilisiert.  Durch  diese  russi-  gegen  uns  verfügt.  Wir  haben 
sehen  Maßnahmen  sind  wir  ge-  darauf  drohenden  Kriegszu- 
zwungen  worden,  zur  Sicherung  stand  ausgesprochen,  dem  Mo- 
des  Reiches  die  drohende  Kriegs-  bilmachung  folgen  muß,  falls 
gefahr  auszusprechen,  die  noch  nicht  Rußland  binnen  zwölf 
nicht  Mobilisierung  bedeutet.  Stunden  alle  Kriegsmaßnahmen 
Die  Mobilisierung  muß  aber  gegen  uns  und  Österreich  ein- 
folgen,     falls      nicht      Rußland  stellt.       Die     M  obilmach- 

136 


binnen  zwölf  Stunden  jede  u  n  ^  bedeutet  u  nv  e  r  - 
Kriegsmaßnahme  gegen  uns  und  m  e  idlich  Krieg.  Biiie 
Österreich  einstellt  und  uns  hier-  französische  Regierung  fragen, 
über  bestimmte  Erlilärung  ab-  ob  sie  in  einem  russisch- 
gibt.  Bitte  das  sofort  Herrn  deutschen  Krieg  neutral 
Sasonow  mitteilen  und  Stunde  bleiben  will.  Antwort  muß 
ier  Mitteilung  drahten."  binnen     achtzehn     Stunden     er- 

folgen. Sofort  Stunde  der  ge- 
stdlien  Anfrage  drahten.  Größte 
Eile  geboten! 

Man  sieht  die  beiden  Erklärungen  stimmen,  abgesehen  von  dem 
für  Frankreich  speziell  bestimmten  Schluß,  fast  wörtlich  überein, 
bis  auf  einen  Satz:  Frankreich  wird  mitgeteilt,  daß  die  Mobil- 
machung unvermeidlich  den  Krieg  bedeutet.  In  dem  für  R  u  ß  - 
land  bestimmten  Text  fehlte  dieser  entschei- 
dende Satz,  der  erst  die  Mitteilung  zu  einem  Ultimatum  machte. 

Warum  das?  Man  kann  das  V/cgbleiben  aus  zwei  sehr  ver- 
schiedenen Motiven  erklären;  einmal  aus  dem  Wunsch  des  Gene- 
ralstabs, Rußland  nicht  vorzeitig  aufzupeitschen,  ihm  noch  den 
Glauben  zu  lassen,  daß  trotz  der  Mobilisierung  weiter  verhandelt 
werden  könne  un/d  es  dadurch  davon  abzuhalten,  diese  besonders 
zu  beschleunigen.  Das  Wegbleiben  konnte  aber  auch  dem  Wunsch 
des  Zivilkanzlers  entspringen,  trotz  der  Mobilisierung  nicht  alle 
Brücken  abzubrechen. 

In  der  Tat  faßte  man  die  Mitteilung  der  deutschen  Regierung  in 
Rußland  noch  nicht  als  ein  Ultimatum  auf. 

Um  12  Uhr  nachts  teilt  Pourtales  Herrn  Sasonow  die  Depesche 
des   Reichskanzlers   mit. 

Darauf  antwortete  am  nächsten  Tage,  d-em  1.  August,  um  zwei 
Uhr  nachmittags,  der  Zar  in  einem  Telegramm  an  Wilhelm: 

,Ich  habe  Dein  Telegramm  erhalten.  Ich  verstehe,  daß  Du  ge- 
zwungen bist,  mobil  zu  machen,  aber  ich  möchte  von  Dir  dieselbe 
Garantie,  die  ich  Dir  gegeben  habe,  nämlich,  daß  diese  Maßnahmen 
n  ic h  t  Krieg  bedeuten  und  daß  wir  fortfahren  werden  zu  ver- 
handeln zum  Heile  unserer  beiden  Länder  und  des  allgemeinen 
Friedens,  der  unserem  Herzen  so  teuer  ist.  Unserer  langbewähr- 
ten Freundschaft  muß  es  mit  Gottes  Hilfe  gelingen,  Blutvergießen 
zu  verhindern.  Dringend  erivarte  ich  voll  Vertrauen  Deine  Ant- 
wort." 

Der  ahnungslose  Nicky  ließ  sichs  nicht  träumen,  daß  sein  lang- 
bev/ährter  Freund  , .Willy"  um  diese  Zeit  bereits  die  Kriegserklä- 
rung an  ihn  abgesandt  und  damit  den  Krieg  eröffnet  hatte. 

137 


Die  Begründung  der  K  r  i  c  f^  s  e  r  k  I  ä  r  ü  n  g. 

Wilhelm  hatte  es  furchtbar  eilig  damit  gehabt,  ebenso  eilig,  wie 
am  25.  Juli  die  Österreicher  gegenüber  den  Serben. 

Um  12  Uhr  mittags  endete  die  Frist,  nach  deren  Ablauf,  zufolge 
der  Ankündigung  des  Reichskanzlers,  Deutschland  mobil  machen 
wollte,  wenn  Rußland  nicht  unverzüglich  nach  allen  Seiten  hin 
demobilisierte,  indes  Österreichs  allgemeine  Mobilisierung  fort- 
schritt  und  der  Krieg  gegen  Serbien  weiterging. 

Und  um  1  Uhr  schon  v/urde  nicht  die  Mobilisierung  angeordnet, 
sondern   die   Kriegserklärung  nach   Petersburg   gesandt 

Das  deutsche  Weißbuch,  das  sonst  alle  Dokumente  deutsch 
widergibt,  auch  die  in  fremden  Sprachen  abgefaßten,  z.  B.  den 
Telegrammwechsel  zwischen  dem  Kaiser  und  dem  Zaren,  veröffent- 
licht die  für  jeden  Deutschen  doch  so  wichtige  Kriegserklärung  an 
Rußland  schamhafterweise  nur  in  französischer  Sprache.  Sie  ist 
danach.    Deutsch  lautet  sie: 

„Von  Anfang  der  Krise  an  war  die  kaiserliche  Regierung  be- 
müht, sie  einer  friedlichen  Lösung  zuzuführen.  Einem  ihm  von 
S.  M.  dem  Kaifer  von  Rußland  ausgedrückten  Wunscli  zufolge, 
hatte  S.  M.  der  Deutsche  Kaiser  im  Einvernehmen  mit  England 
es  übernommen,  bei  den  Kabinetten  von  Wien  und  St.  Petersburg 
als  Vermittler  zu  wirken,  als  Rußland,  ohne  das  Ergebnis  abzu- 
warten, zur  Mobilmachung  aller  seiner  Land-  und  Seestreitkräfte 
schritt. 

Infolge  dieser  drohenden,  durch  keinerlei  militärische  Vor- 
bereitungen von  deutscher  Seite  begründeten  Maßnahmen  sali  sich 
das  Deutsche  Reich  einer  schiveren  und  unmittelbar  drohenden 
Gefahr  gegenüber.  Hätte  die  kaiserliche  Regierung  es  unterlassen, 
dieser  Gefahr  entgegenzutreten,  so  würde  sie  die  Sicherheit  und 
selbst  den  Bestand  Deutschlands  gefährdet  haben.  Infolgedessen 
hat  sich  die  deutsche  Regierung  gezwungen  gesellen,  sich  an  die 
Regierung  S.  M.  des  Kaisers  aller  Russen  mit  der  dringenden  For- 
derung zu  wenden,  die  bezeichneten  m.iliiärischen  Maßnahmen  ein- 
zustellen. Da  Rußland  sich  geweigert  hat,  dieser  Forderung  zu 
entsprechen  (es  nicht  für  notwendig  befunden  hat,  unsere  Forde- 
rung zu  beantworten),  und  durch  diese  Weigerung  (diese  Haltung) 
bekundet  hat,  daß  seine  Aktion  gegen  Deutschland  gerichtet  ist, 
habe  ich  die  Ehre,  im  Auftrage  meiner  Regierung  Eure  Exzellenz 
wissen  zu  lassen,  was  folgt: 

„Seine  Majestät,  mein  erhabener  Gebieter,  n  i  m  m  t  im  Namen 
des  Reiches  die  Herausforderung  an  und  betrachtet  sich 
ah  im  Kriegszustand  mit  Rußland  befindlich." 
13S 


Begleitet  wurde  diese  Kriegserklärung  von  folgendem  Telegramm 
an    Pourtales: 

„Falls  die  russische  Regierung  keine  befriedigende  Antwort  auf 
unsere  Forderung  erteilt,  so  wollen  Eiv.  Exzellenz  ihr  heute  nach- 
mittag 5  Uhr  (mitteleuropäische  Zeit)  folgende  Erklärung  über- 
reichen .  .  . 

In  der  Erklärung  selbst  wurde  ein  Satz  in  zwei  verschiedenen 
Fassungen  mitgeteilt  (die  eine  ist  in  der  obigen  Wiedergabe  in 
Klammem  angeführt),  von  denen  diejenige  gewählt  werden  sollte, 
die  der  Antwort  Sasonows  entsprach. 

Was  war  inzwischen  in  Petersburg  vorgegangen? 

Pourtales  hatte  die  Ankündigung  des  Reichskanzlers,  Deutsch- 
land müsse  mobilisieren,  wenn  Rußland  nicht  gegen  Deutsciiland 
und  Österreich  demobilisiere,  in  Petersburg  mitgeteilt.  Er  tele- 
graphierte darüber  aus  Petersburg,  1.  August,  1  Uhr  morgens: 

„Habe  Auftrag  soeben  Mitternacht  ausgeführt.  Herr  Sasonow 
verwies  wieder  auf  technische  Unmöglichkeii,  KriegsmaS nahmen 
einzustellen  und  versuchte  mich  von  neuem  davon  zu  überzeugen, 
daß  wir  Bedeutung  der  russischen  Mobilmachung,  die  mit  der 
unsrigsn  nicht  zu  vergleichen  sei,  überschätzten.  Er  bat  mich  drin- 
gend, Ew.  Exzellera  darauf  hinzuweisen,  daß  die  in  heutigem  Tele- 
gramm S.  M.  des  Kaisers  Nikolaus  an  S.  M.  den  Kaiser  und  König 
auf  Ehrenwort  übernommene  Verpflichtung  des  Zaren,  uns  über 
die  Absichten  Rußlands  beruhigen  müsse.  Ich  wies  darauf  hin, 
daß  der  Zar  sich  keineswegs  unter  allen  Umständen  verpflichte, 
von  kriegerischer  Aktion  abzusehen,  sondern  nur  so  lange,  als 
noch  Aussicht  bestehe,  die  russisch-österreichische  Differenz  wegen 
Serbiens  beizulegen.  Ich  legte  dem  Minister  direkt  die  Frage  vor, 
ob  er  mir  garantieren  kann,  daß  Rußland  auch,  falls  eine  Eini- 
gung mit  Österreich  nicht  erfolge,  gewillt  sei,  Frieden  zu  halten. 
Der  Minister  vermochte  mir  auf  diese  Frage  keine  bejahende  Ant- 
wort zu  erteilen.  In  diesem  Falle,  entgegnete  ich,  könne  man  es 
uns  nicht  verdenken,  daß  wir  nicht  gesonnen  seien,  Rußland 
weiteren  Vorsprung  in  der  Mobilmachung  zu 
lasse  n." 

Das  ist  alles.  Auch  bei  diesem  Gespräch  fehlt  selbst  der  leiseste 
Hinweis  auf  den  Frankreich  gegenüber  so  schroff  betonten  Grund- 
satz, daß  die  Mobilisierung  Deutschlands  gleichbedeutend  sei  mit 
einer  Kriegserklärung.  Und  nun  das  entscheidende  Telegramm 
Pourtales,  das  seinen  Adressaten,  das  Auswärtige  Amt  in  Berlin, 
nicht  mehr  erreichte,  abgegangen  in  Petersburg  am  1.  August, 
8  Uhr  abends. 

139 


„Ich  heb?  nach  Entzifferung  vm  7  Uhr  russischer  Zeit  (6  Uhr 
mitteleuropäischer,  K.)  Herrn  Sasonow  dreimal  hintereinander  ge- 
fragt,  ob  er  mir  die  im  Telegramm  Nr.  153  verlangte  Erltlärung  be- 
treffend Einstellung  der  Kriegsmaßnahmen  gegen  uns  und  Öster- 
reich geben  liönne.  Nach  dreimaliger  Verneinung  dieser  Frage 
habe  ich  befohlene  Note  übergeben." 

So  eilig  hatte  es  Herr  von  Pourtales  mit  deren  Überreichung,  daß 
er  gar  nicht  merkte,  sie  enthalte  eine  doppelte  Fassung,  des  Grun- 
des, aus  dem  Deutschland  den  Krieg  erklärte.  Beide  Fassungen 
wurden  der  russischen  Regierung  übergeben,  wohl  ein  Unikum  bei 
einer  Kriegserklärung, 

Indessen  dürfte  dem  Reichskanzler  etv/as  schv/ül  geworden  sein 
bei  dieser  Art,  den  Krieg  zu  entfesseln. 

Schon  die  Fassung  des  letzten  Satzes  der  Proklamierung  des 
Krieges   hatte    Schwierigkeiten    gemacht. 

Ein  Vorschlag  war  dahin  gegangen  zu  sagen: 

„S.  M.  l'Ew.pereur,  mon  auguste  Souverain  au  nom  de  l'Empire 
declare  accepter  la  guerre,  qui  Lui  est  octroyee."  fS.  M.  der  Kaiser, 
mein  erhabener  Gebieter,  erklärt  im  Namen  des  Reiches,  den  Krieg 
aufzunehmen,  der  ihm  aufgezwungen  ist.) 

Das  war  schlechtes  Französisch,  denn  oktroyieren  heißt  nur  im 
deutschen  Sprachgebrauch  „aufzwingen",  im  französischen  heißt  es 
.gewähren'   oder   .bewilligen'. 

Vielleicht  aus  diesem  Grunde  setzte  man  an  Stelle  des  , octroyee* 
»forcee  sur  lui',  was  in  besserem  Französisch  .aufgezwungen'  sagte. 

Aber  die  Schwierigkeit  lag  nicht  in  den  Worten,  sondern  in  der 
Sache.  Man  fühlte,  daß  man  nach  dem  ganzen  Vorgang  den 
Krieg  unmöglich  als  einen  aufgezwungenen  bezeichnen  könne.  Erst 
später,  als  die  nötige  Hurrastimmung  erzeugt  v/ar,  fand  man  den 
Mut  dazu.  So  v/ählte  m.an  die  oben  mitgeteilte  verzwickte  Form 
(S.  M,  l'Empereur,  mon  auguste  Souverain,  au  nom  de  l'Empire 
releve  le  defi  et  Se  considere  en  6tat  de  guerre  avec  la  Russie,") 

Aus  dem  ,Aufzwingen  des  Krieges'  wurde  eine  bloße  .Herausfor- 
derung zum  Krieg',  den  der  Kaiser  als  ausgebrochen  .betrachtet'. 

In  dieser  schwächlichen  und  verschrobenen  Form  wurde  die  Er- 
klärung des  furchtbarsten  aller  Kriege  begründet,  der  nur  durch 
die  zwingendsten  Motive  zu  rechtfertigen  gewesen  v/äre.  Aber  die 
waren  nicht  aufzutreiben,  obwohl  seit  dem  Beginn  der  Krise  Beth- 
manns  dringendste  Sorge  die  gewesen  war.  Rußland  ins  Unrecht 
zu  setzen  und  ihm  die  ganze  Verantwortung  für  den  kommenden 
Krieg  zuzuschieben. 

14Ü 


Als  nun  gar  das  Telegramm  des  Zaren  kam,  das  die  Berechti- 
gung der  deutschen  Mobilisierung  anerkannte,  aber  die  Notwendig- 
keit bestritt,  daß  sie  Krieg  zu  bedeuten  hätte,  muß  den  Herren  vom 
Auswärtigen  Amt  ihre  Kriegserklärung  doppelt  ungerechtfertigt  er- 
schienen sein,  sonst  wäre  nicht  zu  begreifen,  daß  sie  hinterdrein 
noch  den  Versuch  machten,  die  Verkündung  der  Mobilisierung  zu 
hindern,  die  noch  nicht  ausgesprochen  war.  Das  gelang  ihnen 
nicht,  um  5  Uhr  wurde  sie  befohlen.  Noch  immer  beruhigte  sich 
der  , Zivilkanzler'  nicht.  Wir  haben  schon  die  Mitteilung  ,Junius 
alters'  zitiert,  daß  ,nach  erfolgter  Mobilmachung  Herr  von  Beth- 
mann  Hollweg  noch  einen  letzten  Versuch  machte,  die  Zurücl<- 
nahme  des  Befehls  zu  erwirken;  aber  es  war  glücklicherweise  zu 
spät'. 

Das  bezieht  sich  wohl  auf  folgendes;  Obwohl  um  1  Uhr  nach- 
mittags schon  die  Kriegserklärung  nach  Petersburg  gesandt  worden 
war,  legte  der  Kanzler  noch  um  9,45  abends  dem  Kaiser  ein  Tele- 
gramm an  den  Zaren  vor,  in  dem  nochmals  Verhandlungen  ange- 
bahnt wurden,  und  „Willy",  wie  Wilhelm  auch  jetzt  noch  unter- 
zeichnet, erklärt: 

„eine  sofortige  klare  und  unmißverständliche  Antwort  Deiner 
(Nickys)  Regierung  ist  der  einzige  Weg,  um  endloses  Elend  zu 
vermeiden  .  .  .  Ich  muß  auf  dos  ernsteste  von  Dir  verlangen, 
daß  Du  unverzüglich  Deinen  Truppen  den  Befehl  gibst,  unter  keinen 
Umständen  auch  nur  die  leisteste  Verletzung  unserer  Grenzen  zu 
begehen." 

Dieses  Telegramm,  zum  Haupttelegraphenamt  gegeben  um  10,30 
abends,  neun  Stunden  nach  Absendung  der  Kriegserklärung,  ist 
wohl  eine  der  absonderlichsten  Episoden  in  der  entsetzlichen 
Komödie  der  Irrungen  und  Wirrungen  des  1,  August,  Es  erregte 
auch  das  lebhafteste  Befremden  in  Petersburg.  Pourtales  berichtet 
darüber  noch  von  'dort,  drei  Stunden  vor  seiner  Abreise  nach  Stock- 
holm: 

„Soeben  fragt  Herr  Sasonow  telephonisch  bei  mir  an,  wie  fol- 
gendes zu  erklären  sei:  S.  M.  der  Kaiser  von  Rußland  habe  vor 
einigen  Stunden  ein  Telegramm  unseres  Aller  gnädigsten  Herrn  er- 
halten, welches  von  10  Uhr  45  Minuten  abends  datiert  und  in 
dessen  Schlußsatz  die  Bitte  ausgesprochen  sei,  Kaiser  Nikolaus 
möge  seinen  Truppen  befehlen,  in  keinem  Falle  die  Grenze  zu 
überschreiten.  Herr  Sasonow  fragt,  wie  ich  mir  eine  solche  Bitte 
erkläre,  nachdem  ich  gestern  abends  bekannte  Note  (Kriegser- 
klärung, K.)  übergeben  hätte.  Ich  habe  geantwortet,  ich  könnte 
keine  andere  Erklärung   finden,  als  daß  ivahrscheinlich  das  Tele- 

141 


gramm    meines    Kaisers     schon    vorgestern    abend    10    Uhr 
45  Minuten  aufgegeben  sei." 

In  der  Tat  war  das  Telegramm  vom  1.  August  abends  10,45  im- 
erklärlich.  Die  einzige  richtige  Erklärung  kam  dem  deutschen 
Botschafter  natürlich  nicht  in  den  Sinn,  imd  wenn  sie  ihm  ein- 
gefallen wäre,  hätte  er  sich  gehütet  sie  kundzutun:  die,  daß  sein 
.ailergnädigster  Herr'  mitsamt  seinen  Ratgebern 
sämtlich   den  Kopf  verloren  hatten. 

Die  Eröffnung  des  Krieges  durch  Rußland, 

Da  Wilhelm  und  seine  Leute  keine  Möglichkeit  mehr  hatten,  das 
Unheil  rückgängig  zu  machen,  das  sie  angerichtet,  denn,  wie  der 
deutsche  Patriot  Junius  alter  triumphierend  bemerkt:  ,Es  war 
glücklicherv/eise  zu  spät'  —  und  ihnen  die  eigene  Motivierung  der 
Kriegserklärung  selbst  völlig  unzulänglich  erscheinen  mußte,  sahen 
sie  sich  nach  einem  Vorwand  um,  Rußland  zum  Urheber  des  Welt- 
krieges zu  machen.  Dieses  Kunststück  wurde  vollbracht  in  der 
Denkschrift,  die  der  Reichskanzler  am  3,  August  dem  Reichstag 
vorlegte.  Hier  wird  nur  so  nebenbei  berichtet,  daß  Deutschland 
erklärte,  wenn  seiner  Forderung  auf  Demobilisierung  nicht  genügt 
werde,  betrachte  es  sich  ,als  im  Kriegszustand  befindlich'  und  dann 
fortgefahren: 

„Ehe  jedoch  eine  Meldung  über  die  Ausführung  dieses  Auftrages 
einlief,  überschritten  russische  Truppen,  und  zwar  schon  am  Nach- 
mittag des  1.  August,  also  desselben  Nachmittags,  an  dem  das  oben 
erwähnte  Telegramm  des  Zaren  abgesandt  war,  unsere  Grenzen 
und  rückten  auf  deutschem  Gebiete  vor. 

„H  ier  mi  t  hat  Rußland  den  Krieg  gegen  uns  be- 
gönne n". 

Von  allen  staunen sv/erten  Argiunenten,  die  das  deutsche  Aus- 
wärtige Amt  damals  zur  Rechtfertigung  des  Krieges  vorbrachte, 
ist  dieses  wohl  das  staunenswerteste.  Man  denke!  Die  deutsche 
Regierung  erteilt  ihrem  Botschafter  in  Petersburg  den  Auftrag,  tun 
5  Uhr  Rußland  den  Krieg  zu  erklären.  Am  „Nachmittag"  des 
gleichen  Tages  überschreiten  russische  Truppen  die  deutsche 
Grenze,  also,  schließt  dieselbe  Regierung,  hat  Rußland  den  Krieg 
begonnen,  denn  —  das  geschah  zu  einer  Zeit,  als  in  Berlin  noch 
keine  Meldung  über  die  in  Petersburg  ausgesprochene  Kriegser- 
klärimg vorlag! 

Danach  wird  eine  Kriegserklärung  nicht  von  dem  Moment  an 
wirksam,  in  dem  sie  ausgesprochen  ist,  sondern  erst  von  dem 
Moment  an,  wo  der  den  Krieg  Erklärende  davon  imterrichtet  ist, 
daß  der  andere  Teil  die  Erklärung  empfangen  hat. 

14£ 


Haben  aber  •  ielleicht  die  Russen  die  Grenrce  vor  6  Uiir  über- 
schritten, vor  der  Zeit,  zu  der  die  Kriegserklärunj^  in  Petersburg 
tatsächlich  ausgesprochen  v/urde?  Die  deutsche  Denkschrift  vrjll 
das  glauben  machen,  wenn  sie  sagt,  daß  die  Grenzverletzung  „schon 
am  Nachmittag"  stattfand. 

Für  die  Entscheidung,  ob  v/irklich  Rußland  den  Krieg  begormen, 
■wäre  es  von  äußerster  Wichtigkeit,  die  Details  der  Grenzverletzung 
genau  zu  wissen.  Wenn  etwa  irgendwo  zwei  oder  drei  Kosaken 
eigenmächtig  die  Grenze  überschritten,  so  war  das  noch  kein  Vor- 
fall, der  berechtigte,  von  einem  Beginn  des  Krieges  durch  „Ruß- 
land" zu  sprechen.  Derartige  Zwischenfälle  kornuicn  auch  im  Frie- 
den vor. 

Wie  man  solche  Vorkommnisse  behandelt,  zeigt  z,  B.  eine  nach 
Berlin  gerichtete  Note  Vivianis  vom  2.  August,  in  der  Protest  er- 
hoben wird  gegen  Grenzverletzungen,  die  von  deutschen  Truppen 
an  verschiedenen  Stellen  der  französischen  Grenzen  verübt  worden 
sein  sollen.  Es  wurden  genau  die  Ortschaften  und  die  Truppen 
angegeben,  die  in  Frage  kamen.  Es  fiel  Viviani  nicht  ein,  gleich 
mehr  als  einen  Protest  auszusprechen  und  zu  erklären,  „Deutsch- 
land  habe  den  Krieg   gegen   F'rankreich  begonnen," 

Doch  es  scheint,  daß  am  1,  August  an  der  russischsn  Grenze 
nicht  einmal  so  geringfügige  Grenzverletzungen  vorgekommen  sind, 
wenigstens  nicht  vor  der  Abgabe  der  Kriegserklärung, 

Die  deutsche  Denkschrift  spricht  vom  „Nachmittag",  legt  auf  diese 
Zeitbestimmung  besonderen  Wert,  der  in  auffälligem  Gegensatz  zu 
ihrer  Unbestimmtheit  steht.  Bei  der  Wichtigkeit  der  Sache  wäre 
es  doch  geboten  gewesen,  genau  die  Stunde  der  Grenzver- 
letzung zu  nennen. 

Daß  es  aber,  wenn  wirklich  die  deutsche  Grenze  am  1.  August 
von  russischen  Truppen  überschritten  wurde,  dies  nicht  am  frühen 
Nachmittag  geschehen  sein  konnte,  erhellt  schon  daraus,  daß  am 
Abend  um  9,45  der  Reichskanzler  dem  Kaiser  noch  ein  Tele- 
gramm an  den  Zaren  vorlegte,  in  dem  dieser  aufgefordert  wird, 
seinen  Truppen  den  Befehl  zu  geben,  jede  Grenzverletzung  zu 
meiden.  Diese  Depesche  v/urde  vom  Auswärtigen  Amt  wie  oben 
gezeigt,  nach  zehn  Uhr  befördert.  Um  diese  Zeit  kann  es  also 
noch  keine  Nachricht  über  eine  Grenzüberschreitung  gehabt  haben, 
sonst  wäre  das  Telegramm  noch  gegenstandsloser  gewesen,  als  es 
durch  die  erfolgte  Kriegserklärung  ohnehin  war. 

In  der  Tat  erhielt  Wilhelm  die  ersten  Nachrichten  über  russische 
Gren.?.überschrcitungen  am  Vormittag  des  2,  August,  Da  teilt  ihm 
Bethmann  mit: 

143 


„Nach  Meldung  Generahtabs  (heut  4  Uhr  a.  mj  Bahnzersförungs- 
versuch  und  Vormarsch  zwei  Schwadronen  Kosaken  auf  Johannis- 
bürg.     Dadurch  tatsächlicher  Kriegszustand." 

Hier  endlich  wird  Ort  und  Zeit  genannt.  Und  da  stellt  sichs 
heraus,  daß  der  „M  a  c  h  m  i  1 1  a  g  des  1,  August"  in  Wirklichkeit 
der  „M  o  r  g  e  n  des  2,  August"  war.  Die  russischen  Feindselig- 
keiten begannen  etwa  zehn  Stunden  nach  der  Übergabe  der  deut- 
schen Kriegserklärung  in  Petersburg,  In  dieser  Weise  hat  „Ruß- 
land den  Krieg  gegen  uns  begonnen". 

Wenn  die  deutsche  Regierung  trotzdem  diesen  Feindseligkeiten 
die  entscheidende  Rolle  für  den  Ausbruch  des  Krieges  beilegt,  be- 
zeugt sie  damit  nur,  wie  wenig  begründet  ihre  Kriegserklärung 
den  deutschen  Staatsmännern  selbst  erschien. 

In  der  mehrfach  erwähnten  Denkschrift  der  deutschen  Regierung 
zum  3.  August  ist  sie  auch  so  viel  als  möglich  in  den  Hintergrund 
gedrängt.  Deren  Darstellung  ist  ein  Muster  irreführender  Bericht- 
erstattung. 

Sie  sagt: 

„Der  kaiserliche  Botschafter  in  Petersburg  hat  die  ihm  aul- 
getragene Mitteilung  an  Herrn  Sasonow  cm  31.  Juli  um  12  Uhr 
nachts  gemacht. 

Eine  Antwort  der  russischen  Regierung  hierauf  hat  uns  nie  er- 
reicht. 

Zwei  Stunden  nach  Ablauf  der  in  dieser  Mitteilung  gestellten 
Frist  hat  der  Zar  an  Seine  Majestät  den  Kaiser  telegraphiert.'  — 

Nun  kommt  das  schon  zitierte  Telegramm. 

Eine  vollständige  Geschichtsdarstellung  hätte  natürlich  bemerken 
müssen,  daß  vor  dem  Zarentelegramm  und  eine  Stunde  nach 
Ablauf  der  gestellten  Frist  die  Kriegserklärung  nach 
Petersburg  geschickt  wurde.  Diese  wird  jedoch  an  dieser  Stelle 
mit  keinem  Worte  erwähnt.  Eine  so  unbedeutende  Kleinigkeit 
kann  man  offenbar  leicht  übersehen.  Wirklich  ein  Wunder,  daß 
sie  in  der  Anlage  als  Nr.  25  abgedruckt  ist.  Ganz  aus  der  Welt 
ließ    sie  sich   eben   leider  nicht   mehr   schaffen. 

Nach  dem  Abdruck  des  Telegramms  des  Zaren,  das  nach  2  Uhr 
ankam,  heißt  es  in  der  Denkschrift  weiter: 

„H  ierauf  hat  Seine  Majestät  geantwortet." 

Und  nun  wird  Wilhelms  Telegramm  abgedruckt.  Aber  wahrend 
bei  allen  Telegrammen  des  Kaisers  an  den  Zaren  in  der  Denk- 
schrift genau  die  Stunde  der  Absendung  verzeichnet  ^vird,  fehlt 
sie  bei  diesem  einen.     Kein  Leser  ahnt,  daß  das  „hierauf" 

144 


nicht  „sofort"  bedeutet,  sondern  8  Stunden  später,  10  Uhr.  Jeder 
muß  glauben,  das  Telegramm  sei  vor  5  Uhr  expediert  worden. 
Denn  nach  seinem  Abdruck  fährt  die  Denkschrift  fort: 

„Da  die  Rußland  gestellte  Frist  verstrichen  war,  ohne  daß  eine 
'Antwort  auf  unsere  Anfrage  eingegangen  wäre,  hat  Seine  Maje- 
stät der  Kaiser  und  König  am  1.  August,  um  5  Uhr  p.  m.  die 
Mobilmachung  des  gesamten  deutschen  Heeres  und  der  Kaiser- 
lichen Marine  befolilen. 

Der  Kaiserliche  Botschafter  in  Petersburg  hafte  in- 
zwischen  (!!  K.)  den  Auftrag  erhalten,  falls  die  russische  Re- 
gierung innerhalb  der  ihr  gestellten  Frist  keine  befriedigende  Ant- 
wort erteilen  würde,  ihr  zu  erJzlären,  daß  loir  nach  Ablehnung 
unserer  Forderung  uns  als  im  Kriegszustand  befindlich  betrachten 
würden." 

Das  nun  im  Text  der  Denkschrift  folgende  haben  wir  bereits 
oben  abgedruckt. 

Das  .inzwischen'  in  dieser  Darstellung  ist  sicher  kostlich.  Ein 
Muster  präziser  Zeitangabe.  Es  ist  würdig  der  Aufeinanderfolge, 
in  der   die  Ereignisse  dargestellt  werden.     Es  war 

die  wirkliche  Zeitfolge  die  Aufeinanderfolge  in  der  Denk- 

schrift: 

1  Uhr  Absendung  der  Kriegs-     2  Uhr  Zarentelegramm, 

erklärung,  ohne    jede    Zeitangabe:    Kaiser- 

2  Uhr  Zarentelegramm,  telegramm, 

5  Uhr  Mobilmachung,  5  Uhr  Mobilmachung, 

10  Uhr  Kaisertelegramm  an  Zaren,  ohne  Zeitangabe:  Absendung  dei 

Kriegserklärung, 

Die  chronologisch«  Verwirrung  in  der  Denkschrift  war  eben  un- 
erläßlich, wollte  sie  den  Leser  zu  dem  Schlüsse  bringen,  zu  dem  sie 
kam  und  der  seitdem  das  öffentliche  Leben  Deutschlands  bis  zum 
Weißbuch  vom  Juni  1919  beherrscht: 

Rußland    hat    den   Krieg   gegen   uns   begonnen. 

In  Wirklichkeit  war  es  anders.  Deutschland  hat  den  Krieg  gegen 
Rußland  begonnen.  Die  Darstellung  des  Kriegsbeginns  durch  die 
deutsche  Regierung  stellt  die  Dinge  auf  den  Kopf. 

18,  Die  Kriegserklärungr  an  Frankreich. 

Frankreichs  Neutralisierung. 
Nach  dem  Ausbruch  des  Krieges  zwischen  Deutschland  und  Ruß- 
land mußte  der  Deutschlands  mit  Frankreich  automatisch  folgen. 
Die  Franzosen  zuerst  zu  erledigen,  um  dann  mit  den  Russen  abzu- 

145 

10 


rechnen,  war  der  deutsche  Kriegsplan-  Den  deutschen  Armeen 
schleunigst  den  Beginn  ihrer  Aktionen  gegen  Franlcreich  zu  er- 
möglichen, also  raschest  die  Kriegserklärung  im  Westen  herbei- 
zuführen, war  die  Aufgabe,  die  der  Generalstab  dem  Ausv/ärtigen 
Amt  stellte.  Zu  diesem  Zwecke  hatte  dieses  am  31.  Juli  gleichzeitig 
mit  der  Ankündigung  der  Mobilmachung,  die  in  Petersburg  über- 
mittelt wurde,  nach  Paris  eine  fast  gleichlautende  Note  gesandt, 
deren  Ton  aber  viel  drohender  war,  wie  wir  gesehen,  da  sie  direkt 
sagte:  ,,Die  Mobilmachung  bedeutet  unvermeidlich  Krieg", 
und  die  von  der  französischen  Regierung  kategorisch  forderte,  sie 
solle  erklären,  ob  sie  in  einem  deutsch-russischen  Kriege  neutral 
bleiben  wolle.     Antwort  binnen  18  Stunden. 

Die  Absicht  war  klar:  indem  man  Frankreich  diese  Frage  stellt, 
wollte  man  es  zwingen,  sofort  zu  erklären,  daß  es  auf  Rußlands 
Seite  stehe:  damit  wäre  der  Krieg  ohne  weiteres  gegeben  gewesen 
und  schon  am  2.  August  hätte  die  Aktion  gegen  Frankreich  be- 
ginnen können. 

Vertrauensvolle  deutsche  Untertanen  haben  indes  auch  in  dieser 
Aktion  der  deutschen  Regierung  einen  Beweis  ihrer  Friedens- 
liebe gesehen. 

Dr.  David  z.  B.  meinte: 

„Die  deutsche  Regierung  unternahm  den  Versuch,  den  Brand 
wenigstens  auf  den  Osten  zu  beschränken.  Das  ist  kein  klei- 
ner Faktor  auf  ihrem  Verdienstkon  fo.  Er  war  ernst- 
lich gemeint.  Darüber  konnte  k  e  in  Zweifel  bestehe  n." 
(„Die  Sozialdemokratie  im  Weltkriege",  S.  80.) 

Ein  Mann,  der  weniger  vertrauensvoll  der  deutschen  Regierung 
gegenüberstand,  hätte  wohl  seine  Zweifel  hegen  dürfen,  ob  die 
Form  des  Ultimatums,  die  Deutschland  in  dem  oben  abgedruckten 
Telegramm  nach  Paris  mit  der  Forderung  sandte,  sofort  über  die 
Neutralität  Auskunft  zu  geben,  diejenige  v/ar,  die  jemand  gewählt 
hätte,  der  wirklich  diese  Neutralität  v/ünschte.  Aber  selbst  dem 
Vertrauensseligsien  muß  jeder  Zweifel  schwänden,  wenn  ilun  kund 
v/ird,  daß  jenes  Telegram.m  an  Schön  noch  eine  Nachschrift  hatte, 
die  die  deutsche  Regierung  wohlweislich  nicht  veröffentlichte,  viel- 
mehr mit  der  Bemerkung  ,, Geheim"  versah.  Es  lag  nicht  an  ihr, 
v/enn  diese  Nachschrift  nach  geraumer  Zeit  mitten  im  Kriege  der 
französischen  Regierung  doch  bekannt  wurde.     Sie  lautete: 

„Wenn,  wie  nicht  anzunehmen,  französische  Regierung 
erklärt,  neutral  zu  bleiben,  wollen  Ew.  Exzellenz  französischer 
Regierung  erklären,  daS  wir  als  P  f  a  n  d     für     Neutralität 


überlas  T,un^  der  Festungen  T  oul  und  V  c  r  d  u  n 
fordern  müssen,  die  wir  besetzen  und  nach  Beendigung  des 
Krieges  mit  Rußland  zurückgeben  würden.  Antwort  auf  letztere 
Frage  müßte  bis  morgen  (1.  August,  K.)  nachmittag  4  Uhr,  hier 
sein.  V.  Bethmann  Hollweg. 

Daß  ikeine  französische  Regierung,  und  wäre  sie  die  friedfertigste 
eines  Jaures  gowesen,  diese  Forderung  bewilligen  konnte,  daß  die 
Anfrage  wegen  der  Neutralität  also  nicht  den  Zweck  hatte,  „den 
Brand  auf  den  Osten  zu  beschränken",  sondern  Frankreich  sofort 
zum  Kriege  zu  zwingen,  liegt  klar  auf  der  Hand, 

Um  4  Uhr  nachmittags  am  1.  August  erwartete  man,  bereits 
im  Besitze  des  Kriegsgrundes  gegen  Frankreich  zu  sein,  um  5  Uhr- 
sollte  die  Kriegserklärung  an  Rußland  überreicht  werden.  So  hoffte 
man,  gleichzeitig  den  Krieg  an  beiden  Fronten  eröffnen  zu  können, 
und  der  gegen  FranJcreich  erschien  dem  Generalstab  noch  drin- 
gender als  der  gegen  Rußland.  Am  4.  August  erklärte  Jagow  dem 
belgischen  Gesandten  Baron  Beyens: 

„Um  nicht  vernichtet  zu  werden,  muß  Deutschland  zuerst 
Frankreich  vernichten  und  dann  sich  gegen  Rußland 
we-iden.' 

Da  wirkte  es  sehr  störenid,  daß  die  Antwort,  die  Frankreich  gab, 
eine  ganz  xmerwarLete  war.  Viviani  lehnte  nicht  die  Neutralität  ab, 
■wie  Bethmann  Hollweg  voraussetzte,  er  versprach  sie  aber  auch 
nicht,  gab  also  keine  Gelegenheit,  mit  der  Forderung  auf  Ausliefe- 
rung von  Toul  und  Verdun  herauszurücken,  sondern  Schön  mußte 
am  1.  August  telegraphieren: 

„Auf  meine  wiederholte  bestimmte  Frage,  oh  Frankreich  im 
Falle  eines  deutsch-russischen  Krieges  neutral  bloihe,  erklärte  der 
Ministerpräsident  mir,  daß  Frankreich  das  tun  werde,  was  seine 
Interessen  ihm  geböten." 

Für  diese  Antwort  hatte  Schön  keine  Instruktionen.  Auch  dem 
Auswärtigen  Amt  fiel  es  nicht  leicht,  sich  durch  sie  zum  „Kriege 
gezwungen",  von  Frankreich  „angefallen"  zu  erklären,  was  doch 
notwendig  war,  wollte  man  sich  eine  günstige  moralische  Atmo- 
sphäre für  den  Krieg  schaffen. 

Gleich  nach  dem  Einlangen  der  Schönschen  Antwort  machte  man 
sich  im  Auswärtigen  Amt  daran,  eine  Kriegserklärung  auszuarbei- 
ten, und  brachte  folgendes,  noch  vom  1.  August  datiertes  Doku- 
ment zustande: 

„Die  deutsche  Regierung  ist  von  Beginn  der  Krisis  an  um  einen 
friedlichen  Ausgleich   bemüht  gewesen.     Aber    während    sie    auf 

147 

1    0» 


Wunsch  S.  M.  des  Kaisers  von  Rußland  und  in  Fühlung  mit  Eng- 
land noch  zwischen  Wien  und  St.  Petersbu7-g  vermittelte,  hat  Ruß' 
land  sein  gesamtes  Heer  und  seine  Flotte  mobilisiert.  Durch  diese 
Maßregel,  der  keine  außerordentlichen  Kriegsvorbereitungen  in 
Deutschland  vorangegangen  waren,  ist  das  Deutsche  Reich  in  seiner 
Sicherheit  bedroht  worden.  Einer  solchen  Gefahr  nicht  entgegen- 
treten, hieße  um  die  Existenz  des  Reiches  spielen.  Die  deutsche 
Regierung  hat  daher  die  russische  Regierung  zur  sofortigen  Ein- 
stellung der  Mobilmachung  gegen  Deutschland  und  seinen  Verbün- 
deten aufgefordert.  Gleichzeitig  hat  die  deutsche  Regierung  die 
Regierung  der  französischen  Republik  hiervon  in  Kenntnis  gesetzt 
und  sie  in  Anbetracht  der  bekannten  Beziehungen  der  Republik  zu 
Rußland  um  eine  Erklärung  darüber  ersucht,  ob  Frankreich  in 
einem  russisch-deutschen  Kriege  neutral  bleiben  will.  Hierauf  hat 
die  französische  Regierung  zweideutige  und  ausweichende  Ant- 
wort gegeben,  Frankreich  werde  das  tun,  was  seine  Interessen  ge- 
böten. Mit  dieser  Antwort  behält  sich  Frankreich  vor,  sich  auf 
Seiten  unserer  Gegner  zu  stellen,  und  es  ist  in  der  Lage,  uns  jeden 
Augenblick  mit  seiner  inzwischen  mobilisierten  Armee  in  den 
Rücken  zu  fallen.  Deutschland  muß  in  diesem  Verhalten  um  so 
mehr  eine  Bedrohung  erblicken,  als  auf  die  an  Rußland  gerichtete 
Aufforderung,  die  Mobilisierung  seiner  Streitkräfte  einzustellen, 
nach  längst  verstrichener  Frist  keine  Antwort  eingegangen  und 
daher  ein  russisch-deutscher  Krieg  ausgebrochen  ist.  Deutschland 
kann  die  Wahl  des  Zeitpunktes,  in  dem  die  Bedrohung  seiner  west- 
lichen Grenze  zur  Tat  wird,  nicht  Frankreich  überlassen,  sondern 
muß,  von  zwei  Seiten  bedroht,  sofort  seine  Verteidigung  ins  Werk 
setzen. 

Hiernach  bin  ich  beauftragt,  Ew.  Exzellenz  folgendes  zu  er- 
öffnen: S.  M.  der  Deutsche  Kaiser  erklärt  im  Namen  des  Reichs, 
daß  Deutschland  sich  als  im  Kriegszustand  mit  Frankreich  be- 
findlich erklärt." 

Diese  Kriegserklärung  wurde  nicht  abgeschickt.  Die  Gründe  da- 
für sind  nicht  verzeichnet.  Man  scheute  wohl  davor  zurück,  der 
unzureichend  begründeten  Kriegserklärung  an  Rußland  eine  zweite 
gleichen  Kalibers  an  Frankreich  nachzusenden.  Mit  welcher  Ver- 
legenheit man  der  eben  ausgesprochenen  Kriegserklärung  an  Ruß- 
land gegenüberstand,  bezeugt  schon  der  Umstand,  daß  man  sie 
auch  in  dem  in  Rede  stehenden  Schriftstück  gar  nicht  zu  erwähnen 
wagt,  sondern  einfach  einen  „russisch-deutschen  Krieg  ausge- 
brochen"  sein   läßt,   als   wäre   das   ein   Elementarereignis   wie   ein 

148 


Vulkar.ausbruc^,  unabhängig  von  allen  menschlichen  Entschließun- 
gen, Von  der  Triftigkeit  der  an  Rußland  ergangenen  Kriegserklä- 
rung hing  aber  die  Frankreich  gegenüber  ausgesprochene  ah.  War 
Deutschland  von  Rußland  angegriffen,  dann  mußte  es  sich  dagegen 
schützen,  daß  es  nicht  auch  von  Frankreich  nach  Belieben  ange- 
fallen wurde.  War  die  deutsche  Regierung  dem  russischen  Reich 
gegenüber  der  Angreifer,  dann  wurde  sie  der  Angreifer  auch  gegen- 
über Frankreich,  sobald  sie  diesem  bloß  aus  dem  Grunde  den  Krieg 
erklärte,  weil  es  das  tun  wollte,  was  seine  Interessen  geböten. 

Zu  diesen  Erwägungen  mochte  sich  vielleicht  auch  noch  die  ge- 
sellen, daß  man  aus  dem  gleichen  Grunde,  wie  Frankreich,  auch 
England  und  Italien  gegenüber  hätte  den  Krieg  erklären  können. 
Auch  deren  Neutralität  stand  nicht  fest,  auch  sie  konnten  mit 
ihren  inzwischen  mobilisierten  Armeen  und  Flotten  den  verbündeten 
Zentralmächtcn  „jeden  Augenblick  in  den  Rücken  fallen."  Es 
wäre  doch  gefährlich  gewesen,  dieses  Motiv  als  ausreichenden 
Grund  für  eine  Kriegserklärung  gerade  in  den  Moment  auszu- 
sprechen, in  dem  man,  in  anderer  Weise  als  Frankreich  gegen- 
über, die  Neutralität  oder  die  Bundesgenossenschaft  der  beiden 
genannten  Mächte   zu   erlangen   trachtete. 

Auf  keinen  Fall  konnte  man  behaupten,  daß  durch  die  franzö- 
sische Erklärung  allein  schon  Deutschland  angegrif f ori,  zum  Krieg 
gezwungen  worden  sei.     Und  das  wollte  man  doch  der  Welt  einreden. 

Aber  welche  Gründe  immer  maßgebend  gewesen  sein  mögen,  das 
Dokument  nicht  abzusenden,  der  Verzicht  darauf  beweist  jeden- 
falls, daß  man  zur  Überzeugung  kam,  die  Antwort  Frankreichs,  es 
werde  sich  nur  von  seinen  Interessen  leiten  lassen,  biete  keinen 
ausreichenden   Grund  für  eine  Kriegserklärung, 

Die  Kriegserklärung  brauchte  man  aber  dringend,  nachdem  der 
Krieg  mit  Rußland  schon  im  Gange  war.  In  der  Verlegenheit  griff 
man  schließlich  zu  demselben  Mittel,  zu  dem  man,  nachdem  man 
Rußland  den  Krieg  erklärt,  seine  Zuflucht  nahm,  um  zu  beweisen, 
daß  es  den  Frieden  gebrochen;  man  berief  sich  auf  kriegerische 
Aktionen,  mit  denen  der  Gegner  angefangen  habe. 
Die   mysteriösen    Flieger. 

Die  schon  mehrfach  erwähnte  Denkschrift  der  deutschen  Regie- 
rung vom  3.  August  wurde,  wie  sie  vermerkt,  abgeschlossen  am 
2.  August  mittags.  Die  Kriegserklärung  überreichte  der  deutsche 
Botschafter  dem  französischen  Ministerpräsidenten  am  3.  August 
um  6  Uhr  45  Minuten  abends.  Die  Denkschrift  wußte  aber  schon 
zu  melden: 

149 


„Am  Morgen  des  nächsten  Tages  (2.  August)  eröffnete  Frcnfi- 
reich  die  Feindseligkeilen." 
^Welcher  Art  waren  diese? 

Die  Kriegserklärung  vom  3.  August  zählt  sie  auf: 

„Französische  Truppen  haben  schon  gestern  bei  Alfmänsterol 
und  auf  Gebirgsstraßen  in  den  Vogesen  deutsche  Grenze  über- 
schritten und  stehen  noch  auf  deutschem  Gebiet.  Französischer 
Flieger,  der  belgisches  Gebiet  überflogen  haben  muß,  wurde  bei 
Versuch,  Eisenbahn  bei  V/esel  zu  zerstören,  schon  gestern  herab' 
geschossen.  Mehrere  andere  französische  Flugzeuge  sind  gestern 
über  Eifelgebiet  zweifelsfrei  festgestellt.  AMch  diese  müssen  bel- 
gisches Gebiet  überflogen  haben.  Gestern  warfen  französische 
Flieger  Bomben  auf  Bahnen  bei  Karlsruhe  und  Nürnberg.  Frank- 
reich hat  uns  somit  in  Kriegszustand  versetzt." 

Jetzt  hatte  man  endlich  den  ersehnten  Kriegszustand.  Frank- 
reich konnte  freilich  gleichzeitig  auch  mit  einer  Reihe  von  Klagen 
über  Grenzverletzungen  aufwarten  und  Bethmann  Hollweg  mußte 
am  4,  August  in  seiner  Kriegsrede  sogar  zugeben,  daß  sie  nicht 
ganz  ungerechtfertigt  seien.  Die  französische  Regierung  hatte  aber 
daraus  keinen  Anlaß  zum  Kriege  gezogen,  sie  hatte  sogar,  um 
ihrerseits  Grenzverletzungen  zu  verhüten,  getan,  was  die  deutsche 
Regierung  nicht  tat;  sie  hatte  schon  am  30.  Juli  angeordnet: 

„obgleich  Deutschland  seine  Deckungsmaßnahmen  einige  hundert 
Meter  von  der  Grenze  an  der  ganzen  Front  von  Luxemburg  bis 
zu  den  Vogesen,  getroffen  und  Deckungstruppen  in  ihre  Kampf- 
stellungen gebracht  hat,  haben  vAr  unsere  Truppen  zehn  Kilo- 
meter von  der  Grenze  ferngehalten  und  ihnen  ver- 
boten, näher  heranzurücke  n."  (Gdbbuch  von  1914, 
Nr.  106.) 

Man  mag  sich  auf  den  Boden  deutscher  Politiker  stellen,  die  an- 
nahmen, daß  Frankreich  diese  Maßnahmen  nicht  im  Interesse  des 
Friedens,  sondern  nur  deshalb  traf,  weil  es  noch  nicht  gerüstet 
v/ar,  also  aus  Heimtücke,  um  Zeit  zu  gev/iunen  und  später  dem  Feind 
„in  den  Rücken  zu  fallen,"  Aber  gerade  wer  auf  diesem  Stand- 
punkt steht,  wird  zugeben  müssen,  daß  die  französische  Regierung 
ihre  eigenen  Intentionen  durchkreuzt  hätte,  wenn  sie  die  Feind- 
seligkeiten vorzeitig  begann. 

Schon  deshalb  v/ird  man  den  Behauptungen  der  Kriegserklärung 
mit  äußerstem  Mißtrauen  gegenüberstehen  müssen.  Auf  v/elche 
Mitteilungen  stützt  sie  sich? 

150 


Am  2.  AiigusL,  um  Mitternacht,  telegraphierte  der  Reichskanzler 
nach  London; 

„Nach  absolut  zuverlässigen  Meldungen  h.ai  sich  Frankrsich 
heute  gegen  uns  folgende  Übergriffe  erlcnbi: 

1.  Französische  KavaUeriepatrouillen  haben  heute  am  frühen 
Nachmittag  die  Grenze  bei  Altmünsierol  im  Elsaß  überschritten. 

2.  Ein  französischer  Fliegeroffizier  ist  bei  Wesel  aus  der  Luft 
geschossen  tvorden. 

3.  Zwei  Franzosen  heben  versucht,  Aachener  Tunnel  an  der 
Moselbalin  zu  sprengen  und  sind  dabei  erschossen  worden. 

4.  Französische  Infanlcrie  hat  im  El^aS  Grenze  überschritten 
r.nd  geschossen. 

Bitte  das  sofort  dortiger  Regierung  mitteilen  und  Sir  Edward 
Grey  ernstlich  vorhalten,  in  welche  gefahrvolle  Lage  Deutschland 
durch  diese  wider  Treu  und  Glauben  erfolgenden  Provokationen 
gebracht  und  zu  den  ernstesten  Beschlüssen  gedrängt  werde.  Ew. 
Erzellenz  wird  es,. wie  ich  hoffe,  gelingen,  England  davon  zu  über- 
zeugen, daß  Deutschland,  nachdem  es  den  Friedensgedanhen  bis 
an  die  äußerste  Grenze  des  Möglichen  vertreten  hat,  durch  seine 
Gegner  in  die  Rolle  des  Provozierten  gedrängt  wird,  der,  um  seine 
Existenz  zu  wahren,  zu  den  Waffen  greifen  muß." 

Am  3-  August  wurde  dann  im  Auswärtigen  Amt  um  1  Uhr  45 
nachmittaj^s  folgende  Ziisammcnslellung  französischer  Grenzver- 
letzungen verzeichnet,  die  der  Generalstah  berichtete; 

,,1.  Meldung  des  15.  Armeekorps  [Generalkommando):  Grenz- 
verletzungen durch  Franzosen  am  1.  August  abends  bei  Metzeral 
und  Schluchtpaß  zweifelsfrei  fesigesiellt.  Deutsche  Postierungen 
lüurden  beschossen.  Keine  Verluste.  Ab  Siraßburg,  2.  August, 
um  9  Uhr  30  abends. 

2.  Meldung  des  15.  Armeekorps  (Generalkommando):  In  der 
Naclit  vom  1.  zum  2.  August  Grenzverletzung  durch  französische 
Infanterie  gegenüber  Markirch  stattgefunden.  Franzosen  eröffne- 
ten zuerst  das  Feuer.  Keine  Verluste.  Ab  Siraßburg,  2.  August, 
um  5  Uhr  55  nachmittags. 

3.  50.  Infanterie-Brigade  meldet  ab  Mülfiausen,  2.  August. 
12  Uhr  10  nachmittags:  Feindliche  Patrouillen  haben  Grenze  bei 
Altmünsterol  in  Gegend  bei  Roth  überschritten,  sind  aber  wieder 
zurückgegangen. 

4.  Meldung  der  Linienkommandoniur  Köln  ab  2.  August,  11  Uhr 
45  abends:  Reger  Flugzeugverkehr  des  Feindes  über  die  Grenze 

151 


aus  Richtung  Trier  nach  Junkerath  uml  aus  Richtung  Dahlheim 
nach  Rheydt  und  auf  rechtem  Rheinufer  bei  Köln.  Bei  Rheydt 
signalisierten  sie  mit  weißem,  rotem,  grünem  Licht. 

5.  Telephonische  Meldung  des  Chefs  des  Stabes  vom  21.  A.rmee- 
korps,  3.  August,  9  Uhr  40  vormittags:  Drei  Flugzeuge  und  ein 
Luftschiff  (vorn  breit,  hinten  ganz  spitz)  heute  früh  über  Bahn- 
hof Saarburg,  Lothringen,  von  Maschinengewehren  beschossen.  Die 
Flugzeuge  gaben  nicht  die  vorgeschriebenen  Erkennungszeichen, 

6.  Meldung  der  Linienkommandantur  in  Ludwigshafen  am  Rhein 
vom  2.  August,  abends:  Zwei  feindliche  Flugzeuge  heute  (2.  Aug.) 
gegen  10  Uhr  abends  hei  Neustadt  a.  d.  Haardt  gemeldet. 

7.  Meldung  der  Linienkommandantur  Wesel  (eingegangen  2.  Aug. 
abends):  Bei   Wesel  feindliches  Flugzeug  abgeschossen." 

In  dieser  Aufstellung  vom  3.  August  fällt  uns  vor  allem  auf, 
daß  in  ihr  die  Nachricht  von  der  Sprengung  des  Aachener  Tunnels 
fehlt.  Aus  guten  Gründen.  Trotzdem  sie  aus  „absolut  zuverlässi- 
gen Meldungen"  stammte,  erwies  sie  sich  eben  schon  tags  darauf 
als  falsch.  Als  eines  der  vielen  Gerüchte,  die  in  jenen  aufgeregten 
Tagen  die  Luft  durchschwirrten,  aber  von  einem  ernsten  Staats- 
mann nicht  ohne  Prüfung  als  richtig  hingenommen  werden  durften. 

Auch  die  Berichte  der  Militärbehörden  erwiesen  sich  nicht  immer 
als  richtig.  So  telegraphierte  am  3.  August,  morgens  um  10  Uhr, 
der   luxemburgische   Staatsminister  Eyschen   an   Jagow: 

„Soeben  verteilt  man  in  der  Stadt  Luxemburg  eine  Proklama- 
tion des  kommandierenden  Generals  des  8.  Armeekorps  Tulff  von 
Tscheepe,  die  folgenden   Wortlaut  enthält: 

„Nachdem  Frankreich,  die  Neutralität  Luxemburgs  nicht  achtend, 
wie  zweifelsfrei  festgestellt,  die  Feindseligkeiten  von 
luxemburgischen  Boden  aus  gegen  Deutschland  eröffnet,  haben 
S.  M.  Befehl  erteilt,  daß  auch  deutsche  Truppen  in  Luxemburg  ein- 
rücken." 

Es  beruht  dies  auf  einem  Irrtum.  Es  befindet  sich  auf  luxem- 
burgischem Boden  absolut  kein  franzosisches  Militär,  noch  gibt  es 
irgendwelche  Anzeichen  einer  Bedrohung  der  Neutralität  von  sei- 
fen Frankreichs.  Im  Gegenteil,  am  1.  August,  Samstag  abend, 
wurden  auf  französischem  Boden  bei  Mont  Saint  Martin  Longwy  die 
Schienen  der  Eisenbahn  aufgerissen.  Das  beweist,  daß  bereits  da- 
mals die  Absicht  nicht  vorlag,  per  Bahn  nach  Luxemburg  vorzu- 
dringen." 

Tut  nichts.  Die  deutschen  Generäle  fühlten  sich  offenbar  be- 
fugt, überall,  wo  es  ihnen  paßte,  französische  Feindseligkeiten  „zwei- 

152 


felsfrei"  festzustellen.  Die  PioklauTation  des  Herrn  Kommandie- 
renden Generals  Tulff  zeigt  übrigens  „zweifelsfrei",  daß  deutscher- 
seits nicht  einzelne  Patrouillen,  sondern  das  achte  Armeekorps  be- 
reits am  3.  August,  vormittags,  ,,auf  Befehl  S.  M."  die  Feindselig- 
keiten gegen  Frankreicii  durch  Eindringen  auf  luxemburgisches 
Gebiet  begonnen  hatte. 

Daß  der  Herr  General  auf  eigene  Faust  handelte,  ist  nicht  anzu- 
nehmen, obwohl  das  Militär  in  jenen  Tagen  schon  sehr  selbstherr- 
lich wurde.  So  wurde  Jagow  am  3.  August  vormittags  folgende 
Aufzeichnung   des   Grafen   Montgelas   vorgelegt: 

„Der  Oberkommandierende  in  den  Marken  hat  mitgeteilt,  daß 
er  angesichts  der  authentisch  nachgewiesenen  Grenzverletzungen 
genötigt  sei,  gegenüber  der  französischen  Botschaft  und  den  Fran- 
zosen die  gleichen  Maßregeln  zu  ergreifen,  wie  sie  gegenüber  der 
russischen  Botschaft  und  den  Russen  bereits  ergriffen  seien." 

Also  der  Herr  Oberkommandierende  in  den  Marken  hielt  sich 
für  befugt,  auf  Grund  der  „authentisch  nachgewiesenen  Grenzver- 
letzungen" wenigstens  für  Berlin  gleich  auf  eigene  Faust  den 
Krieg  an  Frankreich  zu  erklären.  Das  wurde  Jagow  doch  zu  toll. 
Er  schrieb  zu  der  Aufzeichnung: 

„Was  sind  das  für  Maßregeln?  Wir  sind  noch  nicht  im  Kriegs- 
zustand.    Diplomaten  sind   daher  noch   akhrediiieri." 

Eine  Kriegserklärung  an  den  Oberkommandierenden  in  den  Mar- 
ken folgte  daraus  nicht,  denn  wenige  Stunden  danach  verkündete 
Schön  in  Paris,  daß  Deutschland  sich  im  Kriege  mit  Frankreich 
befinde. 

Am  meisten  wurde  in  seiner  Kriegserklärung  Gewicht  gelegt  auf 
die  Flieger.  Die  behaupteten  Grenzverletzungen  durch  französische 
Truppen  wurden  zumindest  kompensiert  durch  gleichzeitig  gemel- 
dete Grenzübergriffe  deutscher  Truppen,  über  die  Viviani  schon 
am  2,  August  sich  beschwerte.     Aber  die  Flieger! 

Nun  hatte  in  jenen  Tagen  eine  seltsame  Manie  die  Masse  der 
Bevölkerung  ergriffen.  Bei  Nacht  sah  sie  überall  Flieger  und  Luft- 
schiffe über  sich  und  hörte  sie  Bomben  platzen.  Der  Stuttgarter 
Polizeidirektor  erließ  damals  eine  Mahnung  zur  Nüchternheit  und 
Besonnenheit,  in  der  er  sagte: 

„Wollzen  werden  für  Flieger,  Sterne  für  Luftschiffe.  Fahrrad- 
lenkstangen  für  Bomben  gehalten." 

Trotz  der  Geneigtheit,  jede  unter  solchen  Verhältnissen  ein- 
laufende Meldung  über  Flieger  zu  glauben,  die  man  selbstver- 
ständlich auch  in   der   finstersten   Nacht   sofort   als   „französische 

153 


Militärfiicger"  eikann'?,  konnte  dcch  der  Reichskanzler  sich  nur 
auf  drei  Fälle  berufen,  von  denen  der  eine,  daß  „Flieger  üb^r  dem 
Eifelgebiet  'gesichtet"  wurden,  überhaupt  keine  Berücksichtigung 
verdient,  denn  Flieger  gab  es  in  Deutschland  damals  wohl  viele, 
und  wer  hätte  sagen  können,  daß  die  im  Eifelgebiet,  wenn  sie 
wirklich  , .gesichtet"  wurden,  französische  waren  und  nicht  deutsche 
oder  etv/a  belgische  oder  holländische,  die  sich  verirrt  hatten? 

Aber  der  Fall  in  Wesel! 

Am   2,    August   berichtete    der   Reichskanzler: 

.,Ein  har.zösischer  Fliegsroffizier  ist  bei  Wesel  aus  der  Luft 
geschossen  ivorden." 

Die  OiSizieile  militärische  Meldung  vom  3,  August,  mittags,  sagt 
unbestimmter  nur; 

„Bei  Wesel  ein  feindliches  Flugzeug  abgeschossen." 

Nichts  über  den  Insassen,  nichts  darüber,  ob  er  eine  Zivilperson 
oder  ein  Offizier  war.  In  der  Kriegserklärung  aber  heißt  es,  der 
Militärflieger  habe  versucht,  die  Eisenbalin  bei  Wesel  zu 
zerstöre  n," 

Davon  steht  in  dem  Bericht  der  Linienkommandantur  Wesel 
kein  Wort. 

Was  von  den  im  Eifelgebiet  gesichteten  Fliegern  und  dem  Wese- 
ler Attentat  zu  halten  ist,  haben  wir  eben  gesehen.  Was  von  den 
süddeutschen  Militärfliegern  gilt,  auf  deren  Untaten  die  Kriegs- 
erklärung noch  Bezug  nahm,  so  sind  sie  seitdem  schon  längst  als 
leere  Erfindung  gekennzeichnet  worden. 

Schon  im  April   1916  bestätigte  der  Magistrat  von  Nürnberg: 

„Dem  stellver 'retenden  Generalkommando  des  3.  bayerischen 
Armeekorps  Hier,  ist  nicht  davon  bekannt,  daß  auf  die  Bahnstrecke 
Nürnberg — Kissingen  und  Nürnberg — Ansbach  vor  und  nach  Kriegs- 
ausbruch je  Bomben  von  feindlichen  Fliegern  gsworfen  worden 
sind.  Alle  diesbezüglichen  Behauptungen  und  Zeitungsnachrich- 
ten heben  sich  als  falsch  heransgsstsUt." 

Das  kennte  man  im  Berliner  Auswärtigen  Amt  sciion  früher 
wissen.  Bereits  am  2,  August  1914  sandte  der  preußische  Gesandte 
in  München  an  den  Reichskanzler  folgende  Mitteilung,  deren  Ein- 
gang im  Auswärtigen  Amt  am  3.  August,  um  3  Uhr  nachmittags, 
vermerkt  ist: 

.,Die  auch  Iticr  vom  Süddeutschen  Korrespondenzbureau  ver- 
breitete militärische  Meldung,  daß  heute  französische  Flie- 
ger in  der  Unigsbiirig  von  Nürnberg  Bomben  geworfen  hätten,  hat 
bisher  keine   Bestätigung  gefunden.     Es  s  i  n  d   lediglich   u  n- 

154 


bekannteFlugzeugegesichtet  worden, dieau^en- 
scheinlich  keine  Militärfahrzeuge  lo  ar  e  n.  Das 
Werfen  von  Bomben  ist  nicfit  festgestellt,  noch  weniger  natürlich, 
daß  die  Flieger  Franzosen." 

Vor  allem  auf  diesen  Fliegerboraben  beruhte  die  Begrün- 
dung der  deutschen  Kriegserklärung,  die  man  in  Paris  übergab,  '^ie 
war  in  jeder  Beziehung  völlig  aus  der  Luft  gegriffen. 

19.  Die  Kriegserklärung  an  Belgien. 

Die  politische  Verfehltheit  des  Wortbruchs. 

Noch  eine  harte  Nuß  blieb  dem  Reichskanzler  zu  knacken,  die 
die  militärischen  Stellen  von  ihm  verlangten:  Die  Begründung  des 
Einfalls  in  Belgien. 

Dieser  Einfall  war  ebenso  wie  der  Krieg  gegen  Franlcreich  be- 
schlossene Sache,  sobald  die  Feindseligkeiten  gegen  Rußland  aus- 
gebrochen waren. 

Im  Jahre  1871  hatte  Deutschland  Elsaß-Lothringen  annektiert, 
nicht,  um  die  Bevölkerung  dieser  Gebiete  zu  befreien,  Sie  wehrte 
sich  vielmehr  verzweifelt  gegen  ihre  Losreißung  von  Frankreich. 
Nicht  aus  nationalen,  sondern  aus  strategischen  Gründen  hatte 
Bismarck  sie  gefordert,  um  eine  bessere  strategische  Grenze  gegen 
Frankreich  zu  bekommen,  um  bei  einem  künftigen  Kriege  Paris 
näher  zu  sein  und  es  rascher  bedrohen  zu  können  als  es  1870  beim 
Ausbruch  des  Krieges  der  Fall  gewesen  war. 

Um  dieses  militärischen  Vorteils  willen  hatte  Deutschland  damals 
seine  internationale  politische  Position  unendlich  verschlechtert, 
hatte  es  ewige  Feindschaft  zwischen  sich  und  Frankreich  gesetzt, 
dieses  in  Rußlands  Arme  gedrängt,  Wettrüsten  und  ständige  Kriegs- 
gefahr über  Europa  heraufbeschworen  und  den  Keim  zu  jener  un- 
günstigen Situation  gelegt,  in  der  das  Deutischc  Reich  1914  in  den 
Weltkrieg  ging. 

Das  alles  um  eines  strategischen  Vorteils  willen,  der  sich  bald 
als  völlig  nichtig  herausstellen  sollte.  Denn  im  Zeitalter  der 
modernen  Technik  gibt  es  keine  natürliche  strategische  Grenze, 
deren  Nachteile  nicht  ein  reicher,  ökonomisch  und  technisch  hoch- 
entwickelter Staat  durch  künstliche  Maßnahmen  wettmachen 
könnte. 

Die  neue  deutsch-französische  Grenze  wurde  so  formidabel  aus- 
gebaut, daß  für  eine  deutsche  Armee  keine  Rede  davon  sein  konnte, 
hier  rasch  durchzukommen.  Und  doch  er -chicn  das  notwendig  bei 
einem    Kriege   Deutschlands    gegen    zwei    Fronten,    wenn    es    galt, 

155 


schleunigst  Frankreich  zu  erledigen,  um  sich  dann  mit  voller  Kraft 
auf  Rußland  allein  werfen  zu  können. 

An  der  elsässischen  Front  erschien  der  rasche  Durchbruch  nicht 
möglich.  Um  so  mehr  leckte  die  französische  Nordgrenze,  Merk- 
würdigerweise hatten  die  Franzosen  bloß  die  elsässische  Grenze 
aufs  stärkste  ausgebaut.  Dagegen  fühlten  sie  sich  durch  Belgien 
so  gesichert,  daß  sie  die  Nordgrenze  nur  ungenügend  befestigten. 
Und  selbst  im  Juli  1914,  als  die  Kriegsgefahr  auftauchte,  alle  Welt 
rüstete  und  Truppen  zusammenzog,  richtete  die  französische  Armee 
ihr  Augenmerk  vornehmlich  nach  Ost,  nicht  nach  Nord. 

Die  Nordgrenze  war  Frankreichs  schwache  Seite.  Wenn  Deutsch- 
land dort  überraschend  einbrach,  durfte  es  hoffen,  mit  wenigen 
kraftvollen  Schlägen  allen  Widerstand  niederzuwerfen,  Paris  zu 
besetzen  und  nicht  nur  dieses,  sondern  auch  Calais,  das  Ausfallstor 
nach  England. 

Rein  militärisch  betrachtet  war  also  der  Durchbruch  durch  Bel- 
gien sicher  geboten.  Freilich  hätte  schon  das  Beispiel  Elsaß-Loth- 
ringens zeigen  können,  wie  schädlich  es  wirken  kann,  wenn  mili- 
taristische Augenblickspolitik  die  Oberhand  bekommt  über  eine 
weitschauende  Völkerpolitik,  die  nicht  bloß  die  militärischen,  son- 
dern auch  die  politischen  und  ökonomischen  und  überdem  die 
moralischen  Kräfteverhältnisse  und  Triebkräfte  der  Völker  in  Be- 
tracht zieht. 

Die  deutsche  Politik  war  darauf  ausgegangen,  bei  dem  kriege- 
rischen Austrag  des  Konfliktes  der  Zentralmächte  mit  Rußland 
und  Frankreich  Englands  Neutralität  und  Italiens  Mitwirkung 
zu  gewinnen. 

Beides  war  bereits  fraglich  geworden,  aber  noch  nicht  entschie- 
den, als  der  Krieg  ausbrach,  Wohl  hatte  Sir  Ed.  Grey  Deutschland 
gev/arnt,  aber  anderseits  hatte  er  Frankreich  seine  Unterstützung 
nicht  mit  voller  Sicherheit  in  Aussicht  stellen  können,  trotz  aller 
Sympathien  für  die  französische  Sache.  Man  hat  ihm  diese  Un- 
sicherheit sehr  verübelt,  die  einen  haben  darin  Plaltlosigkeit,  die 
andern  Zweideutigkeit  gesehen.  Seine  Kritiker  vergessen,  daß  er 
Minister  eines  parlamentarischen  und  demokratischen  Landes  und 
der  Zustimmung  der  Bevölkerung  keineswegs  sicher  war.  Auch 
wenn  er  im  Parlament  eine  Mehrheit  für  einen  Krieg  gegen  Deutsch- 
land fand,  so  wäre  dieser  eine  sehr  zweifelhafte  Sache  geworden, 
wenn  die  Masse  der  Arbeiter  und  der  gerade  in  England  sehr  zahl- 
reichen und  einflußreichen  bürgerlichen  Pazifisten  ihm  energisch 
Widerstand  geleistet  hätte.     Dagegen  konnte  für  niemanden,  der 

156 


die  Engländer  nur  einigermaßen  kannte,  ein  Zweifel  darüber  be- 
stehen, daß  die  große  Mehrheit  der  Nation  sich  begeistert  in  den 
Krieg  stürzte,  sobald  das  waffengcwaltige  flottenbauende  Deutsch- 
land sich  Belgiens  bemächtigte  und  damit  England  direkt  bedrohte. 

In  engster  Abhängigkeit  von  England  aber  stand  Italien.  Daß 
es  sich  an  die  Seite  der  Zentralmächte  stellte,  war  allerdings  An- 
fang August  nicht  mehr  zu  erwarten. 

Am  3.  August  sandte  Herr  von  Kleist,  der  nach  Rom  in  beson- 
derer Mission  entsandt  war,  von  dort  folgendes  Telegramm  nach 
Berlin  „an  des  Kaisers  Majestät": 

„Heute,  Montag,  9  Uhr  vormittag,  überbrachte  ich  Ew.  Majestät 
Auftrag  an  König  von  Italien,  wonach  sofortige  Mobilmachung  der 
Armee  und  Flotte  sowie  vertragsmäßig  festgelegte  Bundeshilfe  ge- 
fordert wurde. 

Der  König  erwiderte,  daß  er  persönlich  mit  ganzem  Herzen  bei 
uns  sei  und  noch  vor  Wochen  keinen  Augenblick  zweifelte,  daß 
bei  Krieg  Italien  treu  den  Verbündeten  helfen  werde.  Die  für 
italienisches  Volksempfinden  unglaubliche  Ungeschicklichkeil 
Österreichs  Ixabe  in  den  letzten  Wochen  öffentliche  Meinung  der- 
cirt  gegen  Österreich  aufgebracht,  daß  jetzt  aktives  Zusammen- 
gehen mit  Österreich  Sturm  entfesseln  würde.  Einen  Aufstand 
wolle  Ministerium  nicht  riskieren.  Er,  der  König  habe  leider  keine 
Macht,  nur  Einfluß.  Entließe  er  das  jetzige  Ministerium,  werde 
kein  anderes  Verantwortung  übernehmen.  Alles  hauptsächlich, 
weil  Österreich  sich  nicfit  bereit  fand,  irgendeine  bestimmte  Ver- 
sprechung für  die  Zukunft  zu  geben,  wodurch  vielleicht  bisher  ein 
Umschwung  der  Volksstimmung  erreicht  werden  konnte.  Ob  dies 
jetzt  noch  möglich,  sei  sehr  zweifelhaft. 

„Da  Volk  Unterschied  nicht  begreife,  versage  infolge  öster- 
reichischer Ungeschicklichkeit  leider  auch  Italien  Deutschland 
gegenüber,  was  ihn,  König,  tief  schmerze.  Er  werde  nochmals 
seinen  Einfluß  auf  Ministerium  einsetzen  und  über  Erfolg  be- 
scheiden." 

Am  nächsten  Tage  hat  Herr  v,  Kleist  nichts  Tröstlicheres  zu 
melden: 

„S.  M.  der  König  empfing  mich  heute  vormittag  und  sagte: 

„Trotz  seiner  gestrigen  mehrfachen  Bemühungen  verbleibt  Re- 
gierung auf  ihrem  Standpunkt  der  Neutralität.  Aktive  Hilfe- 
leistung an  Verbündeten  würde  Volk  augenblicklich  nur  als  Hilfe 
für  Österreichs  Vergrößerungspläne  auf  dem  Balkan  auffassen 
(Unser    Kampf   ge  g  e  n    Frankreich    liat    nichts    d  a- 

157 


mit  zu  tun.  E  c  ficht  doch  auch  an  unserer  und 
nicht  Österreichs  Seite.  W.J,  da  Österreich  sich  bisher 
nicht  einmal  definitiv  verpflichtet  habe,  hierauf  zu  verzichten. 
Volk  tuerde  Deutschland  stets  mit  Österreich  zusammenwerfen 
(wenn  die  Regierung  nichts  dagegen  tut,  natür- 
lich, aber  unsinnig.  W.J,  daher  risJiiere  Regierung  bei 
aktiver  Hilfeleistung  selbst  für  Deutschland  im  jetzigen  Augen- 
blick A.uf stand  (bestimmt  gelogen,  W.).  Er,  König,  müsse 
wiederholen,  daß  er  leider  machtlos  sei,  da  Regierungsansicht  von 
Melirzahl  der  Deputierten  geteilt  werde.  Selbst  soeben  zurück- 
gekehrter dreibundfreundlicher  (?  ?  W.)  Giolitti  habe  Ansicht, 
daß  casus  foederis  nicht  vorläge,  sondern  Land  Ruhe  brauche, 
neutral  bleiben  müsse,  da  keine  Verpflichtung  zu  aktiver 
Hilfeleistung  vorliege.  (Unerhörter  Schuft!  W.)  .  .  . 
Regierung  beabsichtige,  für  alle  Eventualitäten  gerüstet  zu  sein. 
Auf  meine  Antwort,  daß,  da  Eventualität  der  Hilfeleistung  aus- 
scheide, doch  offenbar  an  aktive  Bedrohung  Österreichs  gedacht 
werden  müsse,  eine  andere  Eventualität  gebe  es  doch  nicht,  sagte 
König:  man  wisse  nie,  was  die  Männer  der  Regierung  tun  würden. 
(Also  er  scheidet  ganz  aus!  W.)  Für  den  Augenblick 
rechne  der  König  dami!:,  daß  nichts  geschähe." 

Die  Titulierung  Giclittis  als  „unerhörter  Schuft"  wird  fast  noch 
übertroffen  durch  die  Titulierung  des  Königs  selbst,  der  am 
3.  August  in  einem  Handschreiben  dem  deutschen  Kaiser  mitteilte, 
daG  die  italienische  Regierung  den  casus  foederis  im  eben  aus- 
gebrochenen Kriege  nicht  anerkenne.  Unterschrieben  war  der 
Brief: 

Dein  Bruder  und   Verbündeter 
Vittorio  Immanuele. 

Zum  „Verbündeten"  fügte  Wilhelm  hinzu:  „Frechheit"  und  zum 
Namen  des  Königs  das  kleine  aber  vielsagende  Wörtchen: 
„Schurke!", 

Auf  Italiens  tätige  Mithilfe  konnte  am  3.  August  auch  der 
leichtfertigste  und  unwissendste  Optimist  nicht  mehr  rechnen.  Die 
Schlußbemerkungen  Vittorio  Emanueles  ließen  aber  sogar  be- 
fürchten, Italien  könne  aktiv  gegen  Österreich  und  Deutschland 
auftreten.  Auf  Italiens  Haltung  mußte  die  Stellungnahme  Eng- 
lands von  größtem  Einfluß  v/erden,  von  dem  es  in  so  vielen  Dingen 
abhing. 

Dies  war  ein  weiteres  Moment,  das  veranlassen  mußte,  Eng- 
land durch  die  Besetzung  Belgiens  nicht  zu  reizen.     Dazu  gesellte 

158 


sich  die  Erwägung,  daß  durch  diese  Besetzung  das  Ansehen 
Deutschlands  in  der  ganzen  Welt  enorm  leiden  mußte.  Denn  die 
Neutralität  Belgiens  war  nicht  gewöhnlicher  Art,  wie  etwa  die 
Griechenlands.  Sie  war  eine  feierlich  verbriefte  und  garantierte 
und  Preußen  eine  der  Garantiemächte.  Mit  seinem  Einmarsch 
in  Belgien  beging  es  nicht  bloß  eine  Verletzung  der  Neutra- 
lität, üondern  einen  W  o  r  t  b  r  u  c  h. 

Je  größer  das  Vertrauen,  das  man  früher  zu  dem  gehegt  hat, 
der  sein  Wort  verpfändet,  um  so  größer  die  Wut  und  die  Miß- 
achtung gegen  ihn,  wenn  er  es  bricht.  Die  Belgier  waren  in  ihrer 
Mehrzahl  bis  zum  August  1914  Deutschland  vertrauensvoll  und 
freundschaftlich  gegenüber  gestanden.  Nach  dem  Einbruch 
wurden  sie  seine  wildesten  Feinde. 

Aber  nicht  nur  in  Belgien  hat  der  Wortbruch,  dem  die  Hin- 
schlachtung tausender  von  Belgiern,  die  grauenhafte  Verwüstung 
des  ganzen  Landes  folgte,  die  tiefste  Empörung  hervorgerufen,  sie 
erfaßte  alle  Länder  der  europäischen  Kultur  und  raubte  Deutsch- 
land die  letzten  Freunde,  die  es  dort  noch  halte. 

b)    Die   Rechtfertigung    des   Wortbruchs. 

So  sehr  der  Einbruch  in  Belgien  militärisch  begreiflich  war,  so 
sehr  v/ar  er  nicht  nur  moralisch  verwerflich,  sondern  auch  poli- 
tisch völlig  verfehlt. 

Aber  das  Militär  kommandierte,  die  Zivilpolitiker  hatten  zu 
gehorchen.  Ihnen  fiel  nur  das  undankbare  Amt  zu,  den  Wort- 
bruch vor  der  Öffentlichkeit  zu  rechtfertigen.  Sie  haben  sich  dabei 
'  geistig  nicht  angestrengt.  Auch  diesmal  hielt  man  sich  an  die 
bequeme  Schablone  Berchtolds,  die  er  Franz  Josef  gegenüber  an- 
gewandt, die  Vortäuschung  feindlicher  Handlungen  der  andern, 
durch  die  man  zum  Krieg  gezwungen  wurde. 

Und  im  belgischen  Falle  hatte  der  Reichskanzler  nur  das  edle 
Amt  eines  Briefträgers, 

Am  29.  Juli  ging  dem  Auswärtigen  Amt  ein  vom  Generalstabs- 
chef Moltke  selbst  unter  dem  Datum  26.  Juli  geschriebener 
Entwurf  eines  Schreibens  an  die  belgische  Regierung  zu,  das  nach 
einigen  redaktionellen  Änderungen,  die  der  Reichskanzler,  sowie 
Stumm  und  Zimmermann  vornahmen,  von  Jagow  nicht  an  diese 
Regierung,  sondern  an  den  deutschen  Gesandten  in  Brüssel  am 
gleichen  Tage  gesandt  wurde.     Es  lautete: 

„Der  Kaiserl,  Regierung  liegen  zuverlässige  Nachrichten  vor  über 
den  beabsichtigten  Aufmarsch  französischer  Streitkräfte  an  der 
Maas-Strecke  Givet — Namur,     Sie  lassen  keinen  Zweifel  über  die 

159 


Absicht  Frankreichs  (nach  Vereinigung  mit  einem  englischen 
Expeditionskorps)  durch  belgische  Gebiete  gegen  Deutschland 
vorzugehen. 

Die  Kaiserl.  Regierung  kann  sich  der  Besorgnis  nicht  er- 
wehren, daß  Belgien  trotz  besten  Willens  nicht  imstande  sein 
wird,  ohne  Hilfe  einen  französisch- (englischen]  Vormarsch  mit 
so  großer  Aussicht  auf  Erfolg  abzuwehren,  daß  darin  eine  aus- 
reichende Sicherheit  gegen  die  Bedrohung  Deutschlands  gefunden 
werden  kann.  Es  ist  ein  Gebot  der  Selbsterhaltung  für  Deutsch- 
land, dem  feindlichen  Angriff  zuvorzukommen.  Mit  dem  größten 
Bedauern  würde  es  daher  die  deutsche  Regierung  erfüllen,  wenn 
Belgien  einen  Akt  der  Feindseligkeit  gegen  sich  darin  erblicken 
v/ürde,  daß  die  Maßnahmen  seiner  Gegner  Deutschland  zwingen, 
zur  Gegenwehr  auch  seinerseits  belgisches  Gebiet  zu  betreten. 
Um  jede  Mißdeutung  auszuschließen,  erklärt  die  Kaiserl,  Re- 
gierung das  folgende:  1.  Deutschland  beabsichtigt  keinerlei  Feiiid- 
seligkeiten  gegen  Belgien,  Ist  Belgien  gewillt,  in  dem  bevor- 
stehenden Kriege  Deutschland  gegenüber  eine  wohlwollende  Neu- 
tralität einzunehmen,  so  verpflichtet  sich  die  deutsche  Regierung 
beim  Friedensschluß  nicht  nur  Besitzstand  und  Unabhängig- 
keit des  Königreichs  in  vollem  Umfang  zu  garantieren,  sie  ist 
sogar  bereit,  etwaigen  territorialen  Kompen- 
sationsansprüchen des  Königreichs  auf  Kosten 
Frankreichs  in  wohlwollendster  Weise  ent- 
gegenzukommen. 2.  Deutschland  verpflichtet  sich  unter 
obiger  Voraussetzung  das  Gebiet  des  Königreichs  wieder  zu  räumen, 
sobald  der  Friede  geschlossen  ist.  3,  Bei  einer  freundschaftlichen 
Haltung  Belgiens  ist  Deutschland  bereit,  im  Einvernehmen  mit 
den  königl.  belgischen  Behörden  alle  Bedürfnisse  seiner  Truppen 
gegen  Barzahlung  anzukaufen  und  jeden  Schaden  zu  ersetzen,  der 
etv/a  durch  deutsche  Truppen  verursacht  werden  könnte. 

Sollte  Belgien  den  deutschen  Truppen  feindlich  entgegentreten, 
insbesondere  ihrem  Vorgehen  durch  Widerstand  der  Maasbe- 
festigungen oder  durch  Zerstörung  von  Eisenbahnen,  Straßen, 
Tunneln,  oder  sonstigen  Kunstbauten  Schwierigkeiten  bereiten,  so 
wird  Deutschland  zu  seinem  Bedauern  gezwungen  sein,  das 
Königreich  als  Feind  zu  betrachten.  In  diesem  Falle  würde 
Deutschland  dem  Königreich  gegenüber  keine  Verpflichtungen 
übernehmen  können,  sondern  müßte  die  spätere  Regelung  des 
Verhältnisses  beider  Staaten  zueinander  der  Entscheidung  der 
Waffen   überlassen. 

160 


Die  Kaiser!.  Regierung  gibt  sich  der  bestimmten  Hoffnung  hin, 
daß  die  Eventualität  nicht  eintreten  und  daß  die  Königl.  belgi- 
sche Regierung  die  geeigneten  Maßnahmen  zu  treffen  wissen  wird, 
um  zu  verhindern,  daß  Vorkommnisse  wie  die  vorstehend  er- 
wähnten, sich  ereignen.  In  diesem  Falle  würden  die  freundschaft- 
lichen Bande,  die  beide  Nachbarstaaten  verbinden,  eine  weitere  und 
dauernde   Festigung   erfahren." 

An  diesen  Text  schloß  sich  im  Entwurf  Moltkes  folgender 
Passus  an: 

„Eine  unzweideutige  Antwort  auf  dies  Schreiben  muß  inner- 
halb 24  Stunden  nach  Überreichung  erfolgen,  widrigenfalls 
die  Feindseligizeiten  sofort  eröffnet  wer  den." 

Das  erschien  Jagow  doch  zu  grob.  Er  strich  diesen  Satz  in 
dem  Schreiben  an  die  beigische  Regierung  und  setzte  an  seine 
Stelle  folgende  Weisung  für  den  deutschen  Gesandten  in  Brüssel: 

„Ew.  Hochwohlgeb.  wollen  umgehend  der  Königl.  belgischen 
Regierung  hiervon  streng  vertraulich  Mitteilung  machen  und  sie 
um  Erteilung  einer  unzweideutigen  Antwort  binnen  24  Stunden 
ersuchen. 

Von  der  Aufnahme,  welche  Ihre  Eröffnungen  finden  werden 
und  der  definitiven  A^ntwort  der  Kgl.  belgischen  Regierung  wollen 
Ew.  Hochwohlgeb.  mir  umgehend  telegraphische  Mitteilung  zu- 
g?hen  lassen." 

Das  Schriftstück  des  Herrn  v.  Moltke  woirde,  wie  schon  be- 
merkt, vom  Auswärtigen  Amt  ohne  weiteres  akzeptiert  und  mit 
wenigen  redaktionellen  Änderungen  abgesandt.  Sie  sind  unbe- 
deutender Art,  bloß  eine  ist  bemerkenswert.  Der  Generalstabs- 
chef ging  offenbar  von  der  Ansicht  aus,  daß  England  gleichzeitig 
mit  Frankreich  in  den  Krieg  eintreten  werde,  daher  sprach  er  von 
Nachrichten,  die  wie  alle  ähnlichen  dieser  Art,  natürlich  „keinen 
Zweifel  lassen"  über  die  Absicht  eines  „französisch-englischen" 
Vormarschs  durch  belgisches  Gebiet,  Das  Erschien  dem  Aus- 
wärtigen Amt  doch  zu  gewagt.  Noch  hoffte  es  auf  die  Neutralität 
Englands,  Stumm  strich  daher  die  in  dem  obigen  Abdruck  in 
Klammern  gesetzten  Worte  und  begnügte  sich  mit  der  „un- 
zweifelhaften" Feststellung  der  Absicht  eines  französischen  Vor- 
marsches durch  Belgien.  Es  sind  nur  ein  paar  Wörtchen,  um 
die  es  sich  da  handelte,  doch  das  Verfahren  mit  ihnen  ist  sehr 
lehrreich.  Es  zeigte,  wie  der  Gencraistab  es  verstand,  Be- 
schwerden über  französische  oder  französisch-englische  Feindselig- 
keiten,  die   den   Krieg   oder   den   Neutralitätsbruch   unvermeidlich 

161 


machten,  auf  Vorrat  zu  fabrizieren,  ehe  solche  Feind- 
seligkeiten auch  nur  möglich  waren,  um  die  Beschwerde  dann 
vorzuzeigen,  sobald  man  sie  brauchte.  Dieser  Weg  wurde  in 
der  Tat  eingeschlagen.  Das  am  26,  Juli  abgefaßte,  am  29.  redi- 
gierte und  abgesandte  Dokument  wurde  nicht  sofort  der  Brüssler 
Regierung  vorgelegt.  Damals  war  die  Welt  noch  nicht  vorbe- 
reitet  auf   den   französisch-deutschen   Krieg. 

Jagow  schickte  das  Dokument  in  verschlossenem  Couvert  durch 
einen  Feldjäger  nach  Brüssel  an  den  deutschen  Gesandten,  Herrn 
V,  Below-Saleske,  mit  folgendem  Begleitschreiben: 

„Die  diesem  Erlaß  beigefügte  Anlage  ersuche  ich  Ew.  Hoch- 
wohlgeb.  ergebenst,  sicher  verschlossen  aufzubewahren  und  erst 
zu  eröffnen,  we  n  n  Sit  telegraphisch  von  hier 
aus  dazu  an  ge  wiesen  werden.  Den  Empfang  dieses  Er- 
lasses und  der   Anlage  wollen   Sie   mir   telegraphisch   bestätigen." 

Also  die  Not,  die  nach  Bethm.anns  pathetischer  Versicherung 
in  seiner  großen  Kriegsrede  vom  4.  August  kein  Gebot  kennt,  sie 
wurde  schon  am  29.  Juli  wohl  überlegt  zurechtgemacht,  und 
,, sicher  verschlossen"  auf  Eis  gelegt,  damit  man  sie  später  her- 
vorhole, wenn  man   ihrer  bedurfte. 

Das  trat  am  2,  August  ein.  Da  erst  wurde  es  für  den  General- 
stab dringend  nötig,  daß  Deutschlands  Sicherheit  durch  das  be- 
absichtigte Eindringen  der  Franzosen  in  Belgien  aufs  äußerste  be- 
droht wurde.  Da  telegraphierte  Jagow  an  den  Gesandten  in 
Brüssel: 

„Ew.  Hochwohlgeb.  wollen  Anlage  Erlasses  Nr.  8S  sofort  öffnen 
und  darin  enthaltene  Weisung  heute  Abend  acht  Uhr  deutscher 
Zeit  ausführen.  Jedoch  sind  in  der  Erklärung  der  Kaiserl.  Re- 
gierung unter  Nr.  1  die  Worte  „nicht  nur"  und  der  mit  „sie  ist 
sogar  bereit"  beginnende  Satz  fortzulassen.  [Die  betreffenden 
Worte  sind  in  der   obigen   Wiedergabe  gesperrt.  K.) 

Auch  ist  die  Antwort  binnen  12  Stunden,  nicht  binnen 
24  Stunden,  also  bis  morgen  früh  8  Uhr,  zu  verlangen.  Bitte  belgi- 
scher Regierung  eindringlichst  versichern,  daß  an 
Richtigkeit  unserer  Nachricht  über  yfranzösi- 
sehen  Plan  trotz  Versprechungen  jeder  Zweifel 
ausgeschlossen   ist. 

Bslgische  Antwort  muß  bis  morgen  nachmittag  2  Uhr  deut- 
scher Zeit  hier  vorliegen.  Ew.  Hochwohlgeb.  wollen  daher  Ant- 
wort schleunig  hierher  drahten  und  sie  außerdem  unmittelbar  nach 
Empfang    durch    Mitglied    kaiserlicher    Gesandtschaft,    am    besten 

162 


wohl  MiUtäratfachJ  mit  Automobil  nach  Aachen  an  General  von 
Emmich,  Union-Hotel,  übermitteln. 

Dortig«  Regierung  muß  Eindruck  erhalten, 
als  seien  Ihnen  sämtliche  Weisungen  in  dieser 
Angelegenheit  erst  heute  zugegangen.  Stelle  ferner ' 
anheim,  belgischen  Regierung  zu  suggerieren,  daß  sie  sich  mit 
Truppen  auf  Antwerpen  zurückziehen  kann,  und  daß  wir,  falls 
dort  erwünscht,  Schutz  Brüssels  gegen  innere  Unruhen  über- 
nehmen könnten." 

Die  Geschichte  des  Ulimatums  an  Belgien  enthüllt  deutlich  den 
Mechanismus,  mit  dessen  Hüle  die  Begründungen  der  deutschen 
Kriegserklärungen  in  den  ersten  Augusltagen  fertiggestellt  wurden. 

Wer  sein  Wirken  verfolgt,  muß  „den  Eindruck  erhalten", 
als  seien  „sämtliche"  Feststellungen  der  deutschen  Regie- 
rung aus  jenen  Tagen  um  so  mehr  erlogen,  je  mehr  sie  durch 
die  wiederholten  Beteuerungen  ihrer  absoluten  „Zuverlässigkeit" 
und  „Zv/eifelslosigkeit"  bekräftigt  werden. 

Es  ist  eine  furchtbare  Tragödie  sittlichen  Zusammenbruchs,  die 
den  Krieg  einleitete. 

Doch  sollte   dabei   das   Satyrspiel   nicht   fehlen. 

Mit  den  „Ansammlungen"  französischer  Truppen  an  der  belgi- 
schen Grenze  mochte  man  auf  den  naiven  Deutschen  Eindruck 
machen,  dem  der  Kriegsrausch  in  den  Augusttagen  bereits  die 
Sinne  benebelte.  Aber  man  wollte  doch  auch  England  davon 
überzeugen,  daß  man  rum  Einbruch  in  Belgien  gezwungen  sei. 
Dazu  brauchte  man  stäriicre  Argumente,  Wonach  haschte  man 
damals  nicht I  Die  sagenhaften  Flieger  mußten  auch  da  wieder 
aushelfen.  Wie  haben  den  Text  der  deutschen  Kriegserklärung 
an  Frankreich  bereits  mitgeteilt.  In  ihr  fällt  es  auf,  daß  sie 
betont,  mehrere  der  Flieger  hätten  offenkundig  die  belgische  Neu- 
tralität verletzt,   Indem  sie  belgisches  Gebiet   überflogen. 

Daß  diese  unfaßbaren  Flieger  in  England  besonderen  Eindruck 
machen  würden,  war  indes  nicht  zu  erwarten.  Man  mußte 
trachten,  auf  festen  Boden  zu  kommen.  Vielleicht  brachte  das 
Automobil,  was   der  Flieger   versagte. 

Am  2.  August  telegraphierte  der  Regierungspräsident  in  Düssel- 
dorf an  den  Reichskanzler: 

„Landrat  Geldern  telegraphiert  gestern,  hiesiges  Bataillon  meldet, 
daß  heute  früh  80  französische  Offiziere  in  preußischer  Offiziers- 
uniform mit  12  Autos  Grenzüberschreitung  nach  hier  bei  Walbeck 

163 


vergeblich  versuchten.  Auf  Anfrage  feilt  Landrat  ferner  mit,  Ad- 
jutant dortigen  Bataillons  meldet  nachträglich,  daß  Meldung  &e- 
züglich  der  80  französischen  Offiziere  in  der  Hauptsache  bestätigt 
sei.  Autos  seien  auf  holländischem  Gebiet  zurücftgeblieben. 
Ein  Offizier,  der  vorgegangen  war,  sei  vor  bewaffnetem  Wider- 
stand zurücttgegangen." 

Nehmen  wir  einen  Moment  an,  die  Meldung  sei  „in  der  Haupt- 
sache" richtig,  nicht  das  Produkt  der  erhitzten  Phantasie  einiger 
auigeregter  Grenzwächter. 

Dann  lag  vor  allem  eine  Verletzung  nicht  der  belgischen, 
sondern   der   holländischen   Neutralität  vor. 

Weiter  aber,  was  hatten  n^h  der  Meldung  die  Grenzwächter 
gesehen?  12  Autos  mit  80  Insassen  in  preußischer  Offiziers- 
uniform. Einer  von  ihnen,  der  ausstieg  und  die  Grenze  über- 
schritt, wurde  merkwürdigerweise  von  den  Grenzwächtern  nicht 
gleich  dem  Hauptmann  von  Köpenick  angesichts  seiner  Uniform 
mit  Respekt,  sondern  mit  bewaffnetem  Widerstand  empfangen. 
Dabei  sahen  die  V/ächter  sofort,  daß  die  achtzig  Mann  in  den 
Automobilen  ihre  Uniform  zu  Unrecht  trugen.  Sie  wußten  aber 
auch  ohne  weitere  Untersuchung,  daß  die  verkleideten  Leute- 
nicht  etwa  Holländer  waren,  sondern  Franzosen,  ja  französische 
Offiziere,  die  durch  Belgien  nach  Holland  und  dann  an  die  deut- 
sche Grenze  gefahren  waren.  Diese  Herren  hatten  offenbar,  um 
unauffällig  durch  Belgien  und  Holland  durchzukommen,  es  vor- 
gezogen, statt  in  Zivil  zu  reisen,  preußische  Uniform  anzuziehen! 

Die  ganze  Geschichte  v/ar  ebenso  sinnlos  vne  die  am  gleichen 
Tage  berichtete  von  dem  französischen  Arzt,  der  mit  zwei  anderen 
Franzosen  in  Metz  dabei  ertappt  wurde,  wie  er  Brunnen  mit 
Cholerabazillen  infizierte.  Man  wagte  später  nicht  mehr,  von 
diesen  Geschichten  Gebrauch  zu  machen.  Am  2.  August  aber 
brachte  Jagow  es  fertig,  sie  nicht  nur  ernst  zu  nehmen,  sondern 
sogar  eine  diplomatische  Aktion  daran  zu  knüpfen.  Er  telegra- 
phierte die  Historie  von  den  Cholerabazillen  nach  Rom  mit  dem 
Auftrag,  sie  in  der  dortigen  Presse  zu  verbreiten.  Und  an  den  Bot- 
schafter in  London  und  die  Gesandten  in  Brüssel  und  dem  Haag 
sandte  er  folgende  Depesche; 

„Bitte  dortiger  Regierung  mitzuteiUn,  daß  heute  früh  80  fran- 
zösische Offiziere  in  preußischer  Offiziersuniform  mit  12  Autos 
deutsche  Grenze  bei  Walbeclt  westlich  Geldern  zu  überschreiten 
versuchten.  Dies  bedeutet  d  enftbar  schwerste  N  eu- 
tralitätsverletzung    durch   F  r  anfir  eic  h." 

164 


Man  mußte  völlig  den  Kopf  verloren  haben,  um  sich  in  dieser 
Weise  vor  dem  Ausland   lächerlich   zu  inachen, 

Geldern  liegt  übrigens  nahe  bei  Wesel,  wo  man  den  französi- 
schen Flieger  heruntergeholt  haben  wollte.  Das  Militär  in  jener 
Grenzgegend  scheint  besonders  schreckhaft  und  zur  Gespenster- 
seherei  geneigt  gewesen  zu  sein. 

Noch  weiter  als  Jagow  ging  dann  der  General  Emmich.  Er 
begründete  den  Einfall  in  Belgien  mit  einer  Proklamation,  in  der 
es  hieß: 

„Unsere  Truppen  handelten  unter  dem  Zwang  einer  un- 
abweisbaren Notwendigkeit,  da  die  belgische  Neu- 
tralität durch  französische  Offiziere  verletzt  worden  ist.  die  ver- 
kleidet das  belgische  Gebiet  in  Automobilen  betreten  haben,  um 
nach  Deutschland  zu  gelangen."  (Zitiert  von  Dr.  E.  J.  Gumbel 
in  seiner  Schrift:  „Vier  Jahre  Lüge,"  S.  9.)        * 

In  seiner  Kriegsrede  vom  4.  August  schämte  sich  Bethmann 
Hollveg,  von  dieser  albernen  Begründung  des  Einfalls  Gebrauch 
zu  machen.  Er  gab  zu,  daß  der  Überfall  über  Belgien  „den  Ge- 
boten des  Völkerrechts  widerspricht",  sowie  daß  die  französische 
Regierung  in  Brüssel  erklärt  hatte,  die  Neutralität  Belgiens 
respektieren  zu  wollen,  so  lange  sie  der  Gegner  respektiere.  Er 
vergaß,  zu  bemerken,  daß  Jagow  es  abgelehnt  hatte,  die  gleiche 
Erklärung  abzugeben.     Er  fuhr  fort: 

„Wir  wußten  aber,  daß   Franfireich   zum   Einfall  bereit  stand." 
Jawohl,    wir   wußten    schon    am    29.    Juli,    daß    Frankreich    am 
1.  August  zum  Einfall  bereit   stand. 

„Franfzreich  Jionnte  warten,  wir  aber  nicht,  und  ein  französi- 
scher Einfall  in  unsere  Flanfie  am  Unterrhein  hätte  verhängnisvoll 
werden  Jtönnen.  So  waren  wir  gezwungen,  uns  über  die  Proteste 
der   luxemburgischen   und   belgischen    Regierung   hinwegzusetzen." 

Hier  ist  von  bereits  erfolgten  Verletzungen  der  belgi- 
schen Neutralität  keine  Rede  mehr.  Der  deutsche  Einmarsch 
•wird  im  Grunde  nur  noch  damit  begründet,  daß  „wir  nicht  Wcirten 
können",  und  das  war  auch  der  einzige  Grund. 

Mit  Lüge  und  Perfidie  wurde  der  Krieg  im  Anfang  Juli  einge- 
leitet, mit  Lüge  und  Perfidie  wurde  er  in  den  ersten  Augusttagen 
begonnen.  Letzteres  war  die  unvermeidliche  Konsequenz  der 
Einleitung.  Auch  diesmal  erwies  es  sich  als  der  Fluch  der  bösen 
Tat,  daß  sie  fortzeugend  immer  Böses  gebären  mußte.  Regierung 
und  Heeresleitung  wurden  die  Lüge  nicht  mehr  los,  der  sie  sich 

165 


einmal  ergeben  hatten,  und  sie  mußten  das  Lüj^engebäude  immer 
höher  auftürmen,  bis  es  am  9.  November  1918  krachend  zu- 
sammenbrach. 

20.  Dia  Revolutionierung  der  Welt. 

Die  ganze  Kriegspolitik  Wilhelms  und  seiner  Leut«  war  von 
Aniang  an  auf  falschen  Voraussetzungen  aufgebaut  gewesen.  Sie 
hatten  sich  zur  Teilnahme  an  dem  serbischen  Abenteuer  ent- 
schlossen in  der  Erwartung,  es  werde  den  Mittelmächten  einen 
leichten  Triumph  über  Rußland  und  wohl  auch  Frankreich 
bringen.  B^tdc  Mächte  unzureichend  gerüstet,  würden  entweder 
den  Schlag,  den  Österreich  der  russischen  Macht  auf  dem  Balkan 
versetzte,  ruhig  hinnehmen;  oder,  wenn  sie  sich  zu  einem  Kriege 
hinreißen  ließen,  ^vürden  sie  leicht  besiegt  werden,  da  Italien 
und  Rumänien  hinter  Deutschland  ständen  und  England  neutral 
bleiben  werde.  So  würde  Deutschland  auf  jeden  Fall  Ruhm  und 
Macht  gewinnen.  Wenn  der  Konflikt  zum  Krieg  würde,  stand 
auch  Landgewinn   in   Aussicht. 

Da,  am  29.  Juli,  stellte  sichs  heraus,  daß  die  Rechnung  falsch 
war.  Es  v/ar  zu  befüchten,  daß  im  Falle  des  Krieges  gegen 
Rußland  und  Frankreich  Rumänien  und  Italien  nicht  mittaten, 
und  vor  allem  Englands  aktive  Gegnerschaft  eintrat.  Nun  drohte 
das  Spiel  gefährlich  zu  werden.  Von  da  an  trachtete  Bethmann 
aus  ihm  mit  heiler  Haut  herauszukommen,  aber  nun  wars  zu  spät. 
Österreich  hatte  den  Krieg  gegen  Serbien  bereits  begonnen,  und 
mit  seiner  eigenen  Mobilisierung  den  Wettlauf  der  Kriegsvor- 
bereitungen eröffnet,  und  als  er  aus  diesem  gefährlichen  Stadium 
herauswollte,  stieß  Bethmann  auf  den  Widerstand  der  österreichi- 
schen Regierung  und  des  eigenen  Generalstabs,  der  aus  jener  ge- 
spwinnten  Situation  nur  noch  einen  Ausweg  sah;  raschestes 
Losschlagen.  Und  schließlich  verlor  er  völlig  den  Kopf  und  goß 
öl  ins  Feuer,  das  er  zu  löschen  wünschte.  So  wurde  aus  dem 
frivolen  serbischen  Abenteuer  die  entsetzliche  Tragödie  des  Welt- 
kriegs. 

Aber  wie  die  diplomatische  Berechnung  Bethmann  Hollwegs  vom 
Anfang  Juli,  erwies  sich  die  militärische  Moltkes  vom  Ende  des 
gleichen  Monats  als   falsch. 

Das  rasche  Losschlagen  konnte  den  Sieg  nur  sichern  unter  der 
Voraussetzung,  daß  Belgien  sich  widerstandslos  unterwarf  und 
den   deutschen   Durchzug    ohne    Gegenwehr    gestattet      Dann    lag 

166 


der  Erfolg  Deutschlands  nahe,  gerade  deswegen,  weil  die  Be- 
gründung des  deutschen  Einfalls  in  Belgien  eine  erfundene  war, 
das  heißt,  weil  die  Franzosen  an  ihrer  Nordgrenze  keine  starken 
Truppenaufgebote  stehen  hatten. 

Wehrte  sich  Belgien  nicht,  dann  durfte  die  deutsche  Heeres- 
leitung erwarten,  mit  einigen  entscheidenden  Schlägen  schleunigst 
bis  nach  Paris  und  Calais  zu  dringen,  Frankreich  zum  Frieden 
zu  zwingen  und  nicht  minder  England,  dessen  Eingangstor,  Dover, 
in  das  Bereich  der  weittragenden  deutschen  Geschütze  geriet,  die 
dort  die  Passage  über  den  Kanal  beherrschten.  Mit  Rußland 
fertig  zu  werden,  war  keine  schwere  Aufgabe  mehr. 

Aber  Belgien  leistete  Widerstand.  Er  wurde  natürlich  ge- 
brochen, gab  aber  den  Franzosen  Zeit,  ihre  Nordgrenze  besser 
zu  bewehren.  In  der  Marneschlacht  kam  der  deutsche  Vormarsch 
zum  Stehen  und  damit  war  die  militärische  Voraussicht  des  Sieges 
ebenso  zunichte  gemacht,  wie  früher  schon  die  politische.  Die 
Fortsetzung  des  Krieges  gegen  die  Übermacht,  die  von  da  an  von 
Tag  zu  Tag  wuchs,  mußte  nun  zu  jenem  Verbluten  Deutschlands 
führen,  das  Wilhelm  schon  am  30.  Juli  1914  vorausgesehen,  zwei 
Tage  bevor  er  Rußland  den  Krieg  erklärte.  Das  furchtbare 
Ringen  ging  nur  noch  darum,  ob  mit  Deutschland  auch  seine 
Gegner  verbluten  sollten  oder  nicht.  Bei  Rußland  ist  dies  edle 
Ziel  vollauf  erreicht  worden.  Nicht  ganz  so  gelang  es  mit  Frank- 
reich und  Italien,  noch  weniger  mit  England  und  schon  ganz  und 
gar  nicht  mit  Amerika  und  Japan,  die  im  Gegenteil  enorm  ge- 
wannen. 

Und  es  ist  ein  Glück,  daß  der  Krieg  nicht  zum  Verbluten  der 
ganzen  Welt  führte,  denn  wer  wäre  dann  übrig  geblieben,  den 
Verblutenden  die  Wunden  zu  «rbinden  und  ihnen  Nahrung  ein- 
zuflößen? 

Von  dem  Tage  an,  daß  Belgien  sich  zum  Widerstand  entschloß 
und  England  in  den  Krieg  eintrat,  wurde  Deutschlanids  Lag«  eine 
verzweifelte. 

Das  erkannte  man  sofort  im  deutschen  Generalstab  und  er  zog 
ohne  weiteres  in  seiner  Art  die  Konsequenzen  daraus.  Das  be- 
zeugt unter  anderm  eine  Denkschrift,  die  der  Chef  des  General- 
stabs dem  Auswärtigen  Amt  am  5j,  August  zusandte  und  In  der 
die  Kriegspolitik  festgelegt  wird  —  ein  neuer  Beweis  dafür,  daß 
der  Leiter  der  deutschen  Politik  nunmehr  der  Chef  des  General- 
$tabs  war  imd  nicht  der  Reichskanzler,  der  nur  noch  des  ersteren 
Aufträge  auszuführen  hatte.     Die  Denkschrift  lautetet 

167 


„Die  Kriegserklärung  Englands,  die  nach  sichern  Nachrichten 
von  Beginn  des  Konflikts  an  beabsichtigt  war,  zwingt  uns,  alle 
Mittel  zu  erschöpfen,  die  zum  Siege  beitragen  können.  Die  ernste 
Lage,  in  der  das  Vaterland  sich  befindet,  macht  die  Anwendung 
jedes  Mittels  zur  Pflicht,  das  geeignet  ist.  den  Feind  zu  schädigen. 
Die  skrupellose  Politik,  die  unsere  Gegner  gegen  uns  führen,  be- 
rechtigt   zu    rücksichtslosem    Vorgehen. 

Die  Insurrektion  Polens  ist  eingeleitet.  Sie  wird  auf  frucht- 
baren Boden  fallen,  denn  schon  jetzt  werden  unsere  Truppen 
in  Polen  fast  als  Freunde  begrüßt.  In  Wloclavek  z.  B.  sind  sie 
mit  Salz  und  Brot  empfangen. 

Die  Stimmung  Amerikas  ist  Deutschland  freundlich.  Die  ameri- 
kanische öffentliche  Meinung  ist  empört  über  die  schmachvolle 
Art,  in  der  man  gegen  uns  vorgegangen  ist.  Diese  Stimmung  gilt 
es  nach  Kräften  auszunutzen.  Die  einflußreichen  Persönlichkeiten 
der  deutschen  Kolonie  müssen  aufgefordert  werden,  die  Presse 
weiter  in  unserem  Sinne  zu  beeinflussen.  Vielleicht  lassen  sich 
die  Vereinigten  Staaten  zu  einer  Flottenaktion  gegen  England 
veranlassen,  für  die  ihnen  als  Siegespreis  Kanada  winkt. 

Von  höchster  Wichtigkeit  ist,  wie  ich  schon  in  meinem  Schreiben 
vom  2.  d.  Mts.  Nr.  1  P  ausführte,  die  Insurrektion  von  Indien  und 
Ägypten,  auch  im  Kaukasus.  —  Durch  den  Vertrag  mit  der  Türkei 
wird  das  Auswärtige  Amt  in  der  Lage  sein,  diesen  Gedanken  zu 
verwirklichen  und  den  Fanatismus  des  Islam  zu  erregen. 

(gez.)  V.  Moltke. 

Wir  sehen  davon  ab,  daß  Herr  v,  Moltke  dem  Reichskanzler 
Bogar  zumutete,  ohne  jeden  Beweis,  auf  das  bloße  Vorgeben 
„sicherer  Nachrichten"  hin,  eine  Behauptung  gläubig  hinzu- 
nehmen, wie  die,  daß  „Englands  Kriegserklärung  von  Beginn  des 
Konflikts  an  beabsichtigt  war". 

Furchtbarer  ist  es,  daß  der  Generalstab  schon  im  Anfange  des 
Krieges  aus  der  verzweifelten  Lage,  in  die  er  Deutschland  durch 
seine  eigene  Politik  gebracht  hatte,  nicht  den  Schluß  zog,  den 
jeder  vernünftige  Zivilist  gezogen  hätte,  wenigstens  solange,  als 
er  nicht  selbst  vom  militaristischen  Kriegsfieber  angesteckt  war, 
daß  man  trachten  müsse,  das  Reich  so  rasch  als  möglich  durch 
eine  Politik  der  Versöhnlichkeit  und  des  ausgesprochenen  Ver- 
zichts auf  jegliche  Eroberung  aus  dieser  gefahrvollen  Lage  zu 
befreien,  sondern  daß  er  schloß,  nun  gelte  es,  jedes  Mittel  in 
Anwendung  zu  brin<;;en,  das  den  Feind  schädigen  konnte,  ohne 
Rücksicht     auf     die     Konsequenzen,     und     aufs     schonungs- 

168 


loseste  vorzugehen.  Damit  beschritt  er  jene  Bahn  wohlüber- 
legter Scheußlichkeiten,  die  militärisch  nichts  halfen,  da  sie  vom 
Gegner  nachgeahmt  werden  konnten  und  dann  oft  mit  verstärkter 
Wucht  auf  die  Armee  und  das  Volk  Deutschlands  zurückfielen, 
die  aber  vor  allem  das  Ansehen  Deutschlands  in  der  Welt 
vollends  ruinierten.  Hatte  ihm  der  Einfall  in  Belgien  die  letzten 
Freunde  geraubt,  so  verwandelten  die  sofort  gerade  in  Belgien 
einsetzenden  Scheußlichkeiten  der  deutschen  Kriegführung  den 
Respekt,  den  ehemals  Deutschlands  Leistungen  sogar  bei  seinen 
Gegnern  erzeugt  hatten,  in  wütenden  Haß  und  wegwei'fende  Ver- 
achtung selbst  bei  den  Neutralen,  und  erzeugten  jene  Stimmung, 
die  es  schließlich  ermöglichte,  daß  nicht  nur  Amerika  in  den 
Krieg  eintrat,  sondern  daß  die  Sieger  am  Ende  uns  Friedens- 
bedingungen von  ausschweifendster  Härte  auferlegen  durften, 
ohne  ausreichenden  Widerstand  bei  ihren  Völkern  zu  finden. 

Aus  einer  selbst  herbeigeführten  Not  geboren,  die  glaubte,  kein 
Gebot  anerkennen  zu  müssen,  hat  diese  Kriegführung  die  deutsche 
Not  auf  den  Gipfel  gesteigert. 

Noch  eines  ist  an  den  Ausführungen  Moltkes  bemerkenswert. 
Sie  spinnen  einen  Gedanken  weiter,  der  Wilhelm  bereits  am 
30.  Juli  in  seiner  ersten  Bestürzung  über  Englands  Warnung 
aufgedämmert  war.  Schon  damals  hatte  er  die  Revolutionierung 
der  Mohammedaner  und  Indiens,  wenn  nicht  zur  Rettung  Deutsch- 
lands, so  zur  Ruinierung  Englands  ins  Auge  gefaßt,  Mollke  fügt 
hinzu  die  Insurrektion  Polens.  Und  er  hofft  die  Vereinigten 
Staaten  zu  gewinnen,  indem  er  ihnen  Kanada  in  Aussicht  stellt! 

Diese  sinnreiche  Politik  wurde  im  Kriege  immer  weiter  ge- 
trieben. Da  die  Vereinigten  Staaten  nicht  zu  gewinnen  waren, 
stellte  man  nun  Mexiko  einige  Staaten  der  Union  in  Aussicht. 
Gleichzeitig  aber  suchte  man  Rettung  bei  den  Rebellen  Irlands, 
bei  Anarchisten  Italiens,  Dynamitern  in  Amerika  und  schließlich 
bei  den  Bolschewisten  Rußlands,  die  alle  nach  Kräften  vom  deut- 
schen Generalstab  gefördert  wurden. 

Man  sieht,  Lenin  und  Trotzki  sind  nicht  die  ersten,  die  in  der 
durch  ihre  Emissäre  herbeigeführten  Weltrevolution  die  Rettung 
aus  einer  unmöglichen  Situation  sahen.  Wilhelm  und  Moltke 
waren  ihnen  damit  vorausgegangen. 

Wie  jede  Aktion  ihrer  Wcltpolitik  vollzogen  sie  auch  diese 
ohne  jegliche  tiefere  Kenntnis  der  Welt,  die  sie  beherrschen  oder 
bewegen    wollten,      Sie    wendeten    die    ungeeignetsten    Mittel    an, 

169 


riefen  die  ungeeignetsten  Faktoren  zu  Hilfe,  ließen  sich  von  den 
unerfüllbarsten  Erwartungen   leiten. 

Ein  Pröbchen  der  Art,  wie  man  die  mohammedanische  Welt  zu 
rebellieren  suchte,  erzählt  Bernhard  Shaw  in  seinen  „Peace  Con- 
ference Hints"    (London,   1919,  S.  90): 

„In  der  ersten  Zeit  des  Krieges  wünschte  die  deutsche  Re- 
gierung eine  Rebellion  gegen  die  Franzosen  in  Marokko  und 
Algier  hervorzurufen  und  verbreitete  zu  diesem  Zweck  eine  Flug' 
schritt  in  bestem  Arabisch,  in  der  es  hieß,  ich  (Shaw)  sei  ein 
großer  Prophet  und  ich  hätte  einmal  einem  amerikanischen 
Senator  gesagt,  die  Verletzung  der  belgischen  Neutralität  sei  eine 
Episode  des  Krieges  und  nicht  seine  Ursache.  Es  ist  mir  ganz 
unmöglich,  jenen  Weg  des  deutschen  Denkens  zu  verfolgen,  der 
zu  dem  Schluß  führte,  irgend  ein  maurischer  Scheik  könnte  ver- 
anlaßt werden,  die  Waffen  zu  ergreifen,  weil  irgend  ein  Hund 
von  einem  Ungläubigen  zu  einem  andern  Hund  von  einem  Un- 
gläubigen eine  Bemerkung  machte,  die  für  einen  Marokkaner 
weder  von  Interesse  noch  überhaupt  verständlich  sein  konnte. 
Aber  die  Deutschen  waren  dieser  Meinung  und  gaben  Geld 
dafür  aus." 

Sie  verloren  dabei  leider  nicht  nur  Geld,  sondern  auch  ihren 
guten  Namen,  denn  sie  beschränicten  sich  nicht  darauf,  Flugblätter 
bei  den  Feinden  zu  verbreiten,  sie  benutzten  auch  den  Schutz  der 
Exterritorialität  ihrer  Vertretungen  bei  den  Neutralen,  um  Atten- 
tate der  verschiedensten  Art  auf  Leben  und  Eigentum  der  feind- 
lichen   Zivilbevölkerung    hervorzurufen. 

Erfolg  hatten  sie  nicht,  außer  im  Osten.  Wie  di«  deutsche 
Politik,  mit  Deutschland  zusammen  auch  seine  Gegner  verbluten 
zu  lassen,  nur  in  Rußland  zu  dem  angestrebten  Ziel  gelangte,  so 
erreichte  sie  auch  nur  dort  ihr  Ziel  der  Revolutionierung  der  Be- 
völkerung. Die  beiden  Ziele  hingen  eben  aufs  engste  mit  einander 
zusammen,  und  dem  russischen  militärischen  Zusammenbruch 
wäre  der  Sturz  des  Zarismus  gefolgt  auch  ohne  die  Förderung  des 
Bolschewismus    durch   die   deutsche   Regierung, 

Die  Borniertheit  der  deutschen  Politik  zeigte  sich  hier  auch 
wieder  darin,  daß  sie  nicht  merkte,  wie  sie  in  dem  Bestreben, 
das  Haus  des  Nachbarn  anzuzünden,  das  eigene  in  Flammen 
steckte, 

Sie  huldigte  dem  Aberglauben,  den  sie  allerdings  mit  vielen  An- 
hängern der  Weltrevolution  gemein  hat,  als  ließen  sich  Revo- 
lutionen   durch    geschickte    iind    rührige    Emissäre,    die    über    di« 

170 


nötigen  Geldmittel  verfingen,  nach  Belieben  hervorrufen.  Sie 
fügte  dem  aber  noch  den  weiteren  Aberglauben  hinzu,  als  könne 
man  die  Geister,  die  man  rief,  nach  Belieben  kommandieren  und, 
nachdem  sie  ihre  Schuldigkeit  getan,  wieder  in  die  Ecke  stellen. 
Es  war  unglaublich  kurzsichtig  von  einer  deutschen  kapi- 
talistisch-großagrarischen Militärmonarchie,  die  den  Antimili- 
tarismus und  die  proletarische  Revolution  haßte  wie  die  Sünde, 
die  schärfsten  Verfechter  der  proletarischen  Revolution  und  der 
Auflösung  der  militärischen  Subordination  zu  fördern,  wie  es  die 
Bolschewik!  im  Stadium  ihres  Kampfes  um  die  politische  Macht 
waren.  Die  russische  Revolution  und  namentlich  ihr  zweiter  Akt, 
der  Sieg  des  Bolschewismus,  hat  auf  das  deutsche  Proletariat 
und  auch  auf  die  deutsche  Armee  den  tiefsten  Eindruck  ge- 
macht und  ihre  revolutionäre  Entschlossenheit  gewaltig  erhöht. 
Daß  bei  den  deutschen  Generalstäblern  ihre  frühere  Liebe  zu  den 
Bolschewisten  sich  dann  in  den  grimmigsten  Haß  verwandelte, 
hat  die  revolutionäre  Rückwirkung  des  Bolschewismus  auf 
Deutschland   nicht  vermindert,   sondern  vielmehr   gesteigert. 

So  sind  die  Machthaber,  die  den  Weltkrieg  entzündet  haben, 
schließlich  mit  ihren  eigenen  Waffen  geschlagen  worden.  Inso- 
fern war  die  Weltgeschichte  wieder  einmal  das  Weltgericht,  was 
ihr  nicht  oft  passiert,  denn  die  Welt  ist  durchaus  nicht  teleo- 
logisch eingerichtet, 

Wilhelm  hatte  den  Zusammenbruch  bereits  am  30.  Juli  ge- 
ahnt, ehe  von  ihm  noch  der  Krieg  erklärt  war.  Wenn  die  Pompa- 
dour das  Wort  gesprochen  haben  solh  „Nach  uns  die  Sint- 
flut", so  düi-fte  man  bei  Wilhelm  das  Wort  dahin  variieren: 
„Durchhalten  bis  zur  Sintflut". 

21.  Der  Weltkrieg  und  das  deutsche  Volk. 

Daß  die  Machthaber  Deutschlands,  die  den  Krieg  entfesselten, 
dabei  unsäglich  leichtfertig,  kurzsichtig,  kopflos  gehandelt  haben, 
darin  ist  alle  Welt  seit  dem  Erscheinen  der  österreichischen 
Dokumente  einig.  Bloß  über  die  moralischen  Qualitäten  ^  der 
Schuldigen  wird  noch  gestritten.  Die  Frage  darüber  ist  wichtig 
für  die  Beurteilung  der  Personen,  die  in  Frage  kommen, 
nicht  der  Institutionen,  Wie  immer  das  moralische 
Urteil  ausfallen  mag  —  es  dürfte  nach  der  Kenntnisnahme  der 
deutschen  Akten  nicht  sehr  strittig  sein,  —  das  politische 
war  schon  längst  möglich.     Es  lautete  auf  Verurteilung  der  Unter- 

171 


werfung  der  Zivilgewalt  unter  die  Militärgewalt  und  auf  Ver- 
urteilung der  Monarchie. 

Wir  haben  schon  vorher  bei  der  Behandlung  des  Falls  Szögycny 
bemerkt,  daß  ein  Idiot  als  leitender  Staatsmann  für  das  Gemein- 
wesen  gefährlicher   ist   als   ein   Schurke; 

Daß  Schurken  an  die  Spitze  des  Staats  kommen,  kann  keine 
Verfassung  verhindern,  mag  sie  noch  so  fein  ausgetüftelt  sein, 
keine  Demokratie,  kein  Rätesystem,  aber  auch  keine  Aristokratie 
und  wäre  sie  eine  von  Philosophen  nach  platonischem  Muster. 
Aber  bei  Jeder  Verfassung  eines  Staates  ebenso  wie  einer  Partei, 
einer  Gemeinde,  einer  Kirche,  einer  sonstigen  Organisation, 
deren  Leitung  nur  solchen  anvertraut  wird,  die  sich  das  allge- 
m.eine  Vertrauen  der  Beteiligten  erworben  haben,  wird  ein 
Hallunke  an  die  Spitze  nur  gelangen  können  durch  große  Dienste, 
die  er  dem  C-emeinwesen  erweist,  durch  eine  überlegene  Intelli- 
genz, durch  die  er  imponiert.  Daß  gelegentlich  nicht  bloß 
Hallunken,  sondern  auch  Trottel  oder  Verrückte  den  Staat  be- 
herrschen, das  wird  nur  möglich  in  der  Erbmonarchie,  die  die 
Persönlichkeit  des  Staatsoberhaupts  abhängig  macht  nicht  von 
den  Diensten,  die  es  dem  Staat  erweist,  sondern  den  Zufällig- 
keiten des  landesväterlichen  Ehebetts. 

Indes  vollständig  kopflos  handelte  das  Regime  nicht,  das  den 
Krieg  über  uns  hereinbrachte.  So  unfähig  und  unwissend  sich  die 
Reichsregierung  in  ihrer  äußeren  Politik  erwies,  so  meisterhaft 
verstand  sie  in  den  entscheidenden  Tagen  im  Innern  sich  das 
Vertrauen  des  deutschen  Volkes  in  demselben  Maße  steigend  zu 
gewinnen,  in  dem  sie  da^der  übrigen  Völker  verlor. 

Wir  haben  gesehen,  wie  entschieden  die  deutsche  Sozialdemo- 
kratie gegen  die  frivole  Herausforderung  des  Weltkrieges  auf- 
trat, die  im  österreichischen  Ultimatum  an  Serbien  lag,  und  wie 
Wilhelm  Demonstrationen  der  „Sozi"  für  den  Frieden  übel  ver- 
merkte und  Gewaltmaßregeln  gegen  sie  in  Aussicht  stellte. 

Hätte  die  deutsche  Sozialdemokratie  gewußt,  daß  ihre  Re- 
gierung von  dem  österreichischen  Ultimatum  nicht  iüierrascht 
wurde,  daß  sie  seine  praktische  Tendenz,  wenn  auch  vielleicht 
nicht*  seinen  Wortlaut  schon  vor  seiner  Überreichung  in  Belgrad 
wohl  kannte  und  daß  sie  nicht  der  friedliche  Dritte  war,  der 
zwischen  dem  Bundesgenossen  und  dessen  Gegner  zu  vermitteln 
suchte,  sondern  der  Mitverschworene  Österreichs,  dann  hätte 
unsere  Partei  —  das  konnte  mein  bei  ihrer  dzunaligen  Haltting  be- 
stimmt erwarten  —  sich  mit   derselben  Schärfe  ge^en  die  deut- 

172 


sehe  wie  gegen  die  osten*eichische  Regierung  gewendet.  Dann 
mußte  Wilhelm  entweder  auf  den  Krieg  verzichten  oder  ihn  damit 
beginnen,  daß  er  sämtliche  Führer  der  Sozialdemokratie  hinter 
Schloß  und  Riegel  steckte,  das  heißt,  daß  er  gleichzeitig  der 
Entente  und  dem  deutschen  Proletariat  den  Krieg  erklärte.  Das 
herrschende  System  wäre  dann  von  vornherein  verloren,  freilich 
aber  das  deutsche  Volk  gerettet  gewesen.  Diese  Gefahr  für  die 
Regenten  des  Reichs  erkannte  denn  auch  Bethmann  Hollweg 
von  vornherein  und  sein  Bestreben  ging  viel  weniger  darauf  aus, 
den  Krieg  zu  verhindern,  als  eine  günstige  moralische  Basis  für 
ihn  im  deutschen  Volke  zu  schaffen.  Dem  galt  sein  vornehmstes 
Interesse,  sein  ganzer  Scharfsinn.  Und  diese  Aufgabe  ist  ihm  ge- 
lungen. Zu  diesem  Zwecke  durfte  das  deutsche  Volk  nichts  von 
alledem  erfahren,  was  sich  seit  der  Tat  von  Serajewo  zwischen 
Österreich  und  Deutschland  tatsächlich  abgespielt  hat  Wohl 
konnte  man  es  nicht  verhindern,  daß  sich  starke  Entrüstung  gegen 
das  österreichische  Vorgehen  entwickelte,  aber  man  verstand  es, 
den  eigenen  Nimbus  des  Friedensfreundes  zu  bewahren,  dessen 
Aufgabe  nur  erschwert  wurde  durch  eine  zweite  Eigentümlichkeit 
des  „deutschen  Gemüts",  die  ebenso  preiswert  war,  wie  die  Fried- 
lichkeit, durch  die  Treue  gegen  den  Freund,  die  sich  auch  dort 
bewährt,  wo  er  'stolpert. 

Das  Ausland  freilich  war  sofort  mißtrauisch  gewesen.  Wir  haben 
Proben  davon  schon  bei  französischen  und  englischen  Staatsmän- 
nern gesehen.  Der  belgisch«  Baron  Beyens  schrieb  am  26.  Juli 
von  Berlin  nach  Brüssel; 

,,Das  Bestehen  eines  zwischen  Berlin  und  Wien  abgekarteten 
Planes  wird  in  den  Augen  meiner  Kollegen  und  den  eigenen  be- 
wiesen durch  die  Hartnäckigkeit,  mit  der  man  sich  in  der  Wilhelm- 
Straße  bemüht,  zu  leugnen,  man  habe  vor  dem  letzten  Donnerstag 
(dem  23.  Juli)  von  dem  Inhalt  der  österreichischer}  Note  Kenntnis 
gehabt." 

Indes  auch  die  mißtrauischsten  Elemente  ahnten  nicht,  wie  weit 
dieser  „abgekartete  Plan"  ging.  Im  deutschen  Volke  selbst  war 
man  weniger  kritisch.  Wohl  wunden  auch  in  seinen  Reihen  Zweifel 
wach,  doch  im  allgemeinen  glaubten  selbst  nicht  diejenigen,  die 
der  Regierung  Wilhelm  jede  Schlechtigkeit  zutrauten,  sie  könnte  so 
unendlich  dumm  sein,  um  Österreichs  serbischer  Schmerzen  willen 
den  Weltfrieden  und  Deutschlands  Zukunft  aufs  Spiel  zu  setzen. 

Und  während  im  Auslande  das  Mißtrauen  gegen  Deustchland 
durch   seine  befremdliche  Haltung   wuchs,   erstand   im   deutschen 


Volke  eine  rasch  steigende  Erre^ng  gegen  Rußland.  Denn  die 
deiitsche  Regierung  wußte  ihren  Nachrichtenapparat  auf  das  ge- 
schicktest« ru  handhaben,  der  in  jenen  Tagen  der  beginnenden  Ab- 
sperrung vcxm  Auslande  für  die  Masse  des  deutschen  Volkes  die 
eineige  Quelle  der  Erkenntnis  in  der  äußeren  Politik  wurde.  Wer 
nur  diese  Nachrichten  kannte,  der  mußte  steif  und  fest  glauben, 
Deutschland  arbeite  fieberhaft  daran,  den  Frieden  zu  erhalten,  es 
gelinge  ihm,  auch  Österreich  dafür  zu  gewinnen,  aber  Rußland  sei 
entschlossen,  die  Gelegenheit  zu  einem  Kriege  zu  benutzen.  So 
stand  in  den  Augen  des  deutschen  Volkes  schließlich  Rußland  als 
der  Friedensstörer  dar,  als  der  Angreifer,  und  Frankreich  sowie 
schließlich  England   als   seine  verbrecherischen  Komplizen, 

Wie  tief  sich  diese  Auffassung  eingewurzelt  hat,  bezeugt  die 
Tatsache,  daß  am  7,  Juni  1915  der  König  von  Bayern  den  schon 
zitierten  Ausspruch  wagen  durfte: 

„Auf  die  Kriegserklärung  Rußlands  folgte  die  Frank- 
reichsr 

Und  in  unseren  Tagen  noch  haben  im  Weißbuch  vom  Juni  dieses 
Jahres  die  vier  „unabhängigen  Deutschen"  nach  vollzogener  Ein- 
sicht in  die  Akten  baeeugt,  daß  der  Krieg  für  Deutschland  ein 
„unvermeidlicher  Abwehrkrieg"  g^egen  Rußland  war.    (S-  44.) 

Da  schien  nun  jener  Moment  einzutreten,  den  aie  deutsche  So- 
zialdemokratie schon  öfters  ins  Auge  gefaßt  hatte,  und  für  den 
auch  die  internationalsten  ihrer  Mitglieder  keinen  Zweifel  darüber 
gelassen  hatten,  daß  sie  es  für  unerläßlich  hielten,  sich  gegen  Ruß- 
land zu  wenden,  und  wenn  dieses  durch  Frankreich  unterstützt 
werde,  auch   gegen   dieses. 

Um  das  Jahr  1900  erklärte  Bcbel,  wenn  es  zum  Kriege  mit 
Rußland  käme,  dem  „Feind  aller  Kultur  und  aller  Unterdrückten, 
nicht  nur  im  eigenen  Lande,  sondern  auch  dem  gefährlichsten  Feind 
von  Europa  imd  speziell  für  uns  Deutsche",  dann  würde  er  „die 
Flinte  auf  den  Buckel  nehmen."  Er  zitierte  und  bekräftigte  dieses 
Wort   1907  auf  dem  Parteitag  in  Essen    (Protokoll  S,  255.) 

Schon  viel  früher  hatte  Friedrich  Engels  sich  zu  der  Frage  ge- 
äußert, im  Jahre  1891,  als  der  „Champagnerrausch  von  Kronstadt 
die  Köpfe  der  französischen  Bourgeoisie  erhitzt  hielt",  die  fran- 
zösisch-russische Allianz  angebahnt  wurde  und  Frankreich  Ihm 
„reif  für  ziemlich  uagemessene  Dummheiten  im  Dienste  Rußlands" 
schien. 

Damals  hielt  er  es  für  notwendig,  damit  im  Falle  eines  Kriege» 
„kein  Mißverständnis   im   letzten  Moment   zwischen   die   französi- 

174 


sehen  und  die  deutschen  Sozialisten  trete,  den  erslcren  klarzu- 
machen, welches  nach  meiner  Überzeugung  die  notwendige  Haltung 
der  letzteren   sein  würde  gegenüber  einem  solchen  Kriege." 

Diesem  Zweck  diente  ein  Artikel,  den  er  im  „Almanach  du 
parti.    ouvrier  pour  1892"  veröffentlichte. 

Er  ging  dort  von  der  Ansicht  aus,  weder  Deutschland  noch 
Frankreich  würden  den  Krieg  provozieren,  denn  er  würde  beide 
verwüsten,  ohne   jeglichen  Nutzen, 

„Rußland  dagegen,  durch  seine  geographische  und  ökonomische 
Lage  gedeckt  gegen  die  vernichtendsten  Folgen  einer  Niederlege, 
Rußland,  das  offizielle  Rußland  allein  kann  bei  einem  so  furcht- 
baren Kriege  sein  Interesse  finden  und  direkt  darauf  hinarbeiten. 
.  .  .  Aber  in  jedem  Fall,  wie  die  politischen  Dinge  heute  liegen, 
ist  zehn  gegen  eins  zu  wetten,  daß  beim  ersten  Kanonenschuß 
an  der  Weichsel  die  französiscen  Armeen  an  den  Rhein  mar- 
schieren. 

Und  dann  kämpft  Deutschland  einfach  um  seine  Existenz  .  .  . 

Was  würde  unter  solchen  Umständen  (wenn  Deutschland  be- 
siegt würde)  aus  der  deutschen  sozialdemokratischen  Partei?  So- 
viel ist  sicher:  weder  der  Zar,  noch  die  französischen  Bourgeois- 
republikaner, noch  die  deutsche  Regierung  selbst  würden  eine  so 
schöne  Gelegenheit  vorübergehen  lassen  zur  Erdrückung  der  ein- 
zigen Partei,  die  für  sie  alle  drei  „der  Feind"  ist  .  .  . 

Wenn  aber  der  Sieg  der  Russen  über  Deutschland  die  Erdrückung 
des  deutschen  Sozialismus  bedeutet,  was  wird  dann  gegenüber 
einer  solchen  Aussicht,  die  Pflicht  der  deutschen  Sozialisten  sein? 
Sollen  sie  die  Ereignisse  passiv  über  Ifich  ergehen  lassen,  die  ihnen 
Vernichtung  drohen?  .  .  . 

Keineswegs.  Im  Interesse  der  europäischen  Revolution  sind  sie 
verbunden,  alle  eroberten  Stellungen  zu  behaupten,  nicht  zu  kapi- 
tulieren, ebensowenig  vor  dem  äußeren,  wie  vor  dem  inneren  Feind. 
Und  das  können  sie  nur,  indem  sie  bis  aufs  äußerste  Ruß- 
land bekämpfen  und  alle  seine  Bundesgenossen, 
wer  sie  auch  seien.  Sollte  die  französische  Republik  sich  in  den 
Dienst  Seiner  Majestät  des  Zaren  und  Selbstherrschers  aller 
Reußen  stellen,  so  würden  die  deutschen  Sozialisten  sie  mit  Leid- 
wesen bekämpfen,  aber  bekämpfen  würden  wir  sie."  (Deutsch 
unter  dem  Titel:  „Der  Sozialismus  in  Deutschland",  Neue  Zeit,  X,  2. 
S.  585,  586.) 

Diese  Gedankengänge  wirkten  noch  1914  in  der  deutschen  So- 
rialdemokratie  nach.     Sie  gingen  jujn  der  Anschauung  aus,  nur  von 

"  175 


Rußland  könne  der  Anstoß  zum  Kriege  kommen,  nicht  von  Deutsch- 
land. Noch  zehn  Jahre  nach  dem  Engelsschen  Artikel  hatte  ich 
ilußland  unter  den  europäischen  Friedensstörern  genannt,  nicht 
Deutschland.  Später  hatte  ich  diese  Bemerkung  allerdings  nicht 
wiederholt.  Seitdem  hatten  sich  auf  der  einen  Seite  in  Rußland 
die  Niederlage  im  Krieg  gegen  Japan  und  die  Revolution,  und 
hatte  sich  auf  der  andern  Seite  Deutschlands  Flottenrüsten  und 
seine   aktive   Politik   in   der   mohammedanischen   Welt   eingestellt. 

Rußland,  mit  der  Revolution  im  Leibe,  war  jetzt  der  Demokratie 
Europas  weniger  gefährlich  geworden  als  die  noch  unerschütterte, 
übermächtige   deutsche  Militärmonarchie, 

Und  schon  gar  nicht  kennte  man  die  deutsche  sowie  die  öster- 
reichische Regierung,  die  1914  ohne  Parlament  regierte,  was  da- 
mals der  Zar  nicht  mehr  zu  tun  wagte,  als  Vorkämpfer  gegen  den 
zarischen  Absolutismus  betrachten. 

Ein  revolutionäres  Rußland  wäre  ihnen  weit  gefährlicher  er- 
schienen als  ein  zaristisches,  ebenso  wie  ein  freies  Serbien  ihnen  als 
schlimmster  Gegner  galt. 

Bezeichnend  in  dieser  Beziehung  sind  die  Randnoten  Wilhelms 
zu  einem  Bericht,  den  Pourtales  aus  Petersburg  am  25,  Juli  über 
eine  Besprechung  mit  Sasonow  machte.     Pourtales   schreibt: 

„Mein  Hinweis  auf  das  monarchische  Prinzip  (das  durch  die 
Serben  verletzt  sei,  K.)  machte  auf  den  Minister  wenig  Eindruck, 
Rußland  wisse,  was  es  dem  monarchischen  Prinzip  schulde." 

Wozu  Wilhelm  hinzufügt; 

„Nach  seiner  Verbrüderung  mit  der  französischen  Sozialrepublik 
nicht  mehr."  ^ 

Außer  dieser  strengen  Zensur,  die  der  Deutsche  Kaiser  dem  rus- 
sischen wegen  übermäßiger  republikanischer  und  sogar  „sozial- 
republikanischer" Sympathien  ausspricht,  ist  in  den  Randglossen 
zu  dem  Pourtales'schen  Bericht  noch  eine  bemerkenswert,  die  be- 
zeugt, mit  welcher  Sorglosigkeit  Wilhelm  noch  am  25,  dem  Kriege 
mit  Rußland  entgegensah,     Pourtales  meldet: 

„Sasonow  rief  aus:  Wenn  Österreich-Ungarn  Serbien  verschlingt, 
werden  wir  mit  ifvn  Krieg  führen" 

Was  Wilhelm  mit  dem  Ausruf  quittiert: 

„Na,  dann  zu!" 

Durch  die  Revolution  in  Rußland  und  durch  Deutschlands  Welt- 
politik war  eine  gegen  1891  ganz  veränderte  Situation  geschaffen. 
Aber  die  alte  Auffassung,  der  Krieg  gegen  Rußland  sei  der  , .heilige 
Krieg"    der    deutschen    Sozialdemokratie    war    in    ihr    noch    stark 


lebendig,  und  sie  hat  im  Verein  mit  der  deutschen  Nachrichtenfär- 
bung gar  manchen  guten  Sozialisten  und  Internationalisten  be- 
wogen, am  4,  August  für  die  Kriegskredite  zu  stimmen,  nicht  unter 
Verleugnung  seiner  Grundsätze,  sondern  in  dem  Glauben,  sie  da- 
durch am  besten  zu  betätigen. 

Es  wäre  freilich  übertrieben,  zu  glauben,  alle  unter  den  deutschen 
Sozialdemokraten  wären  durch  solche  Erwägungen  bestimmt  wor- 
den. Gar  mancher  unter  ihnen  hatte  schon  vor  dem  Kriege  stark 
nationalistisch  gedacht  —  nationalistisch  im  Unterschied  zu  na- 
tional. Unter  letzterem  kann  man  eine  Verfechtung  der  Selbst- 
bestimmung des  eigenen  Volkes  verstehen,  die  Respekt  hat  vor  der 
Selbstbestimmung  jedes  andern  und  die  das  nationale  Interesse 
ebenso  wie  das  private  Interesse  unterordnet  dem  Gesamtinter- 
esse des  internationalen  Proletariats  und  der  Menschheit.  Ein 
Nationalist  dagegen  ist  jener,  dem  die  eigene  Nation  höher  steht, 
als  die  anderen,  dem  die  Interessen  der  Klassengegner  der  eigenen 
Nation  mehr  am  Herzen  liegen  als  die  der  eigenen  Klasse  in  den 
anderen  Nationen. 

Solche  Elemente  gab  es  in  der  deuschen  Sozialdemokratie  schon 
vor  dem  Kriege,  wie  wohl  fast  in  jeder  sozialistischen  Partei.  Der 
Krieg  und  schon  die  beginnende  Kriegsstimmung  haben  mit  einem 
Schlag  den  Nationalismus  mächtig  in  den  sozialistischen  Reihen 
anschwellen  lassen  —  auch  das  wieder  nicht  in  Deutschland  allein. 

Der  Nationalismus  wurde  um  so  stärker,  je  mehr  eine  sozia- 
listische Partei  Massenpartei,  je  rascher  ihr  Anwachsen  vor  dem 
Kriege  gewesen,  je  weniger  daher  die  Mö*ichkeit  für  sie,  ihren 
Anhang  zu  schulen. 

Nirgends  war  sie  so  sprunghaft  angewachsen,  wie  in  Deutsch- 
land, wo  die  Zahl  der  sozialdemokratischen  Wähler  von  1907 — 1912 
um  eine  Million  zunahm.  Wir  stark  das  nationale  Denken  allent- 
halben ist,  das  haben  der  Krieg  und  seine  Folgen  aufs  deutlichste 
gezeigt.  Für  die  große  ungeschulte  Masse  schlägt  es  aber  leicht 
ins  nationalistische  um,  namentlich  bei  starker  Gefährdung  des 
Landes,  wenn  dieses  Denken  nicht  paralysiert  wird  durch  andere 
naheliegende  und  kräftig  wirkende  Momerite,  zum  Beispiel  eine 
rücksichtslose  Politik  der  Verfolgung  der  Sozialisten  durch  ihre 
Regierung. 

Wilhelm  war  zu  einer  solchen  Politik  gewillt.  Daß  dieser  Wille 
nicht  zur  Tat  wurde,  ist  wohl  Bethmann  zuzuschreiben.  Es  dürfte 
seine  einzige  kluge  Handlung  in  jener  Zeit  gewesen  sein. 

177 

12 


Zu  alledem  kam,  daß  die  Menge  der  Gedankenlosen,  und  die 
rekrutierten  sich  aus  allen  Kreisen  und  nicht  zum  wenigsten  aus 
denen  der  Dichter  und  Denker,  dem  Kriege  zujubelten,  weil  sie  er- 
warteten, er  werde  kurz  sein  und  sie  den  Sieg  schon  in  der  Tasche 
zu  haben  glaubten,  während  aus  Petersburg  bei  Ausbruch  des  Krie- 
ges „Katerstimmung"  gemeldet  wird  und  die  Franzosen  mit  düste- 
rem Schweigen  und   zusammengebissenen  Zähnen  ins  Feld  zogen. 

Über  Nacht  loderte  die  Stimmung  des  deutschen  Volkes  auf  in 
kriegerischem  Enthusiasmus  zur  Abwehr  des  Landesfeindes,  von 
dem  man  sich  schnöde  überfallen  und  mit  Vernichtung  bedroht 
wähnte. 

Allen  diesen  Einflüssen  erlag  der  größte  Teil  der  deutschen  So- 
zialdemokratie und  erst  recht  des  übrigen  Volkes.  Hatte  Wilhelm 
am  28,  Juli  noch  den  „Sozis"  mit  Verhaftung  gedroht,  so  konnte 
er  am  1,  August  schon  verkünden,  daß  er  keine  Parteien  mehr 
kenne,  das  heißt,  daß  sie  sämtlich  vor  ihm  kapituliert  hätten. 

So  ist  der  Bethmannschen  Taktik  die  große  Tat  gelungen,  das 
deutsche  Volk  zum  Mitschuldigen  an  der  Kriegspolitik  der  Regie- 
rung zu  machen  in  dem  Sinne,  daß  es  ihr  zustimmte  und  sie  stützte 
bis  zum  militärischen  Zusammenbruch, 

Aber  es  war  nicht  die  w  i  r  k  1  i  c  h  e  Politik  Wilhelms  und  seiner 
Regierung,  für  die  es  enthusiastisch  Gut  und  Blut  einsetzte,  son- 
dern eine  Politik,  die  latsächlich  gar  nicht  bestand,  die  dem  deut- 
schen Volke  bloß  vorgeschwindelt  und  mit  allen  Mitteln  der  Lüge 
bis  zum  schmählichen  Ende  plausibel  gemacht  wurde. 

Gerade  das  geht  aussen  Akten  des  Auswärtigen  Amtes  mit  der 
größten  Deutlichkeit  hervor,  Sie  zeigen,  daß  unter  den  Völkern, 
die  der  wilhelminischen  Kriegspolitik  als  Opfer  dargebracht  wur- 
den, das  deutsche  in  erster  Linie  steht.  Je  mehr  sie  das  wilhelmi- 
nische Regime  belasten,  desto  mehr  entlasten  sie  das  deutsche  Volk, 
denn  sie  bezeugen  auf  das  deutlichste,  daß  es  vom  tatsächlichen 
Verlauf  der  Dinge,  die  zum  Kriege  führten,  keine  Ahnung  hatte, 
weit  weniger,  als  die  anderen  Völker,  weil  jede  Möglichkeit  der 
Kritik  der  Vorgänge  und  der  Aufklärung  der  Massen  durch  jene 
Politiker,  die  aus  einzelnen  Anzeichen  auf  die  Wahrheit  schlössen, 
im  Deutschen  Reiche  während  des  Krieges  abgeschnitten  war. 

Haben  aber  die  anderen  Regierungen  nicht  auch  über  den 
Kriegsausbruch   ireführende   Behauptungen   aufgestellt? 

Das  ist  nicht  ausgeschlossen.  Nach  dem  bekannten  Worte  Bis- 
marcks  wird  nie  so  viel  gelogen,  wie  vor  einem  Kriege,  während 
einer   Wdbl   und   nach   einer    Jagd.     Und    gerade   das   zaristische 

178 


Regime  hat  nie  als  Fanatiker  der  Wahrheit  gegolten.  Aber  die 
Regierungen  der  Entente  hatten  1914  keinen  Grund,  die  Völker  der- 
artig hinters  Licht  zu  führen,  wie  die  der  beiden  Mittelmächte, 
Denn  weder  Frankreich,  noch  England  oder  Rußland  wollten  da- 
mals den  Krieg,  den  sie  fürchteten,  und  mit  Recht,  angesichts  ihrer 
inneren  Schwierigkeiten  und  unzureichenden  Rüstungen,     • 

Außerdem  begann  die  Periode  der  Kriegsvorbereitungen,  die 
Unwahrheiten  und  Verschleierungen  notwendig  machen  konnten, 
für  Deutschlands  Gegner  erst  mit  dem  24,  Juli,  als  sie  von  dem 
österreichischen  Ultimatum  erfuhren,  das  zuerst  die  Kriegs- 
gefahr auftauchen  ließ.  Für  die  Mittelmächte  begann  die  Zeit 
des  Verschleierns,  Verschweigens,  Irreführens  sehen  mit  dem 
5.  Juli,  In  der  Zeit  vom  5,  bis  zimi  23,  Juli  schufen  sie  völlig  un- 
gestört vom  Auslande  und  ohne  jeden  zwingenden  Grund  jenes 
Fundament  von  Verlogenheit,  auf  dem  die  ganze  Kriegführung  auf- 
gebaut wurde. 

Man  kann  dem  deutschen  Volke  keinen  größeren  Dienst  er- 
weisen, als  iffdem  man  die  Lügen  aufdeckt,  die  es  irreführten.  Es 
wird  dadurch  moralisch  vor  aller  Welt  in  jeder  Weise  ent- 
lastet. 

Doch  die  moralische  Entlastung  bleibt  unvollkommen  ohne 
die  politische. 

Irregeführt  durch  die  Staatsmänner  der  Hohenzollern  und  der 
Habsburger,  wurde  das  deutsche  Volk  zum  willigen  Werkzeug  ihrer 
Pläne  gemacht  und  dadurch  in  eine  falsche  Position  versetzt.  Die 
große  Mehrheit  des  deutschen  Volkes  fühlte  sich  fast  bis  zum 
Ende  des  Krieges  und  vielfach  noch  bis  in  unsere  Tage  solidarisch 
mit  denjenigen,  die  es  betrogen  und  es  mit  ganz  Europa  dem  Ruin« 
entgegenführten.  Es  wurde  blind  für  ihre  Verbrechen  und  Ver- 
gehen, es  deckte  sie  und  verfocht  leidenschaftlich  ihre  Unschuld, 

So  wurde  es  trotz  seiner  moralischen  Schuldlosigkeit  doch  be- 
lastet mit  der  politischen  Schuld  seiner  Dynasten  und  ihrer  Hand- 
langer, wurde  es  zum  Objekt  des  wildesten  Hasses  und  Abscheus 
der  ganzen  Welt,  der  ihm  nach  seiner  Niederlage  die  furchtbarsten 
Friedensbedingungen  aufzwang  und  es  wie  eine  Rasse  von  Aus- 
sätzigen behandelte. 

Wer  das  deutsche  Volk  liebt,  nicht  nur  der  nationale  Deutsche, 
sondern  auch  der  internationale  Sozialist  und  Demotkrat,  dem  jede 
Nation  gleich  teuer  ist,  muß  danach  trachten,  es  von  diesem  furcht- 
baren Banne  zu  erlösen,  es  von  der  grauenvollen  Last  zu  befreien, 
die  ihm  das  alte  Regime  aufgebürdet  hat. 

179 

12» 


Dieser  Prozeß  der  Wiedererhebung  des  deutschen  Volkes  in  der 
internationalen  Achtung  wird  immer  wieder  gehindert,  nicht  bloß 
von  jenen,  die  dem  gestürzten  Regime  nach  wie  vor  anhangen  oder 
gar  seine  wirklichen  Mitschuldigen  sind,  sondern  auch  von  Politi- 
kern, die  jetzt  seine  Verderblichkeit  erkannt  haben,  die  sich  aber 
trotzdan  immer  noch  nicht  entschließen  können,  die  Dinge  zu 
sehen,  wie  sie  wirklich  waren, 

Sie  glauben  damit  dem  deutschen  Volke  zu  dienen,  seine  eigene 
Schuldlosigkeit  durch  die  Entschuldigung  seiner  früheren  Herren 
zu  erweisen.  Aber  sie  konservieren  dadurch  nur  den  Anschein  sei- 
ner Schuld,  da  die  seiner  ehemaligen  Regenten  von  Tag  zu  Tag 
immer  offenkundiger  wird. 

Hoffentlich  machen  die  jetzt  mitgeteilten  deutschen  und  öster- 
reichischen Akten  die  Fortführung  dieser  verkehrten  Politik  eben- 
so unmöglich,  wie  sie  im  Innern  eine  Wiederkehr  der  Militärmon- 
archien der  Hohenzollern  und  Habsburger  unmöglich  machen 
'müssen. 

Was  einzelne  tapfere  und  klarsehende  deutsche  Sozialisten  und 
Pazifisten  schon  während  des  Krieges  erkannten  und  offen  pro- 
klamierten, daß  das  deutsche  Volk  von  seiner  Regierung  aufs 
schmählichste  betrogen  und  belogen  worden  ist  und  daß  es  nur  da- 
durch in  den  Krieg  hineingetrieben  werden  konnte,  das  sollte  doch 
endlich  einmal  rückhaltlos,  ohne  jegliches  Wenn  und  Aber  und 
beschönigendes  Suchen  nach  Schuldigen  im  Auslande,  von  allen 
ehrlichen  Elementen  in  Deutschland  zugestanden  werden,  die  nicht 
auf  die  Gottähnlichkeit  der  Hohenzollern  eingeschworen  sind. 

Das  wird  das  beste  Mittel  sein,  das  Vertrauen  der  Völker 
für  Deutschland  wieder  zu  gewinnen  und  dadurch  den  Ein- 
fluß  der  militaristischen  Gewaltpolitik  bei  den  Siegern  zurückzu- 

-ängen,  die  jetzt  die  größte  Gefahr  für  den  Frieden  und  die  Frei- 
heit der  Welt  geworden  ist. 


180 


Nachbemerkung. 


Die  vorliegende  Schrift  war  bereits  im  Druck,  als  mir  die  Ergeb- 
nisse der  Nachforschungen  zu  Gesicht  kamen,  die  das  Auswärtige 
Amt  im  Laufe  des  Oktober,  veranlaßt  durch  die  Herrien  Mont- 
gelas  und  Schücking  in  der  Sache  der  Aufzeichnung  Bussches  über 
die  Vorgänge  vom  5,  und  6.  Juli  in  Potsdam  vorgenommen  hat. 

Ich  konnte  sie  im  Texte  nicht  mehr  berücksichtigen,  halte  es  aber 
doch  für  notwendig,  hier  zu  bemerken,  daß  sie  an  meiner  Auf- 
fassung jener  Vorgänge  nichts  ändern, 

Sie  ergeben,  daß  der  Kaiser  am  6,  Juli  morgens,  den  Admiral 
V.  Capelle  als  Vertreter  des  von  Berlin  abwesenden  Tirpitz  nach 
Potsdam  kommen  ließ  und  ihm  ,,von  der  gespannten  Situation 
Mitteilung  machte,  damit  er  sich  das  weitere  überlegen  könne," 

Außerdem  ließ  Kaiser  Wilhelm  zur  gleichen  Zeit  nach  Potsdam 
einen  Vertreter  des  Generalstabs  kommen.  Als  solcher  erschien 
der  General  v,  Bertrab,  der  in  seiner  Zuschrift  ans  Auswärtige  Amt 
auch  heute  noch  vom  Kaiser  als  ,,S,  M,"  spricht-  Nach  einem  Be- 
richt des  Grafen  Waldersee  habe  der  Kaiser  dem  General  „zur  Mit- 
teilung an  den  Chef  des  Generalstabs  —  General  v,  Moltke  weilte 
damals  in  Karlsbad  —  eröffnet,  daß  er,  der  Kaiser,  dem  Kaiser 
Franz  Josef  zugesagt  habe,  mit  der  deutschen  Macht 
hinter  ihm  zu  stehen,  wenn  aus  dem  seitens 
Ö s t e»r ei ch-Un g a rn s  geplanten  Vorgehen  gegen 
Serbien  Verwickelungen  entstünde n." 

Graf  Waldersee  fügt  hinzu: 

„Für  mich,  der  ich  den  General  v.  Moltke  in  allen  auf  den  Krieg 
bezüglichen  Angelegenheiten  vertrat,  gab  es  infolge  der  Audienz 
des  Generals  v.  Bertrab  in  Potsdam  nichts  zu  veranlassen.  Die 
planmäßigen  Mobilmachungsarbeiten  waren  am  31.  März  1914  ab- 
geschlossen.    Das  Heer  war,  wie  immer  bereit." 

Das  ist  sicher  eine  sehr  interessante  Mitteilung  vom  rein  militä- 
rischen Standpunkte  aus.  Die  politische  Bedeutung  dieser 
Zusammenkünfte    wird    dadurch    ebensowenig    verringert    wie    da- 

181 


durch,  daß  man  sich  gegen  ihre  Bezeichnung  als  , .Beratungen  mit 
militärischen  Stellen"  wehrt  und  sie  bloß  „Audienzen"  nennt. 

Es  ist  auch  nicht  recht  einzusehen,  warum  man  sich  so  sehr  da- 
gegen sträubt,  jene  Besprechungen  zuzugeben.  Es  wäre  ja  geradezu 
der  Gipfel  der  Leichtfertigkeit  gewesen,  hätte  Wilhelm  sie  nicht 
abgehalten,  nachdem  er  einmal  Franz  Josef  versprochen,  „mit  der 
deutschen  Macht  hinter  ihm  zu  stehen",  was  immer  das  serbische 
Abenteuer  nach  sich  ziehen  möge. 

Nachdem  er  einmal  das  zugesagt  hatte  und  gleich  darauf  seine 
Nordlandsfahrt  antrat,  war  doch  eine  Verstänidigiing  der  Chefs 
der  Armee  und  der  Marine  das  mindeste,  wozu  Wilhelm  als  ober- 
ster Kriegsherr  damals  geradezu  verpflichtet  war.  In  dieser  Zu- 
sage, nicht  in  den  militärischen  Beratungen  lag  Wilhelms  Schuld. 
Diese  waren  nur  die  Konsequenzen  der  verhängnisvollen  Zusage, 
die  jetzt  durch  das  Zeugnis  des  Grafen  Waldersee  von  Neuem  be- 
stätigt wird. 

Im  übrigen  bekräftigen  die  Mitteilungen  der  Herren  Capelle,  Ber- 
irab imd  Waldersee  den  Charakter  der  Heimlichkeit,  den  die 
militärischen  Besprechungen  hatten.  Sowohl  Capelle  wie  Bertrab 
wurden  vom  Kaiser  im  Garten  ,, persönlich  ohne  Zeugen"  empfan- 
gen. Jeder  sprach  besonders  mit  ihm  unter  vier  Augen,  Das  war 
allerdings  kein  Kriegsrat  gewöhnlicher  Art.  Um  so  mehr  ge- 
mahnte es  an  eine  Verschwörung, 

Hoffentlich  wird  es  dem  Untersuchungsausschuß  gelingen,  volles 
Licht  in  diese  dunkle  Sache  zu  bringen. 

Aber  für  die  politische  Beurteilung  der  damaligen  Vorgänge  weiß 
man  bereits  genug  über  sie. 


182 


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graphische Fundament  des  Völkerfriedens  .....  10.—  M.  geb. 

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6.—  M, 

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Berlin  am  25.  Mai  l9l9.  gehalten  von  JuliusBab 

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EDUARD  BERNSTEIN 

Subskriptionspreis: 

Jeder  Rand  10  Mark;  in  leichtem  Pappband  12  Mark;  in  gediegenem 

Halblfderband  18  Mark.  Der  Bezug  des  ersten  Bandes  verpflichtet 

zur  Abnahme  des  ganzen  Werkes,   Nach  Schluß  der  Subskription 

wird  der  Preis  erhöht. 

Einteilung  der  zwölf  Bände 

Band  I:  I'alienlscher  Krieg,  Franz  von  Sickingen.  Band  II :  Verfassungsreden. 
Das  Arbeiterprogramtn  und  die  anschließenden  Verteidigungsreden.  Band  III: 
Die  Agilalion  für  den  Allgcmeiaen  Deutschen  Arbeiterverein.  Das  Ja»r  1863. 
Polemik.  Band  IV:  Das  Jahr  1864.  Aktenstacke.  Band  V:  Lassalles  ökonomisches 
Hauptwerk,  Herr  Bastiat-Sch  Ize  von  Delitzsch  und  die  anschlieUeiiden 
Ko  tr"versen.  Band  VI:  Philosophisch-liternrische  StreifzOse.  Band  VII 
und  VIII:  Systemder  erworbenen  Rechte:  BundIXundX:  Herakleitos.  Band  XI: 
Verteidigungsreden.  Band  Xil:  Briefe  Lassalles.    Sach- und  Personenregister. 

Die  Ausgabe  tritt  an  die  Stelle  der  seinerzeit  im  Auftrage  der  sozialdemokratischen 
Partei  veranstalteten  und  seither  vergriffenen  Gesamtausgabe,  die  von  Eduard 
Bernstein,  wohl  dem  besten  und  gewissenhaftesten  Kenner  Lassalles,  zusammen- 
gestellt, eingeleitet  und  erläutert  ist.  Der  Verlag  hat  auch  in  drucktechnischer 
Hinsicht  alles  aufgeboten,  um  eine  allen  Ansprüchen  genügende  und  der  Be- 
deutung des  großen  Sozialisten  würdige  Gesamtausgabe  ju  schaffen.  Die  ersten 
vier  Bände  erscheinen  schon  im  Herbst,  die  weiteren  Bände  in  rascher  Folge, 
so  daß  die  Ausgabe  im  Frühjahr  1920  vollständig  vorliegen  dürfte. 


Gleichzeitig  erscheint  als  selbständiges  Werk 
in     der    Ausstattung     der     Gesamtausgabe: 

FERDINAND   LASSALLE 

Eine  Würdigung  des  Lehrers  und  Kämpfers  von- 

EDUARD  BERNSTEIN 

10  Mark;   in  Pappband  12  Mark;   in  Halblederband  18  Mark 

Aus  dem  Inhalt:  Deutschland  am  Vorabend  der  Lassalleschen  Bewegung, 
LassalUs  Jugend,  Der  Hatzfeldt-Prozeß,  Die  Assisenrede  und  der  Franz  von 
Sickinyen,  Ftrdinand  Lassatle  und  der  Italienische  Krieg,  Das  System  der  er- 
worbenen Bechle,  Der  preußische  Verfassungskonflikt,  Die  Verfassungsreden  und 
das  Arbeiterprogramm,  Lassallc  und  das  Leipziger  Arbeiterkomitee,  Das  Offene 
Antwortschreiben,  politischer  'Teil.  Der  ökonomische  Inhalt  des  Offenen  Antwort- 
schreibens, Das  eherne  Lohngesetz  und  die  Privatgenossenschaften  mit  Staats- 
kredit, Gründung  und  Fütirung  des  Allgemeinen  Deutschen  Arbeitervereins, 
Lassalle  und  liismarck.  Lassalles   letzte  Schritte   und   Tod,    Schlußbetrachtung. 


PAUL  CASSIRER  /  VERLAG  /  BERLIN  W  10 


UnJversity  of  California 

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APR  3  1  1994 
JAN  2  3  1996